Subjektivität

 

 

Subjektivität als Ausdruck von Lebendigkeit

 

Christian Julmi, Ewald Scherm

 

Zusammenfassung

 

In einer Gesellschaft, in der Wahrheit mit objektiven Fakten gleichgesetzt wird, verliert das subjektive Erleben des Menschen als primärer Zugang zur Wirklichkeit zunehmend an Bedeutung. Subjektives Erleben aber ist Ausdruck spürbarer Lebendigkeit, so dass diese Entwicklung für den Menschen eine existenzielle Bedrohung darstellt. Medium subjektiven Erlebens ist der Leib, der in einer dualistischen Trennung von Körper und Seele keinen Platz findet und entsprechend auch medizinisch nicht fassbar ist.

 

Schlüsselwörter

 

Subjektivität/Objektivität, Spürbare Lebendigkeit, Leib, Neue Phänomenologie, Introjektion, Medizinverständnis

 

Abstract

 

In a society that equates truth with objective facts, the subjective experience of human beings as the primary access to reality becomes increasingly insignificant. However, the subjective experience is inseparably related to felt vitality. As a consequence, this development also leads to an existential threat of the human being and his vitality. Medium of subjective experience is the felt body which has no room in a dualism of body and mind and therefore is medically incomprehensible.

 

Keywords

 

Subjectivity/objectivity, felt vitality, felt body, new phenomenology, introjection, concept of medicine

 

1 Einleitung

 

Die Frage nach dem, was menschliches Leben ausmacht, ist eng verbunden mit der Frage nach dem Menschen selbst, der dieses Leben ausfüllt. Doch was heißt es für einen Menschen, „am Leben“zu sein? Aus einer leibphänomenolo-gischen Perspektive bedeutet es zunächst, seine Lebendigkeit am eigenen Leib zu spüren. Da dies jeder Mensch nur an sich selbst kann, verweist diese spürbare Lebendigkeit auf die Subjektivität des Menschen. Stirbt der Mensch, ver-schwindet auch seine Subjektivität. Zurück bleibt nur (s)ein lebloser Körper, so dass sich eine Nähe des Körpers zum

Tod ergibt. Der Körper ist das, was wir sehen, tasten und objektiv untersuchen können – was ihm fehlt, ist die subjektiv spürbare Lebendigkeit. 1 Der Tod ist nicht spürbar und geht uns (mit Epikur gesprochen) eigentlich nichts an oder nicht mehr an. 2

 

Traditionell bezeichnen wir das, was mit dem Tod den Körper verlässt, als Seele. Da die Seele körper- und der Körper seelenlos ist, entsteht durch diese Vorstellung ein unüberbrückbarer Dualismus von Körper und Seele, der als „Leib-Seele-Problem“ bekannt ist und bis heute sowohl innerhalb als auch zwischen Natur- und Geisteswissenschaft um-stritten ist. Der vorliegende Artikel zeigt, wie durch diese Trennung von objektiver Außenwelt (Körper) und subjektiver Innenwelt (Seele) ein Primat der Objektivität gegenüber der Subjektivität entsteht, das verheerende Auswirkungen auf die Vitalität (als Ausdruck von subjektiv gespürter Lebendigkeit) und das Selbstverständnis des Menschen in unserer Gesellschaft besitzt. Erschwerend kommt hinzu, dass die subjektiv gespürte Lebendigkeit im Weltbild einer naturwissen-schaftlich orientierten Medizin nicht vorkommt. Deshalb wird abschließend eine Öffnung der Medizin für alternative Ansätze, die nicht durch eine dualistische Trennung von Körper und Seele „vorbelastet“ sind, vorgeschlagen.

 

2 Das Primat der Objektivität

 

Die Wissenschaft beruht auf den Prinzipien der Objektivität. Ohne Objektivität ist in der Wissenschaft kein Fortschritt möglich. Durch die Aufstellung formal-objektiver Modelle oder Baupläne eröffnen sich weitreichende Möglichkeiten der Reproduktion und Manipulation, die zu einer Erweiterung des menschlichen Machtbereichs führen. Darüber hinaus schafft die objektive Wissenschaft eine Verständigungsbasis über die Beschaffenheit der Welt, mit der man zwar nicht

zu den wahren, wirklichen Dingen an sich gelangen kann, die wir jedoch als die der Wirklichkeit am nächsten kommende Sicht akzeptieren. 3

 

Subjektive Erfahrungen stellen dagegen für die wissenschaftliche Erkenntnis eine zweitklassige Quelle dar, die gegen-über der objektiven Wirklichkeit deutlich abfällt. Spätestens mit dem Siegeszug der – auf quantitativen Prinzipien be-ruhenden und ohne sprachliche, religiöse, kulturelle oder familiäre Traditionen auskommenden – modernen Natur-wissenschaften, Techniken und Marktwirtschaftssysteme 4 hat sich diese Sichtweise auch in unser gesellschaftliches Selbstverständnis und Zusammenleben eingegraben. Wir glauben an das, was zählbar, nützlich und rational nach-vollziehbar ist. Ein Sachverhalt wird erst dann zur Tatsache erklärt, wenn er wissenschaftlich belegt ist. Indem wir eine Aussage als subjektiv bezeichnen, werten wir sie als einseitig und irrelevant ab. Wir sprechen von objektiven Tatsachen und subjektiven Meinungen.

 

3 Das Problem der Introjektion

 

Diese Abwertung des Subjektiven gegenüber dem Objektiven zeigt sich schon in unserem Verständnis des mensch-lichen Bewusstseins. Der Mensch nimmt die Objekte seiner Außenwelt wahr, indem sein Gehirn Repräsentationen dieser Objekte erzeugt. Das aber impliziert eine Unterscheidung zwischen dem unabhängig von uns existierenden Objekt in der Außenwelt und der subjektiven Repräsentation dieses Objektes in unserem Gehirn als unsere Innenwelt. Die Welt zerfällt in eine Innenwelt und eine Außenwelt. Darüber hinaus werden Gedanken, Gefühle oder Entschlüsse vollständig in die Innenwelt des Menschen eingeschlossen, obwohl man z. B. sagt, dass jemandem Gedanken einfallen,

sich ihm Entschlüsse anbieten und aufdrängen oder man Gefühle mit anderen teilt. 5 Diese Art der Anschauung be-zeichnet der Kieler Philosoph Hermann Schmitz als Introjektion, die er als „Hauptirrtum menschlicher Selbstbesinnung“ ansieht, „der jahrtausendelang geherrscht hat“. 6 Die Introjektion stattet den Menschen mit einer Innenwelt aus, „in der sich Gedanken, Gefühle, Empfindungen usw. als vermeintliche ‚Inhalte des Bewusstseins‘ entweder selbstgenügsam abschließen oder doch auf eine umgebende Außenwelt bloß richten sollen“. 7 Das Problem der Introjektion besteht

für Schmitz nicht darin, dass sie erkenntnistheoretisch falsch wäre, sondern darin, dass sie im existenziellen Sinn für

den Menschen schädlich ist. 8

 

Durch die mit der Introjektion verbundene Trennung von Außen- und Innenwelt wird die Innenwelt dem Subjekt re-serviert, das in einer Sphäre des einsamen Selbstgesprächs regiert. Damit verbleibt das Subjektive in einer Innenwelt und muss sich so mit dem Beigeschmack bloßer Illusion begnügen, während das Objektive der Außenwelt der Wirk-lichkeit und Wahrheit entspricht. 9 Für Schmitz hat der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität jedoch nichts mit einer Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit zu tun. Vielmehr sind die subjektiven Tatsachen bei Schmitz als Tatsachen ebenso real wie objektive. Als Beispiel einer subjektiven Tatsache nennt Schmitz die Feststellung „Ich bin traurig“. Die Feststellung, dass eine andere Person traurig ist („Er ist traurig“), fällt als objektive Tatsache gegenüber

der subjektiven Tatsache in dem Sinne ab, als ihr die Nuance fehlt, dass es sich dabei um mich handelt, dass die Traurigkeit mich betrifft. 10 Was auch immer jemand an mir für Tatsachen ablesen mag, die Feststellung, dass es sich um mich handelt, der traurig ist, kann nicht abgelesen werden. Dennoch kann man sich über die Traurigkeit allgemein verständigen, weil Traurigkeit jeder an sich selber kennt. 11 Die Traurigkeit hat also sowohl einen objektiven wie auch einen subjektiven Charakter, wobei der objektiv festgestellten gegenüber der subjektiv empfundenen Traurigkeit das affektive Betroffensein fehlt. 12 Es ist dieses affektive Betroffensein, wodurch einem Menschen etwas nahe geht und

es zu seiner Sache wird. Erst dadurch kann der Mensch von sich überhaupt in der ersten Person sprechen. Subjektive Tatsachen („Ich habe Schmerzen“) zeichnen sich durch diese Nuance der Meinhaftigkeit aus, die den objektiven Tat-sachen („Er hat Schmerzen“) fehlt. 13 Ohne dieses affektive Betroffensein wäre alles in gleichgültige und neutrale Objektivität abgerückt, die Rede von der ersten Person würde keinen Sinn mehr ergeben. 14

 

4 Wahrheit und Richtigkeit

 

Ein subjektiv gespürter Schmerz kann nicht durch die Aussage verleugnet oder verdrängt werden, er sei nicht vor-handen – auch dann nicht, wenn der Arzt keine objektive (körperliche) Ursache für den Schmerz findet und ihn daher

in der Psyche des Menschen verortet oder gar als Einbildung abwertet. 15 Für den Arzt mag es sinnvoll sein, zwischen körperlichem und psychischem Schmerz zu unterscheiden. Für den Betroffenen ergibt es letztlich aber keinen Unter-schied, ob der Schmerz in der körperlosen Seele oder im seelenlosen Körper verortet ist – für ihn manifestiert sich der Schmerz in beiden Fällen am eigenen Leib, der weder eindeutig Seele noch zweifelsfrei Körper ist. Der Schmerz ist für den Spürenden Wirklichkeit, vor der er sich nicht verstecken kann. Es kann sogar gesagt werden, dass es kaum einen überzeugenderen Beweis für die Existenz von Wirklichkeit gibt als einen starken Schmerz. 16

 

Das subjektive Spüren von Schmerz lässt sich nicht in eine naturwissenschaftliche Objektivität überführen, denn mit einer solchen Objektivierung lässt sich nicht der Wirklichkeitsgehalt des Schmerzes überprüfen, sondern nur eine innerhalb eines axiomatisch vorgegebenen Systems gültige Richtigkeit. 17 Mit der Auffassung von Subjektivität als das, was der Mensch von sich spürt, stellt sich Schmitz beispielsweise gegen Positionen, die Subjektivität als Individualität oder autoreflexive Denkbewegung erschöpfend auffassen. 18 Darüber hinaus zeichnet sich durch diese Auffassung

ein Unterschied zwischen phänomenologischer Wahrheit und (natur-) wissenschaftlicher Richtigkeit ab: Während Wahrheit ein auf subjektiver Überzeugung beruhendes Evidenzerlebnis voraussetzt, lässt sich die durch Axiome bedingte Richtigkeit durch die Anwendung objektiver, formaler Regeln feststellen. Richtigkeit besitzt gegenüber der Wahrheit damit einen theoretischen Charakter, der dem begegnenden Menschen von nirgendwo her imponiert 19, weshalb der Philosoph Thomas Nagel (1992) die objektive Perspektive auch als „Blick von Nirgendwo“ bezeichnet.

 

5 Der Leib als Zugang zur Wirklichkeit

 

Da der Mensch im praktischen Leben aber immer auf (s)eine Perspektive angewiesen ist bzw. sich von dieser nicht lösen kann, reduziert oder irrealisiert das Primat der Objektivität gerade das für ihn existenziell Wichtigste: sein Erleben als primären Zugang zur Realität. 20 Medium dieses Zugangs zur Realität, das den Menschen mit seiner Umgebung ver-bindet, ist nach Schmitz gerade nicht der objektiv messbare Körper, sondern der subjektiv gespürte Leib. Das Leben als das, „was sich regt, was sich bewegt und was strebt, was wächst, altert und vergeht“, erfährt der Mensch am eigenen Leib als Quelle seiner Seinsgewissheit, durch die sich der Mensch seiner Existenz gewiss ist. Im Gegensatz zum Leib ist der Körper an sich (eher) leblos. Er kann mit physikalischen oder physiologischen Methoden erfasst und gemessen werden. Der Leib entzieht sich diesen Versuchen, da er immer mein eigener, subjektiv gespürter Leib bleibt. 21 Die Subjektivität ist das zentrale Merkmal des Leibes, das dem Körper fehlt. 22

 

Durch das Primat der Objektivität wird der Leib zunehmend aus unserem Blickfeld verdrängt. Der Mensch sieht sich stattdessen vermehrt seinem funktionalisierten Körper gegenüber, der sein modellhaftes Weltbild bestimmt. Dieses Weltbild wird über technische Hilfsmittel und Messinstrumente in Bereichen erschlossen, die für das unmittelbare Erleben nicht mehr zugänglich sind. Dazu gehören nicht nur die Welten der Atome und Moleküle – schon das isolierte Training einzelner Muskeln beim Sport beruht auf einem angeeigneten anatomischen Wissen, das nicht im eigen-leiblichen Spüren fundiert ist, sondern diesem erst zugeschrieben werden muss. 23 Das eigene Verständnis der Welt

beruht auf einem Entfremdungsprozess, der zwar Objektivität ermöglicht, als Blick von Nirgendwo den Menschen jedoch unberührt zurücklässt. Auch die Vorstellung des Körpers als Anhäufung von Molekülen, Zellen und elektrischen Potenzialen entzieht sich dem, was der Mensch am eigenen Leib spürt. 24 Die Objektivierungsbewegung führt letztlich zu einer zunehmenden Entfremdung gegenüber der eigenen Subjektivität. 25

 

6 Der Mensch des ironistischen Zeitalters

 

Indem alles Erfahrbare vereinzelt und objektiviert wird, eröffnet sich damit auch prinzipiell für jeden zu allem ein Zugang. Die subjektive Tatsache, dass es sich dabei um mich handelt, der diese oder jene Erfahrung macht, tritt dagegen in den Hintergrund. Dies offenbart sich in unserer Gesellschaft auf mannigfaltige Weise. So kann sich bei-spielsweise der moderne Mensch seinen Körper dank des medizinischen Fortschritts gesellschaftlichen Idealen (besser: Standards) anpassen. In sozialen Netzwerken definiert man sich über die Anzahl (und nicht die Qualität) der Freunde und feilt permanent an seiner Außendarstellung. Partnerbörsen verkuppeln Menschen über – als unfehlbar ange-priesene und wissenschaftlich gestützte – Algorithmen. Wo früher beim Bäcker um die Ecke Qualität und Vertrautheit

im Vordergrund standen, zieht es den Menschen von heute zu den überregionalen Discount-, Bio- und Edelbäckereien. Was heute als individuell angepriesen wird, geht über Stereotype meist nicht hinaus. Der Mensch wählt sich aus den standardisierten Angeboten das Etikett, das seinen momentanen Bedürfnissen am nächsten kommt.

 

Für Schmitz lebt der moderne Mensch in einem sogenannten ironistischen Zeitalter, in dem er jederzeit darauf einge-stellt ist, sich aus allem zurückziehen zu können. 26 Und weil sich der Mensch von allem abwenden kann, kann er sich auch allem zuwenden – jedoch zu dem Preis, in der Beliebigkeit zu versinken, durch die alle objektiven Tatsachen in bloße Möglichkeiten verkehrt werden. 27 Der Mensch des ironistischen Zeitalters zeichnet sich durch seine Passivität und Coolness aus. Ihm fehlt die Identität, die ihn bei seinen Handlungen leitet. Stattdessen steht er vor einem Angebot unzähliger Möglichkeiten, die ihn vereinnahmen, sofern er sich auf sie einlässt. Der Mensch ist in ein Netz unzähliger Angebote verstrickt, die ihm die Souveränität der Wahlfreiheit suggerieren. 28

 

Der deutsche Soziologe Peter Gross hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Multioptionsgesellschaft geprägt. Die Vielzahl vorhandener Möglichkeiten führt nicht nur zu einer zunehmenden Abhängigkeit des Individuums von den Entscheidungen anderer, sondern auch zu einem zunehmenden Entscheidungsdruck. 29 Durch die Fülle an Möglich-keiten wird die Entscheidungsfindung erschwert – denn jede Entscheidung könnte sich im Nachhinein als falsch oder zumindest suboptimal herausstellen, so dass der Entscheidungsdruck zu einem ernsten und mitunter unlösbaren Problem für den selbstoptimierenden Menschen wird. Jede Entscheidung für eine Möglichkeit ist zugleich der Tod

aller anderen Möglichkeiten, weshalb der Mensch durch die Zunahme der Entscheidungsautonomie auch eine Zu-nahme an „ungelebtem Leben“ zu verantworten hat. 30

 

Durch dieses „Paradox der Wahl“ entsteht umso mehr die Überzeugung, nicht die richtige Wahl getroffen zu haben,

je mehr Alternativen zur Verfügung stehen. 31 Zudem bieten sich dem Menschen durch die Mobilität und Anonymität der modernen Gesellschaft zahlreiche Gelegenheiten, unerkannt Regeln und Normen zu brechen und sich sozialen Sanktionen zu entziehen. 32 Während der Entscheidungsdruck steigt, sinkt gleichzeitig der Rechtfertigungsdruck, wodurch es dem Menschen gleichermaßen erschwert wird, eine integere und stabile Identität zu entwickeln. 33

Statt aus einer stabilen Identität heraus zu agieren, versteht es der Mensch des ironistischen Zeitalters, sich Rollen zuzuwenden und diese auszufüllen. Solange sich aber das Dasein des Menschen in einem schauspielerischen Schein seiner Rollen erschöpft, ist es von einer Beliebigkeit, die den Menschen eines seiner wichtigsten Lebensziele beraubt:

ein Leben als eine authentische und stimmige Identität zu führen. Erst durch eine Identität ist der Mensch nicht mehr Maske oder Rolle, sondern im eigentlichen Sinn eine (mit einer personalen Identität ausgestattete) Person. 34

 

Erschwerend kommt der Umstand hinzu, dass sich der Mensch in einer Welt bewegt, die sich durch ein hohes Maß an Schnelllebigkeit und Unübersichtlichkeit auszeichnet. Dadurch fällt es dem Menschen immer schwerer, mit dem Tempo der Veränderungen Schritt zu halten. Der Mensch rennt der Welt permanent hinterher in der Angst, er könne etwas verpassen. Die Folge sind Stress, permanente Müdigkeit und Burnout. Diese bekämpft der Mensch dann entweder medikamentös, durch psychologische Betreuung oder durch Inanspruchnahme eines der zahlreichen Entschleuni-gungsangebote wie Wellness-Wochenenden oder zweiwöchige Klosteraufenthalte. Doch selbst die Entschleunigung

auf Zeit dient letztlich nur dem Ziel, in Bewegung zu bleiben und der Hektik des Alltags gewachsen zu sein. 35 Geißler vergleicht die Wahl zwischen Beschleunigung und Entschleunigung mit „dem Zwang, sich bei seinen Verdauungs-abläufen zwischen Verstopfung und Durchfall entscheiden zu müssen“. 36

 

7 Fazit

 

Die Problematik der dualistischen Trennung von Seele und Körper besitzt weitreichende Konsequenzen für die Medizin. Denn gerade Stress und Müdigkeit sind weder eindeutig der Seele noch dem Körper zuzuweisen. Ihre Ursachen sind weder rein psychosomatisch noch somatopsychisch. Vielmehr sind Stress und Müdigkeit leibliche Phänomene, die gleichsam zwischen Körper und Seele zu verorten sind. Damit fallen sie aber genau in die Erklärungslücke eines (natur-) wissenschaftlichen Medizinverständnisses, das nur entweder Körper oder Seele kennt und Krankheiten entsprechend entweder durch Mediziner („körperlicher Stress“) oder durch Psychologen („seelischer Stress“) behandeln lässt. Daran ändert auch die „Zwischenstellung“ des Psychiaters nichts. Das „Leib-Seele-Problem“ ist durch die naturwissenschaftlich orientierte Medizin nicht zu lösen, da die dualistische Trennung von Körper und Seele zu ihren Leitvorstellungen gehört und das Problem somit systemimmanent ist.

 

Anstatt alternative medizinische Ansätze als vorwissenschaftlich zu bezeichnen, deren Minderwertigkeit sich daran zeigt, dass sie noch nicht in Körper und Seele unterschieden hätten 37 , sollte versucht werden, leiblich orientierte Sichtweisen in das naturwissenschaftlich-medizinische Weltverständnis zu integrieren und dieses dadurch zu erweitern. Während

z. B. die naturwissenschaftliche Anatomie das Herz als reinen Pumpmuskel versteht, verweisen etwa indische Vorstel-lungen des Herzens als Kraftzentrum (Chakra) oder der Funktionskreis der chinesischen Medizin auf medizinische

An-sätze, die das Leibliche sehr gut im Blick haben. 38

 

Psychosomatische oder somatopsychische Störungen können zwar durchaus mit einer naturwissenschaftlichen Medizin behandelt werden. Deren Ursachen sind in vielen Fällen jedoch in einer Störung des leiblichen Fließgleichgewichts zu suchen. Für dieses fehlt der naturwissenschaftlichen Medizin jedoch ein Verständnis, da es weder dem Körper noch der Seele zugeordnet werden kann, sondern sich gleichsam zwischen beiden im Leib befindet. 39 Anstatt also alternative medizinische Ansätze als wissenschaftlich unhaltbare, esoterische Spielerei abzutun, sollte hier ein Umdenken statt-finden und ein Dialog für die Integration alternativer Ansätze eröffnet werden. 40 Nur so kann die subjektive Wirklichkeit adäquat in den Blick genommen werden, die für den Menschen (und seine Gesundheit) so wichtig ist. Denn Subjektivität ist spürbare Lebendigkeit – und auf die kann der Mensch weit weniger verzichten als auf objektive Richtigkeit.

 

Literaturverzeichnis

 

Bastian, Till (2011): Neurose und Moderne: Die neuen Leiden der Seele, in: UNIVERSITAS. Orientieren! Wissen! Handeln!, Jg. 66, Nr. 4, S. 22–35.

 

Baurmann, Michael (2011): Angebot und Nachfrage. Wieviel sind Moral und Tugend in der modernen Gesellschaft „wert“? In: Forschung & Lehre, Jg. 18, Nr. 6, S. 434–436.

 

Furukawa, Hiroaki (2011): Ästhetik der Praxis in der Phänomenologie von Hermann Schmitz: Betrachtungen über Landschaft und Gefühle, in: Aesthetics 15, S. 1–16.

 

Geißler, Karlheinz (2012): Enthetzt Euch! In: UNIVERSITAS. Orientieren! Wissen! Handeln!, Jg. 67, Nr. 1, S. 4–29.

 

Gross, Peter (1995): Die Multioptionsgesellschaft, 3. Aufl., Frankfurt.

 

Kitz, Volker; Tusch, Manuel (2011): Systematisch zum Selbst. Zwänge erkennen, in: managerSeminare, Nr. 4, S. 52–58.

 

Marquard, Odo (2003): Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit, in: Marquard, Odo (Hrsg.): Zukunft braucht Herkunft: Philosophische Essays, Stuttgart, S. 234–246.

 

Nagel, Thomas (1992): Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt.

 

Rappe, Guido (2005): Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 1. Teil: Der Leib als Fundament von Ethik, Berlin, Bochum, London, Paris.

 

Rappe, Guido (2006): Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 2. Teil: Personale Ethik, Berlin, Bochum, London, Paris.

 

Rappe, Guido (2010): Interkulturelle Ethik, Bd. IV: Ethik als Lebenskunst. Die Praxis antiker ethischer Techniken, Berlin, Bochum, London, Paris.

 

Rappe, Guido (2012): Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild, Bochum.

 

Schmitz, Hermann (1969): System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn.

 

Schmitz, Hermann (1974): Das leibliche Befinden und die Gefühle, in: Zeitschrift für philosophische Forschung,

Jg. 28, Nr. 3, S. 325–338.

 

Schmitz, Hermann (1978): System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn.

 

Schmitz, Hermann (1980): System der Philosophie, Bd. IV: Die Person, Bonn.

 

Schmitz, Hermann (2009): Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, München.

 

Endnotes

 

1 Vgl. Rappe (2012), S. 18.

2 Vgl. Rappe (2012), S. 105.

3 Vgl. Rappe (2012), S. 19f.

4 Vgl. Marquard (2003), S. 235.

5 Vgl. Schmitz (1969), S. 5ff.

6 Schmitz (1978), S. 189.

7 Schmitz (1969), S. 3.

8 Vgl. Furukawa (2011), S. 6.

9 Vgl. Schmitz (1969), S. 59.

10 Vgl. Schmitz (1980), S. 12f.

11 Vgl. Schmitz (1969), S. 61.

12 Vgl. Rappe (2012), S. 57.

13 Vgl. Schmitz (2009), S. 31.

14 Vgl. Schmitz (1974), S. 325f.

15 Vgl. Rappe (2005), S. 31f.

16 Vgl. Rappe (2012), S. 61f.

17 Vgl. Rappe (2005), S. 447.

18 Vgl. Rappe (2006), S. 53.

19 Vgl. Rappe (2005), S. 31f.

20 Vgl. Rappe (2005), S. 449.

21 Vgl. Rappe (2005), S. 12ff.

22 Vgl. Rappe (2012), S. 17.

23 Vgl. Rappe (2012), S. 119.

24 Vgl. Rappe (2005), S. 812f.

25 Vgl. Rappe (2012), S. 246.

26 Vgl. Schmitz (2009), S. 26f.

27 Vgl. Schmitz (1969), S. 36f.

28 Vgl. Schmitz (2009), S. 27.

29 Vgl. Gross (1995).

30 Vgl. Bastian (2011), S. 28f.

31 Vgl. Kitz/Tusch (2011), S. 53.

32 Vgl. Baurmann (2011), S. 435.

33 Vgl. Bastian (2011), S. 29.

34 Vgl. Rappe (2010), S. 676.

35 Vgl. Geißler (2012), S. 13f.

36 Geißler (2012), S. 22.

37 Vgl. Rappe (2012), S. 124.

38 Vgl. Rappe (2012), S. 138.

39 Vgl. Rappe (2012), S. 267.

40 Vgl. Rappe (2012), S. 123.

 

Zu den Autoren

 

Dipl.-Wi.-Ing. Christian Julmi, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation und Planung, an der FernUniversität in Hagen. Kontakt: christian.julmi@fernuni-hagen.de

 

Univ.-Prof. Dr. Ewald Scherm, Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation und Planung, an der FernUniversität in Hagen. Kontakt: lehrstuhl.scherm@fernuni-hagen.de

 

http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_6_1-2012/07_1-2012_Julmi_Scherm.pdf

 


 

Genealogisch betrachtet ist das leibliche Spüren der Kinder von leiblichen Empfindungen von Wärme und Kälte, Hunger und Durst, Lust oder Unlust, Freude oder Traurigkeit, Wohlbefinden oder Unwohlsein (Angst, Druck, Schmerz,  etc.) basal und primär. Aber es gibt sie nicht ohne die weitgehend anatomisch und physiologisch gesunden Körper der Kinder, denn sie sind natürliche körperliche Signale für seine angeborenen vitalen Bedürfnisse.

 

Die angeborene Fähigkeit, diese Empfindungen unmittelbar und vorsprachlich zum Ausdruck zu bringen und seine Mutter oder Amme über seine vitalen Bedürfnisse zu informieren, kommt zeitlich vor und ist die leibliche Voraussetzung für das Erlernen der kognitiven Unterscheidung und sprachlichen Bezeichnung dieser basalen und primären leiblichen Empfindungen mit der von den Eltern angebotenen konventionellen Sprache. Daher sind sowohl subjektive Beschrei-bungen der eigenen Befindlichkeit in der ersten Person als auch objektive Beschreibungen der eigenen Befindlichkeit in der dritten  Person etwas, das zu erst gelernt werden muss.

 

Objektive Beschreibungen der eigenen Befindlichkeit in der dritten Person (z.B. Max/Lisa hat Aua.) sind genealogisch primär bzw. zeitlich früher als subjektive Beschreibungen der eigenen Befindlichkeit in der ersten Person (z.B. Mir tut das weh! bzw. Ich habe Schmerzen.) Das bedeutet, dass Subjektivität im Sinne der Kommunikation über die eigenen Befind-lichkeiten weder epistemologisch noch ontologisch fundamental sein kann.

 

Der grundsätzliche Fehler der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie bzw. der nach-cartesischen Philosophie der Subjektivität entweder des transzendentalen Ichs (Kant) oder des absoluten Ichs (Fichte) bestand daher in einer vor-eiligen Verabsolutierung der sprachlichen Äußerungen oder Urteile in der ersten Person. Denn die Fähigkeit zu diesen sprachlichen Äußerungen bzw. Urteilen ist erlernt und setzt einen relativ gesunden menschlichen Körper voraus, der über bestimmte neurophysiologische Bedingungen und psychologische Lernfähigkeiten verfügt.

 

Dass diese neurophysiologischen Bedingungen und psychologischen Lernfähigkeitengegeben sein müssen, kann man empirisch beobachten und objektiv feststellen, sodass die Unterscheidung des Subjektiven vom Objektiven ähnlich wie die Unterscheidung von Schein und Sein, von Phänomenen und Dingen an sich, Tatsachen oder Situationen zwar ebenfalls erlernt und geübt werden müssen, aber dann für die Erforschung der psychologischen Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit Vorrang haben. Das gilt nicht erst für erwachseneWissenschaftler, sondern auch schon für Kinder, die ab einem bestimmten Alter ihre Lebenswelt eigenständig erkunden und erforschen, um herauszufinden wie sie beschaffen ist und um sich nicht mehr täuschen zu lassen.

 

Subjektivität erscheint aus dieser späteren und reiferen kognitiven Position als ein genealogisch notwendiges, aber kognitiv überschreitbares Durchgangsstadium auf dem methodischen Weg zur Erforschung der Wirklichkeit und der Erkenntnis der Wahrheit. Die gesunde und normale Entwicklung der Persönlichkeit führt (nicht nur nach der Freud-schen Psychoanalyse  und Adlerschen Individualpsychologie, sondern auch nach der Entwicklungspsychologie im Anschluss an Piaget, Kohlberg und Erikson) von der früheren, kindlichen und jugendlichen Subjektivität zur späteren, erwachsenen und reifen Objektivität. Wo diese Entwicklung stagniert oder gar ausbleibt ist mit psychopathologischen Ursachen und Gründen zu rechnen.

 

Wissenschaft bedeutet objektive Erkenntnis der Wirklichkeit und eine wissenschaftliche Philosophie ist eben nicht nur einsubjektiver Ausdruck der eigenen Befindlichkeiten oder ein schöpferischer Ausdruck der eigenen Vorurteile und persönlichen Weltanschauung in ihrer Subjektivität, Relativität und Zufälligkeit.