Willensfreiheit, Verantwortung und Zurechnung

 

 

Die Abhängigkeit des Bewusstseins von Hirnprozessen

 

Telepolis - 28. August 2007 - Dieter Birnbacher

 

Wie neu ist das neue Menschenbild der Neurowissenschaften?

 

Wiederholt ist bemerkt worden, dass die Erfolge der Neurowissenschaften gegenwärtig in aller Munde sind, während die wissenschaftliche Psychologie, die seit nunmehr hundert Jahren die menschliche Psyche mit großem Erfolg er-forscht, deutlich an Interesse verliert. So unbestreitbar die Erfolge der Neurowissenschaften, so befremdlich ist die ihnen gewidmete mediale Aufmerksamkeit. Denn zu einem erheblichen Teil liefern die Neurowissenschaften lediglich die "Hintergrundmusik" zu seit langem bekannten Erkenntnissen der Psychologie. Sie erklären psychische Phänomene durch deren neurophysiologische Bedingungen und decken die im Gehirn ablaufenden Prozesse auf, die den im Verhalten und in der Binnenwahrnehmung des Subjekts manifestierten Phänomenen zugrunde liegen.

 

Unter klinischen Gesichtspunkten eröffnen die Neurowissenschaften damit eine große Zahl neuer Ansatzpunkte für die Diagnose und Therapie von Krankheiten und Störungen, psychischen wie somatischen. Aber das lässt offen, wie der durch sie ermöglichte Zuwachs an theoretischer Erkenntnis und ihre Konsequenzen für das Bild vom Menschen ins-gesamt einzuschätzen sind. Bestätigen sie nicht lediglich das Alte und längst Gewusste – was auch sonst? möchte man fragen –, allenfalls mit erhöhter Tiefenschärfe? Wie "neu" ist das Menschenbild der Neurowissenschaften eigentlich? Liegt die öffentliche Erregung, die von den Neurowissenschaften ausgeht, daran, dass sie uns den Menschen und die Hintergründe seines Handelns und Fühlens in einer Weise durchsichtig machen, wie es die Lehre von den Tempera-menten, von den Konstitutionstypen, vom Unbewussten und von den Persönlichkeitsfaktoren nie vermocht haben? Oder liegt es an der Anschaulichkeit der bunten Bilder, die uns die neuen bildgebenden Verfahren liefern, dass das Gehirn plötzlich so viel publicity findet – im Unterschied zu den Zahlenreihen und Kurvendiagrammen der Psycho-logen?

 

Diese Frage stellt sich nicht zuletzt auch deshalb, weil die Beunruhigungen, die die Neurowissenschaften auslösen, sich aus einer historischen Vogelperspektive betrachtet mehr oder weniger als Neuauflagen von Irritationen darstellen, die in ähnlicher Weise zuerst im 18. Jahrhundert und dann erneut im 19. und 20. Jahrhundert die Gemüter erregten. Das Abendland, so scheint es, hat jedes Jahrhundert erneut eine Überlebenskrise zu überstehen. Dazu gehört die Beun-ruhigung darüber, dass der freie Wille möglicherweise eine Illusion ist (wenn auch vielleicht eine notwendige Illusion) und dass das menschliche Bewusstseinsleben möglicherweise in seiner Totalität von Gehirnprozessen abhängt, so dass selbst unsere tiefsten Gefühle nichts anderes sind als Spiegelungen elektrischer Entladungen in neuronalen Netzwerken. Eine echte und höchstpersönliche, von den Prozessen in unserem Gehirn abgelöste geistige Kreativität wäre damit ebenso realitätsfremd wie die Vorstellung einer Seele, die den Tod unseres Körpers überleben könnte, mitsamt aller mit dieser Vorstellung verknüpften metaphysischen Hoffnungen.

 

Beide Irritationen sind alles andere als neu. Das Menschenbild der Psychologie, auch der gegensätzlichsten Schulen der Psychologie (man denken an Sigmund Freud und B. F. Skinner) war seit den Anfängen in Wilhelm Wundts Leipziger Labor deterministisch und ließ einem ursachlosen, aus dem kausalen Nichts kommenden freien Wille keine größere Chance als die gegenwärtig arbeitenden und schreibenden Neurowissenschaftler, die für ihre Leugnung der Willens-freiheit an den geisteswissenschaftlichen Pranger gestellt werden. Und der Ausdruck "Epiphänomenalismus" zur Bezeichnung der Auffassung, dass das Bewusstseinsleben kausal in seiner Gänze durch das Gehirn bedingt ist, seiner-seits aber kausal ohnmächtig ist, wurde von Thomas H. Huxley, dem Großvater des Romanautors Aldous Huxley, bereits im 19. Jahrhundert geprägt.

 

Dass beide Auffassungen niemals besonders populär geworden sind, zeigt allen diesen Autoren zufolge nicht, dass an den populären Selbstbildern aller wissenschaftlichen Evidenz zum Trotz ein Quäntchen Wahrheit ist. Es zeigt nur, dass diese Bilder im Alltagsleben eine besonders unverzichtbare Funktion übernehmen, indem sie uns z. B. unsere tatsächlich bestehende und unbestreitbare Fähigkeit verständlich machen, zumindest gelegentlich zwischen mehreren gleich-wertigen Alternativen "frei" wählen zu können, oder indem sie mit dem Gefühl, zu stoßen und nicht nur gestoßen zu werden, Tatkraft und Selbstvertrauen einen für die Lebenspraxis möglicherweise unverzichtbaren Rückhalt geben.

 

In der Tat scheint mir das Neue an den Ergebnissen der modernen Neurowissenschaften ganz überwiegend darin zu bestehen, dass sie das alte, von sogenannten "Materialisten" vertretene, aber niemals besonders populäre Menschen-bild durch eindrucksvolle Befunde, Erklärungsansätze und Theorien weiter bestätigt haben. Dass das Bewusstseinsleben und das Verhalten des Menschen bis auf wenige Ausnahmen von Prozessen im Gehirn gesteuert werden, postulierten bereits naturwissenschaftlich orientierte Philosophen wie Lamettrie im 18. und Schopenhauer im 19. Jahrhundert. Was damals noch weitgehend ungesicherte Spekulation war, haben die modernen Neurowissenschaften durch kumulieren-de Befunde zunehmend abgesichert.

 

Bis heute hat sich kein Bewusstseinsphänomen und kein Verhaltenselement finden lassen, für das sich nicht zumindest kausal notwendige Bedingungen im Bereich neuronaler Prozesse aufweisen lassen. Und zumindest für eine ganze Reihe von Phänomenen haben sich kausal hinreichende Bedingungen aufweisen lassen, mag man auch von einer vollständi-gen Kenntnis dieser Bedingungen weiterhin meilenweit entfernt sein. Die sich abzeichnende Tendenz ist jedenfalls die von Huxley unter dem Eindruck der bahnbrechenden Fortschritte der Neurophysiologie gegen Ende des 19. Jahr-hunderts diagnostizierte: Das phänomenale und das intentionale Bewusstsein scheinen ihrer Existenz wie ihrer Qualität nach kausal abhängig von Gehirnprozessen. Eine "mentale Verursachung" von Gehirnprozessen durch Bewusstseins-akte (insbesondere Willensakte) ist aus übergeordneten wissenschaftlichen (Energieerhaltungssatz) und wissenschafts-methodologischen (Erklärungsökonomie) Prinzipien problematisch und darüber hinaus schwer nachweisbar. Mehr als eine Trendaussage im Sinne einer "Linienverlängerung" ist dies allerdings nicht. Morgen oder übermorgen könnten Befunde auftauchen, die sich einer hirnphysiologischen kausalen Erklärung hartnäckig widersetzen. Aber auf dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen ist die Wahrscheinlichkeit dafür gering.

 

Eindrucksvoll bestätigt haben die modernen Neurowissenschaften auch zwei weitere Lehrstücke des alten "neuen" Menschenbilds: die Bedeutung des Unbewussten und die Abwesenheit eines lokalisierbaren "Konvergenzzentrums" von neuronalen und Bewusstseinsereignissen. Was die Vordenker der Psychoanalyse wie Spinoza und Schopenhauer postulierten: dass unser Denken, Fühlen und Verhalten weitgehend von unbewussten Prozessen gesteuert wird, ist aufgrund der Fortschritte in den Neurowissenschaften mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden. Wir wissen heute, dass selbst von dem, was wir mithilfe unserer Sinnesorgane an Informationen aufnehmen, nur ein kleiner Bruchteil das bewusste Erleben erreicht. Und derselbe Spinoza kritisierte bereits Descartes' seltsame Vorstellung, dass die von den Sinnesorganen kommenden Nerven ihre Informationen in einem einzigen lokalisierbaren Organ (nach Descartes in die Epiphyse) abliefern, damit sie dort in Wahrnehmungen transformiert werden. Tatsächlich lässt sich eine solche "Sammelstelle" nicht finden.

 

Die Fähigkeit, neuronale Erregungen in Bewusstseinsphänomene umzusetzen, kann offenbar nicht einem einzigen lokalisierbarem "Zentrum" zugeschrieben werden. Das Bewusstsein scheint eher so etwas wie ein "Schwingungs-phänomen" zu sein, vergleichbar Tönen, die sich aus der Gleichschwingung von Klangkörpern ergeben – eine Option, die sich bereits in Platons Dialog Phaidon, wenn auch nur als Kontrast zur eigenen Auffassung, erwähnt findet.

 

Freiheit des Willens und das Strafrecht

 

Zu verzeichnen sind allerdings nicht nur Fortschritte, sondern auch Rückschritte. Dies vor allem in der Frage der Willensfreiheit, in der viele Neurowissenschaftler, getragen von ihren eigenen (unangefochtenen) Erkenntnissen, allzu forsch die Grenze zur Philosophie überschreiten und dann ihr Konto kräftig überziehen.

 

Ich denke hierbei vor allem an die Undifferenziertheit, mit der in dieser Debatte von Freiheit gesprochen worden ist, so als handelte es sich bei diesem Begriff nicht um einen der mehrdeutigsten und insofern gefährlichsten Begriffe des philosophischen Repertoires. Willensfreiheit im Sinne einer prinzipiellen Unmöglichkeit lückenloser kausaler Erklär-barkeit menschlichen Verhaltens ist nur einer von vielen verschiedenen Begriffen eines "freien" Willens und nicht einmal der für die Praxis relevanteste. Die philosophische Debatte dreht sich seit längerem weniger um die (definitiv kaum entscheidbare) Frage, ob das menschliche Wollen und Handeln lückenlos kausal erklärt werden kann (die traditionelle Frage nach Determinismus und Indeterminismus), als vielmehr darum, wie weit ein hypothetischer Determinismus die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und die daran geknüpften sozialen Folgen ausschließt.

 

Im Gegensatz dazu meinen viele Neurowissenschaftler, diese Differenz ignorieren zu können, indem sie von der Annahme eines (durch die neurowissenschaftlichen Befunde nahegelegten) Determinismus pauschal auf die Unver-tretbarkeit von Verantwortlichkeitszuschreibungen schließen. Wenn aber die jahrhundertelange philosophische Debatte etwas gezeigt hat, dann dies, dass ein solcher Schluss problematisch ist: Verantwortlichkeitszuschreibungen werden durch die Annahme eines durchgängigen Determinismus im Bereich des menschlichen Wollens und Handelns nicht generell unmöglich gemacht, sondern können auch kontrafaktisch begründet werden. Freiheit im Sinne von Verantwortlichkeit kann auch aufgrund hypothetischer Überlegungen zugeschrieben werden, etwa dann, wenn hypothetische Willensanstrengungen ein bestimmtes Verhalten hätten verhindern können. Eine solche Überlegung kann auch dann wahr sein, wenn der jeweilige Akteur diese Willensanstrengung faktisch nicht erbracht hat und – unter der Annahme des Determinismus – notwendigerweise nicht erbracht hat. Auch wenn der Akteur unter den gegebenen Bedingungen nicht anders handeln konnte, als er gehandelt hat, halten wir uns in vielen Fällen zu der Annahme berechtigt, dass er unter alternativen Bedingungen (z. B. unter der, dass er seinen Willen stärker angestrengt hätte) anders gehandelt hätte.

 

Aus der faktischen Alternativlosigkeit des Handelns folgt nicht in allen Fällen die hypothetische Alternativlosigkeit. Nur die erste folgt jedoch aus dem Determinismus. Unhaltbar ist eine Zuschreibung von Verantwortlichkeit aber nur dann, wenn auch die zweite Bedingung nicht erfüllt ist, z. B. wenn auch intensivste Willensanstrengungen gegen die Über-macht der Affekte nichts ausgerichtet hätten oder wenn ein Akteur die erforderlichen Willensanstrengungen unter-lassen hat, weil er konstitutionell unfähig war, die Notwendigkeit einer Willensanstrengung zu erkennen.

 

Indem Neurowissenschaftler aus ihren deterministischen Überzeugungen kurzschlüssig eine generelle These der Un-zulässigkeit von Verantwortlichkeitszuschreibungen ableiten, vergeben sie ein innovatives und sozialethisch hochgradig bedeutsames Potenzial ihrer Wissenschaft: die Identifikation derjenigen spezifischen physiologischen Störungen der Einsichtsfähigkeit und des Willens, die dem Akteur ein zu seinem faktischen Handeln alternatives Handeln nicht nur aufgrund kontingenter und (u. a. auch durch Strafandrohungen) änderbarer, sondern aufgrund konstitutioneller und durch Sanktionen unbeeinflussbarer Faktoren unmöglich machen. Die Diagnose solcher Störungen muss in der Tat dazu führen, dass auf Verantwortlichkeitszuschreibungen verzichtet wird.

 

Eine Berücksichtigung konstitutioneller Grenzen der Steuerbarkeit des eigenen Verhaltens ist für das Strafrecht allerdings nichts grundlegend Neues. Eine angemessene Einbeziehung der sich abzeichnenden neurowissen-schaftlichen Befunde etwa zum Syndrom der Soziopathie liefe lediglich auf eine umsichtige Erweiterung der Bevorzugung von Präventionsgesichtspunkten gegenüber vergeltungsstrafrechtlichen Gesichtspunkten hinaus. Die neurowissenschaftlichen Befunde würden das System des Strafrechts an einer bestimmten Stelle korrigieren, aber nicht, wie von Rechtswissenschaftlern gelegentlich befürchtet, grundlegend revolutionieren.

 



 

Sind unsere Rechtsnormen tatsächlich mit den neuen wissenschaft-lichen Funden unvereinbar?

 

Telepolis - 28. August 2007 - Stephan Schleim

 

Klaus Günther über die naturalistische Herausforderung des Schuldstrafrechts

 

Glaubt man der Meinung mancher Hirnforscher, so ist es um die Freiheit des Menschen schlecht bestellt. Auch wenn wir uns ständig als frei handelnde erlebten, auch wenn wir das überzeugende Gefühl hätten, die Urheber unserer Gedanken und Taten zu sein, so müssten wir dies alles als eine geschickte Täuschung unseres Gehirns auffassen. Ein perfektes Theater, gespielt auf der neuronalen Bühne in uns selbst, den dynamischen Gesetzen der ziellosen Selbstorganisation folgend, noch unhintergehbarer als die Matrix.

 

Das häufig vorgebrachte Argument ist dabei einfach und kurzsichtig zugleich: Die Wissenschaft zeige, die Welt sei determiniert. Somit müsse auch das Gehirn determiniert sein. Da nun weiterhin der Geist vollständig vom Gehirn abhänge, müsse folglich auch der Geist determiniert sein. Schließlich sei es unvorstellbar, dass ein determinierter Geist frei sein könne, also müssten wir alle unfrei sein. Einfach ist das Argument, da es auf den ersten Blick einleuchtend erscheint. Kurzsichtig ist es, weil es mögliche Verständnisse eines freien Willens unabhängig davon, ob die Welt nun deterministisch ist oder nicht, so genannte kompatibilistische Positionen, außen vor lässt. Auch wenn man das Determinismus-Argument in jedem seiner Zwischenschritte aushebeln könnte, findet es doch immer wieder Anhänger. Regelmäßig wird ihm von manchen eine hohe Überzeugungskraft beigemessen. Dabei ist es noch nicht einmal neu, sondern kehrt vielmehr periodisch wieder, seitdem die Menschen die Natur erforschen.

 

Wolf Singer, einer der Direktoren das Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und einer der prominentesten Vertreter eines „harten“ Determinismus in jüngerer Zeit, forderte nicht nur die Abschaffung des Schuldbegriffs, sondern entwickelte eine Position, die nur noch scheinbar von Verantwortung spricht, vielmehr aber Gefährlichkeit meint. Das heißt, im Strafrecht solle man nicht mehr von Schuld und Strafe sprechen, sondern von Gefährlichkeit und Prävention. Das würde bedeuten, Verbrecher würden heutzutage aus den falschen Gründen inhaftiert. Nicht deshalb, weil sie schuldig seien, sondern allein um die Gesellschaft zu schützen, müsse man sie wegsperren – so stellen es sich manche „harte“ Deterministen jedenfalls vor, wenn sie eine Revolution unseres Rechtssystems fordern.

 

Wenn es um so eine folgenreiche Änderung geht, dann lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Am besten vom Standpunkt eines Strafrechtlers aus, der die neurowissenschaftlichen Funde und ihre philosophischen Implikationen kritisch beäugt. Mit Klaus Günther von der Universität Frankfurt, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, haben wir einen solchen Experten auf die Tagung „Von der Neuroethik zum Neurorecht?“ geladen und wollten mehr darüber wissen, wie das Schuldstrafrecht auf die naturalistische Herausforderung vorbereitet ist.

Freiheit oder gar kein Recht?

 

Günther macht zunächst deutlich, dass diese Schlussfolgerung des „harten“ Deterministen nicht auf das Strafrecht beschränkt bleiben dürfe: Das Recht insgesamt setze nämlich voraus, dass die Menschen durch ihre eigenen Abwägungen und Entscheidungen geleitet das Recht befolgen könnten – oder eben auch nicht, wenn sie sich zu verbotenen Taten entschließen. Außerdem ergebe sich auf höherer Ebene für die Jurisprudenz ein Problem, da folglich die Urteile der Richter nicht deren freien Willen entspringen könnten, sondern allein durch kausal determinierte neuronale Prozesse entstünden. Anders, als es das Recht vorsehe, dürften dann auch die Richter nicht für ihre Urteile zur Verantwortung gezogen werden.

 

Beschäftigt man sich mit Günthers eigenem Fachgebiet, so fällt zunächst auf, dass auch innerhalb der Strafrechtswissenschaft der Schuldbegriff nicht unumstritten ist. Erstaunlich ist vor allem, dass es nach deutschem Recht – ebenso wie in den meisten anderen Ländern – keine positive Definition dessen gibt, was Schuld eigentlich bedeutet. Versuche einer Definition seien letztlich alle nicht von Erfolg gekrönt worden. So sei es auch einem Urteil des Bundesgerichtshofs den 1950er Jahren ergangen. Die Richter hätten als eine Voraussetzung für den Schuldvorwurf angesehen, dass „der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden“ (BGHSt 2, 200). Diesem höchstrichterlichen Urteil zum Trotz habe sich keine positive Bestimmung für den Schuldbegriff durchgesetzt. Die Strafrichter seien nicht dazu übergegangen, in jedem Einzelfalle die genannten Voraussetzungen für den Schuldvorwurf anzunehmen und zu prüfen.

 

Anstelle einer positiven Bestimmung würden lediglich die gesetzlichen Möglichkeiten eines Schuldausschlusses angewendet, die an besondere Umstände gebunden seien. Hier seien vor allem fehlende Reife (Alter unter 14 Jahren) oder die krankheitsbedingte Unfähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zu erwähnen. Andere Beispiele seien der entschuldigende Notstand und der Notwehrexzess. Richter in Deutschland müssten dann im Einzelfall prüfen, ob solche die Schuld ausschließenden Umstände vorgelegen hätten. Diese gesetzlichen Bedingungen wiederum seien aber im Strafrecht nicht haarscharf formuliert, sondern allgemein gehalten. Das lässt den Richtern Entscheidungsspielraum und es kann passieren, dass die Meinungen dazu auseinandergehen, ob ein Täter für seine Tat schuldfähig ist oder nicht. Tatsächlich sei dieser Spielraum, so Günther, auch historischen und kulturellen Schwankungen unterlegen. Das heißt, was man heute als einen Grund für eine Schuldunfähigkeit zulässt, kann morgen schon ganz anders bewertet werden.

 

Damit ist festzustellen, dass nach deutschem Recht die Schuldfähigkeit erst einmal prinzipiell angenommen wird und nur ganz besondere Umstände – die jedoch nicht genau definiert sind – eine Ausnahme von dieser Annahme rechtfertigen. Günther macht deutlich, dass darin eine Normalitätsunterstellung enthalten sei: Weil sich die überwiegende Mehrheit der Personen rechtstreu verhalte, würde sie es auch vom Einzelnen erwarten, sich ebenfalls an die Gesetze zu halten. Nun sei die Frage, wie hoch man die Hürde für die Anwendung des relevanten § 20 des Strafgesetzbuches – Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen – setze. In der rechtlichen Debatte habe man schon diskutiert, ob die Regelung „ein Nadelöhr oder eine Eingangspforte“ sein solle. In letzterem Falle bestehe das Risiko, zu viele Delinquenten von ihrer Schuld zu befreien, eine Art Dammbruch der Schuldunfähigkeit. Ein derartiger Dammbruch würde aber ohnehin kein Eldorado für Kriminelle bedeuten: Im Falle der Anwendung des Paragraphen für die Schuldunfähigkeit kann ein Delinquent nicht automatisch aufatmen. Von einer verordneten Entziehungskur über den Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt bis hin zur Sicherheitsverwahrung lässt das Recht auch für nicht schuldfähige Täter Möglichkeiten der Freiheitseinschränkung offen. Besonders heikel an einer solchen Verwahrung ist, dass ihr im Unterschied zu einer verordneten Freiheitsstrafe kein Ende gesetzt wird: Für die ersehnte Freiheit muss der Täter erst als unbedenklich eingestuft werden.

 

Hirnforschung, Willensfreiheit und das Strafrecht

 

Mit einem Blick auf die aktuelle Debatte zur Frage des Determinismus und der Willensfreiheit betont Günther zu Recht, dass es derartige Diskussionen seit der Aufklärung immer wieder gegeben habe. Folglich gebe es im Strafrecht verschiedene Positionen, die sowohl mit einem Determinismus als auch mit einem Indeterminismus vereinbar seien sowie sogenannte agnostische Positionen, welche die Frage der Determination schlichtweg offen ließen. So könne man gegen eine Position, die Willensfreiheit an den Indeterminismus kopple, beispielsweise vorbringen, dass unsere Entscheidungen ohne jegliche Determinanten letztlich dem Spiel des Zufalls überlassen blieben. Gerade für zufälliges Geschehen würden wir Personen in der Regel aber nicht verantwortlich machen. Dem Argument, das Determiniertheit mit Unfreiheit kurzschließt, muss man als Jurist also nicht unbedingt folgen.

 

Welche Optionen bestehen aber nun für das Strafrecht, mit den Funden der Hirnforschung umzugehen? Günther zeigt hier drei Möglichkeiten: Erstens könnten empirische Ergebnisse allenfalls Einflüsse darauf haben, unter welchen Umständen man im Rahmen der bestehenden Gesetze – man erinnere sich an den § 20 – von Schuldunfähigkeit spricht. Dass könnte bedeuten, dass man die Beurteilung von Gründen, welche die Schuld ausschließen, vermehrt unter Berücksichtigung neurologischer und neurowissenschaftlicher Untersuchungen vornimmt. Mit einer Revolution des Strafrechts wäre in diesem Falle aber nicht zu rechnen.

 

Zweitens könne man sich, so Günther, auf Kontroversen um den Determinismus einlassen und aufzeigen, dass die besonders komplexe Form der Determination des Menschen freies Handeln zulasse. Inwiefern sich das auf den Schuldbegriff im Strafrecht auswirke, bleibe dann jedoch abzuwarten. Wolle man hier den Ansichten der harten Naturwissenschaften folgen, bedürfe es nicht zuletzt begrifflicher Alternativen in Form einer Beobachtersprache, welche unserem sozialen Umgang miteinander Rechnung trage.

 

Drittens könne man die Konsequenzen aus den harten Thesen mancher Neurowissenschaftler ziehen und den Schuldbegriff schlichtweg abschaffen. Folglich müssten jedoch neurowissenschaftliche Kategorien als Ersatz dienen und auch die Strafe durch Schutzmaßnahmen ersetzt werden. Diese Alternative hält Günther jedoch für problematisch, da dann auch die Legitimität des Schutzbedürfnisses nicht mehr ersichtlich sei – es würde darum gehen, eine Mehrheit von Gehirnen gegen eine Minderheit „gefährlicher“ Gehirne zu schützen. Mit Gerechtigkeit hätte das nichts mehr zu tun: „Gerecht wäre das, was der sich durchsetzenden Gruppe nützt, indem es sie schützt – gerecht wäre das Recht des Stärkeren“, bringt er es auf den Punkt.

 

Eine Dystopie für das Strafrecht

 

Günthers eigener Meinung zufolge steht auch dem von manchen Vertretern der Hirnforschung prophezeiten Umbruch des Menschenbildes zum Trotz keine Revolution des Strafrechts und der Praxis des Kriminaljustizsystems bevor. Gleichzeitig weist er aber auf einen „beschleunigten Veränderungsprozess“ des aktuellen Strafrechts hin, der zwar nicht von der Neurowissenschaft ausgehe, interessanterweise aber von ihren Argumenten gestützt werde. Gemeint sind kriminalpolitische Sicherheitsinteressen, welche den strafrechtlichen Schuldbegriff schrittweise überflüssig machten. Als Beispiele nennt Günther den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel in der Strafverfolgung – man denke an verdeckte Ermittler und die Lauschangriffe –, verstärkte Kooperationen zwischen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden, auch auf transnationaler Ebene, sowie die Ausdehnung der Sicherheitsverwahrung für „gefährliche“ Täter. Dieser Trend sei etwa durch die Bekämpfung organisierter Kriminalität, schwerer Sexualdelikte und des internationalen Terrorismus bedingt und habe dazu geführt, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit in Richtung der letzteren zu verschieben.

 

In einer Welt, in der man dies mit aller Konsequenz durchsetze, würde die Frage nach Schuld und Strafe durch die nach Gefährlichkeit und Sicherheit ersetzt. Das könne dazu führen, einen Verbrecher nur noch als eine Gesamtheit von Ursachen und Wirkungen anzusehen, auf den aus Schutzbedürfnissen wiederum von Seiten des Staates kausal eingewirkt werden solle. Man würde nicht mehr nach der Verantwortung des Täters für seine Tat fragen, sondern im Voraus versuchen, möglichst gefährliche Individuen ausfindig zu machen und dann verhindernd einzugreifen. Im Gegensatz zu Tatvorwürfen, die sich auf einen konkreten Sachverhalt in der Welt – das Verbrechen – beziehen, könnte so ein „Gefährlichkeitstest“ aber nur im diffusen Raum der Wahrscheinlichkeitsaussagen stattfinden. In Günthers Worten:

 

„Um Sicherheit herzustellen, bedarf es der frühzeitigen Intervention – beispielsweise durch einen verdeckten Ermittler, der als agent provocateur einen Menschen wie in einem Experiment testet, ob es sich bei ihm um eine sicherheitsrelevante Gefahrenquelle handelt, oder durch einen Spezialisten für Rettungsfolter, der einen Menschen durch kausale Einwirkungen als Informationsquelle auspresst, um drohende Schäden zu verhindern.“

 

Bleibt noch die Frage, was mit einem derart als Risiko für die Allgemeinheit eingestuften Individuum zu tun wäre. Eine Ausdehnung der Sicherheitsverwahrung erscheint da fast noch als harmlose Möglichkeit. Mit einem Blick auf die Hirnforschung mag man spekulieren, eines Tages gleich in Form von Psychopharmaka oder anderen Interventionen im Gehirn staatliche „Hilfe“ zu verordnen. Um ein solches Zukunftsszenario zu vermeiden, scheint es daher wichtiger, die aktuellen kriminalpolitischen Trends kritisch zu reflektieren, als seine Aufmerksamkeit allein auf die Determinismus-Debatte zu lenken, die tatsächlich nur eine ewige Wiederholung im Voranschreiten von Kultur und Wissenschaft ist.

 

Textgrundlage: Klaus Günther, Hirnforschung und strafrechtlicher Schuldbegriff, Kritische Justiz 2/2006, S. 116-132.