Grundgesetz

 

 

 

 

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
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60 Jahre Grundgesetz: Die Basis unserer Verfassung.


Zur näheren Begründung unseres Grundgesetzes

Gerold Prauss


Rund sechzig Jahre sind es nun, seit unser Grundgesetz in Kraft ist und die Grundlage bereitstellt, auf der unser Staat als eine Rechtsordnung beruht. Zugrunde legt es ihr durch den Artikel l von Anbeginn das Unantastbare von Menschenwürde oder Menschenrecht. Zur Geltung bringt es damit etwas, das durch keine weitere Gesetzgebung in seiner Geltung anzutasten sei, weil dies das Menschenrecht oder die Menschenwürde selbst verbiete. Und das gilt daher Juristen selbst als die „Ewigkeitsgarantie" des Grundgesetzes. So ist deren Geltung nämlich Maßstab jeder weiteren Gesetzgebung, ob es bei ihr sich um eine gerechte oder ungerechte handle, sprich, ob sie mit deren Geltung übereinstimmt oder nicht.

Doch sechzig Jahre sind genug, so scheint es. Nunmehr sei es Zeit, sich klarzumachen, so wie dieses Grundgesetz sei auch Artikel l nichts anderes als Gesetzgebung wie jede weitere, das heißt: das Menschenwerk von positiv­gesetztem Recht. Und jedes solche habe doch sein Datum und mithin auch sein Verfallsdatum. Verfalle mindest der Artikel l doch der Kritik, dass er das Datum jener Nachkriegszeit besitze, als die Menschenrechtsverletzungen der Nazis uns noch in den Knochen saßen. Nur bedingt durch dies Historisch-Kontingente habe man zurückgegriffen auf Konzepte der Vergangenheit, wo Menschenwürde oder Menschenrecht, wenn nicht als etwas Gottgegebenes, so doch Naturgegebenes gegolten hatte.

So etwas wie Recht oder Gesetz, das sich befolgen oder auch verletzen lasse, könne aber schlechterdings nicht von Natur her, sondern nur vom Menschen her bestehen, weil nur als etwas von ihm Positiv-Gesetztes, wie wir heute wüssten und schon 1948/49 hätten wissen können. Endlich einzusehen gelte es von daher, dass auch Menschenrecht und Menschenwürde nur durch solche Setzung ihre Geltung haben können und so je nach Situation auch dieser oder jener Abwägung und Einschränkung verfügbar werden müssen. So zumindest sinngemäß, und nicht als einziger, Mathias Herdegen, Jurist in Bonn und jüngster Kommentator unseres Grundgesetzes, der in diesem Sinn zum Beispiel das Verbot der Folter nicht mehr generell vertreten will.

Wie kann es sein, dass jene Unantastbarkeit sich derart leicht zugunsten dieser Antastbarkeit stürzen lässt? Ist erstere so schlecht verankert, dass sie so einem Versuch tatsächlich weichen muss? So scheinen kann das, weil sie auf einem komplexen Stück Philosophie beruht. Wie alle Kommentare übereinstimmend vertreten, sei es die Moral- und Rechtstheorie Kants als Höhepunkt der Aufklärung, was die Begründung dafür liefere. Unbekannt scheint dabei aber: Was Moral und Recht betrifft, macht Kant in dieser Theorie zwei miteinander unvereinbare Versuche, und das spiegelt das Komplexe dieser Themen. Leitend dabei ist für ihn zunächst die Intuition, der Unterschied zwischen Moral und Recht sei der von einem Maximum und einem Minimum der Art, wie Menschen miteinander umgehen können, was auch namhafte Juristen teilen.

Am Beispiel einer roten Ampel sei das vorgeführt: Dem Staat als Setzer oder Hüter einer Rechtsordnung kann es nur darum gehen, dass vor der roten Ampel angehalten wird. Wenn ich das tue, ist es ihm egal, ob ich die rote Ampel dessen eingedenk befolge, dass dies andere Verkehrsteilnehmer schütze, oder nur, um mich vor Strafe zu bewahren. Das erstere sei als das Innere einer Gesinnung eine Sache der Moral als Maximum, das sich empirisch gar nicht feststellen lässt. Das Recht dagegen könne es nur mit dem Äußeren als Minimum zu tun haben, das sich empirisch feststellen lässt: die rote Ampel einerseits und anderseits das Anhalten vor ihr. Und diese Art von Überlegung ist es, auf die Kant dann eine Rechts- und Staatsauffassung gründet, die bis heute noch vertreten wird, auch von Mathias Herdegen.

Im wesentlichen ist ein Staat danach nichts anderes als eine Macht der letztlich willkürlichen Setzung wie auch Durchsetzung von diesem oder jenem Recht, um eine Menschenmenge so zu regulieren, dass die Freiheit jedes einzelnen mit der von jedem anderen verträglich wird: zum Beispiel im Straßenverkehr. Und das Entscheidende daran erblickt Kant darin, dass ein Staat mit seiner Macht das Äußere des Rechts als Minimum durch Strafandrohung auch erzwingen könne: nicht jedoch das Innere der Moral als Maximum; denn als etwas nicht Feststellbares lasse sie durch Recht und Staat sich sinnvoll auch weder gebieten noch erzwingen. Ersteres als das Erzwungene vergleicht Kant deshalb ausdrücklich mit der Mechanik des Naturgesetzes von Aktion und Reaktion bei Newton. Letztlich also läuft das auf den Staat als eine Art Sozialtechnologie hinaus, die als Physik der Freiheit nach Gesetzen funktioniere wie Naturphysik nach den Naturgesetzen. Und bis heute gilt daher nur ein in diesem Sinne säkular verfasster Staat auch als ein Staat der Freiheit.

Eben diese Auffassung von Recht und Staat ist es denn auch, was es nach Herdegen und anderen jetzt endlich vollständig, sprich: auch noch gegen den Artikel l des Grundgesetzes, durchzusetzen gelte. Der nämlich steht dieser Auffassung im Wege, weil er festlegt, dass wir umgekehrt gerade gegen diese Art von Recht und Staat durch unsere Menschenwürde Menschenrechte haben, die anschließend als unsere „Grundrechte" auch formuliert sind. Diese haben wir danach gerade gegen solche Macht und Willkür der Gesetzgebung des Staates, und das heißt zuletzt gerade gegen jede Politik, deren Grundgesetzmäßigkeit deshalb in Karlsruhe überwacht wird. Eben darin stimmt Artikel l mit Recht und Staat und Politik in diesem Sinn nicht überein, weshalb es gelte, ihn durch seine neue Kommentierung möglichst übereinstimmend damit zu machen, um auch ihn noch möglichst weit der Politik zu unterwerfen.

Und warum stimmt er damit nicht überein? Weil er auf einem andern Lehrstück der Philosophie von Kant beruht, das schon bei Kant mit dieser seiner eigenen Theorie von Recht und Staat nicht übereinstimmt. Ist es doch für diese Theorie bezeichnend, dass nach Kant und Fichte, der sie übernimmt, schon Hegel angst und bange bei ihr wird. Auch er hat sie zunächst vertreten, muss jedoch erleben, wie seit Juli 1789 und bis Juli 1830 eine Menschenmenge sich in Notzeiten verhält, wenn Recht und Staat ihr nur in diesem Sinn noch gegenüberstehen. Denn Staat und Menschenmenge unterscheiden sich danach nur noch als Willkür mit und Willkür ohne Macht, wobei sich letztere jedoch zu einer Macht zusammentun kann, um die Macht der ersteren zu übermächtigen: mit all den Folgen, die das haben muss, wie damals schon. Ein Staat, der nur als Rechtsordnung in diesem Sinn besteht, ragt deshalb wie ein Hochhaus, dem ein Fundament aus Dynamit zugrunde liegt. So jedenfalls der Eindruck, den das Wogen der Französischen Revolution auf Hegel schließlich machen musste. Deshalb überredet er sich auch erst ganz zuletzt, erst 1830, zu der philosophischen Verzweiflungstat, die gegen sein System ist, dass allein die Religiosität für das Bestehen von Recht und Staat die Grundlage sein könne, während er bis dahin das genaue Gegenteil vertreten hatte.

Angst und bange aber wurde es bei Recht und Staat in diesem Sinne nicht nur Hegel, sondern wird es etlichen bis heute, nur nicht Herdegen und Gleichgesinnten. So zum Beispiel Böckenförde, der sein viel zitiertes Paradox ausdrücklich auf die Meinung Hegels stützt, wenn er vertritt: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Sie liegen wie zuletzt nach Hegel auch nach Böckenförde letztlich in der Religiosität, wobei ihm aber nur noch banger werden kann. Denn heute muss ihm dabei nicht allein das Auslaufen der hergebrachten religiösen Überzeugungen vor Augen stehen, sondern vor allem auch das Einlaufen der multikulturell vertretenen multireligiösen, wovon Hegel noch nichts wusste. Damit nämlich ist gewiss kein Staat zu machen, so dass fraglich werden muss: Was ist es eigentlich, worauf ein säkularer Staat mit seinem säkularen Recht sich heute stützen kann? Ist es tatsächlich Religion, was ihm gleichsam zu Hilfe kommen muss, um ihm seinen Bestand zu sichern? Oder eben: Ist es wirklich Religion, was hinter jener Menschenwürde des Artikel l steht, den auch Böckenförde gegen Herdegen und andere verteidigt?

Alle Kommentare sind sich nämlich einig: Kants berühmtes Lehrstück von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist es, was Artikel l zugrunde liegt. Aus diesem Grund ist Herdegen in seinem Kommentar um nichts so sehr bemüht wie darum, diesem Lehrstück seine Geltung zu entziehen. Auch dieses sei etwas Historisch-Kontingentes, weil ein letzter Ausläufer des Glaubens an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Derlei schlage selbst auf diesem Höhepunkt der Aufklärung bei Kant noch durch, weil davon mindest eine Art Naturrecht übrig bleibe. Denn mit diesem Lehrstück sei etwas Vorpositives oder Überpositives oder Vorpolitisches gemeint, das Kant als absolute Norm vertrete. Jede Art von Norm dagegen könne erst und nur durch diese oder jene Politik der positiven Rechtssetzung zur Geltung kommen, die daher bloß eine relative sein kann. Nichts als eine schlechte Rationalisierung dieses letztlich Religiösen sei das deshalb, was sich daran zeige, dass die Rationalität dieses Versuchs auch gar nicht nachvollziehbar sei.

Geradezu die Tragik unserer Situation ist es denn auch, dass ungenaues Hinsehen tatsächlich diesen Eindruck haben muss und auch bis heute hatte: nicht bloß bei Juristen, auch bei Philosophen. Und durch diesen falschen Eindruck wird verdeckt, welch eine Perle unserer Aufklärung als unserer Selbstaufklärung hier verborgen liegt. Was Kant mit dieser Selbstzweckhaftigkeit vertritt, ist keine religiöse Glaubenssache, sondern eine Wissenssache, die sich zudem auch noch bis ins letzte rational begründen lässt.

Dass dies bei Kant nicht deutlich wird, liegt nur daran, dass er bei seiner Argumentation auf halbem Wege stehen bleibt, obwohl für die Vollendung dieses Weges schon die Alltagslogik reicht, die jedermann geläufig ist. Besagt doch dieses Lehrstück soweit, wie es Kant als Kategorischen Imperativ entwickelt, dass es gelte, einen Menschen niemals nur als Mittel zu behandeln, sondern immer auch als Selbstzweck. Doch bei diesem Ansatz gibt es eben nicht bloß diese beiden Möglichkeiten, einen Menschen nur als Mittel oder auch als Selbstzweck zu behandeln, sondern insgesamt gerade drei: als dritte nämlich auch noch die, ihn nur als Selbstzweck zu behandeln, die Kant aber auslässt. Denn zugrunde liegt hier die bekannte Alltagslogik „nicht nur ..., sondern auch ..." bzw. „nicht auch ..., sondern nur ...". Nach ihr bestehen mit „nur als Mittel" einerseits und „nur als Selbstzweck" anderseits zwei mögliche Extreme. Folglich bildet „auch als Selbstzweck" die genaue Mitte zwischen ihnen, weil dies ja zugleich bedeutet „auch als Mittel". Und weil dieser Logik schon Kant selbst nicht bis zu Ende folgt, wird selbst der Torso dieses Lehrstücks, der uns vorliegt, jede Weile falsch zitiert: vom ersten Rezensenten wie auch noch von Habermas. Bereits für Kant und noch bis heute bleibt daher verborgen, was durch diesen Ansatz wirklich rational begründbar ist.

Steht doch als Ausgangspunkt dahinter, einen Menschen nur als Mittel zu behandeln, sei der Inbegriff von Unrecht und von Unmoral in einem. Und wie treffend dies durch „nur als Mittel" auf einen Begriff gebracht ist, wird man schwerlich leugnen können. Braucht man doch auch nur den Ursprung unserer gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise zu betrachten, und man hat ein Beispiel dafür, das zum ersten Mal sogar globale Folgen hat. Gerade dieser Ausgangspunkt führt dann jedoch auch noch zu einem treffenden Begriff, was unter rechtlicher oder moralischer Behandlung eines Menschen zu verstehen sei. Doch dies nun in einem gänzlich andern Sinn von Minimum und Maximum als dem, der Kant bei jener ersten Theorie von beidem vorschwebt, mit der die hier folgende nicht übereinstimmt.

Ohne Frage nämlich ist es bloß das Minimum als rechtliche Behandlung eines Menschen, wenn sich hier ergibt, es gelte, ihn nicht nur als Mittel, sondern auch als Selbstzweck zu behandeln. Denn das Maximum moralischer Behandlung folgt dann erst als jene dritte, ausgelassene Möglichkeit, ihn nicht bloß auch als Selbstzweck, nämlich auch als Mittel zu behandeln, sondern sogar nur als Selbstzweck. Wegen ihrer Auslassung entgeht Kant aber dieser Unterschied zwischen Moral und Recht, so dass er sie dabei verwechselt. Denn er hält das Recht, das Minimum, bereits für die Moral, das Maximum, wie jene Torso-Formulierung seines Imperativs zeigt. Und so entgeht ihm ferner, dass der Grund für diesen Unterschied zwischen Moral und Recht auch nur sein kann, ob der Behandelte in einer Situation ist, worin er zur Selbsthilfe imstande ist bzw. nicht imstande ist.

Wenn ja, ist nur das Minimum erforderlich, ihn rechtlich zu behandeln, nämlich auch als Selbstzweck, was bedeutet: auch als Mittel. Denn an letzterem, ihn auch als Mittel zu behandeln, ist durchaus nichts unrechtlich oder gar unmoralisch. Vielmehr ist das der Normalfall unseres Umgangs miteinander, worin wir doch voneinander etwas haben wollen und sonach zum Mittel füreinander werden müssen. Und dies eben in dem Sinn, dass jeder, der in solchen Umgang tritt, sich freiwillig zum Mittel für den andern macht, weil er zur Selbsthilfe imstande ist. Und ihn dabei nicht nur als Mittel, sondern auch als Selbstzweck zu behandeln, heißt nichts anderes als dem gerecht zu werden, was er dabei für sich selbst will. Ist nach Kants berühmtem Beispiel doch genau in diesem Sinn nicht nur der Kaufmann für den Käufer, sondern auch der Käufer für den Kaufmann Mittel ebenso wie Selbstzweck, wenn sie „ehrlich" miteinander umgehen.

Aber auch die dazu gegenteilige Situation kann vorliegen, wenn mindest ein Beteiligter im Unterschied zum anderen gerade nicht zur Selbsthilfe imstande ist. Dies heißt dann, dass er außerstande ist, sich freiwillig zu einem Mittel für den anderen zu machen, um hier so in einen Umgang mit ihm einzutreten. Darum kann in einer solchen Situation auch nicht mehr bloß das Minimum erforderlich sein, ersteren bloß auch als Selbstzweck, sprich: bloß rechtlich zu behandeln. Vielmehr muss dann hier sogar das Maximum geboten sein, ihn sogar nur als Selbstzweck, sprich: sogar moralisch zu behandeln. Wenn es nämlich grundsätzlich erforderlich ist, ihn als Selbstzweck zu behandeln, ist es dies auch dann noch, wenn es bloß noch möglich ist, ihn nur als Selbstzweck zu behandeln, weil es dabei nicht mehr möglich ist, ihn auch als Mittel zu behandeln. Nichts geringeres als das Gebot der Nächstenliebe ist es denn auch, was mit diesem dritten Fall auf einen treffenden Begriff gebracht wird. Dieser trifft genau die Art, wie jener Samariter nach dem Gleichnis in der Bibel mit einem „halbtot" am Wegrand liegenden Verletzten umgeht: diesen nämlich nur als Selbstzweck zu behandeln.

Doch obwohl Kant selbst dies als ein Beispiel für moralische Behandlung eines Menschen nennt, lässt er sich den Begriff dafür entgehen und so auch die Begründung, dass die Nächstenliebe in der Tat geboten, weil von Seiten des in dieser Situation Befindlichen erforderlich ist. Aber nicht bloß dieser dritte Fall der Nächstenliebe als Moralgebot ist damit rational begründet, sondern ihm zuvor auch schon der zweite Fall des Rechtsgebots und damit ihm zuvor auch schon der erste Fall als der verbotene, einen Menschen nur als Mittel zu behandeln. Denn als Unrecht oder Unmoral verboten ist das dann gerade als Verstoß gegen den zweiten oder dritten Fall des Rechts- oder Moralgebots. Muss doch in beiden Fällen der Verstoß dagegen dahin gehen, einen Menschen nur als Mittel zu behandeln.

Rational begründet aber ist das alles, weil die Dreiheit dieser Fälle dann bereits nach Alltagslogik in sich vollständig und hergeleitet ist. Denn andere als diese drei kann es nicht geben, weil nach ihr auch keine Zwischenstufen zwischen ihnen möglich sind. Auf Grund der Selbstzweckhaftigkeit ist dieses Lehrstück demnach hieb- und stichfest und daher als Maßstab standfest: rationaler geht's nicht.

Denn was Kant mit „Selbstzweck" zu einem Begriff entfaltet, ist nur das, was jeder von uns ist und jeder von sich selbst wie auch vom andern weiß: Wie jeder ist auch jeder andere ein Fall von Wollen als Verfolgen dieses oder jenes inhaltlichen Zwecks; doch jedem solchen inhaltlichen Zweck vorweg ist er dabei formal schon immer für sich selbst Zweck, weil er von sich selbst als diesem Wollen weiß. Nicht mehr, doch auch nicht weniger als dies meint Kant, wenn er von praktischer Vernunft des Menschen als Person spricht. Längst vor Darwin schon vertritt Kant nämlich aus rein theoretischer Erwägung die Naturentstandenheit der Arten. Danach sind wir Menschen wie die Tiere aus Natur hervorgegangen und daher auch selber Tiere, die nur dadurch Menschen sind, dass sie als Tiere sich auch noch thematisch-gegenständlich sind, indem sie von sich selbst als Tieren auch noch wissen.

Jeder von uns ist sonach gerade wissentliches Wollen oder wissentlicher Selbstzweck. Und weil jeder dies von sich wie auch von jedem andern weiß, ist er dann auch noch wissentliches Fordern, wissentlicher Anspruch gegenüber jedem anderen, für den das deshalb zur Verpflichtung werden muss. Denn jeder, der in diesem Sinn ein wissentlicher Selbstzweck für sich ist, will als ein solcher auch von jedem andern solchen wissentlich behandelt werden: mindest auch als Selbstzweck oder sogar nur als Selbstzweck, je nach dem, ob er zur Selbsthilfe imstande oder außerstande ist.

Aus diesem Grund entspringt in der Gestalt von jeder einzelnen Person ein ursprüngliches Recht wie auch ihm gegenüber jeweils eine ursprüngliche Pflicht, deren Verhältnis zueinander eigentlicher Urgrund jeder Norm in unserer Welt ist und mithin die Urnorm. So etwas wie Recht und Pflicht haben wir demgemäß ursprünglich und ausschließlich gegeneinander. Nicht im mindesten kann deshalb diese Urnorm als etwas Vorpositives oder Überpositives gelten, worin noch etwas Nicht-Säkulares wie Naturrecht überlebe, was absurd sei, weil Natur doch so etwas wie Recht und Pflicht nicht kenne. Vielmehr ist auch diese Urnorm schon im vollen Sinn das Menschenwerk von positiv gesetztem Recht und positiv gesetzter Pflicht. Denn was dahinter steht, ist eben nichts als wissentliches Wollen gegenüber anderem wissentlichen Wollen, und das lässt als etwas Säkulares nichts zu wünschen übrig: säkularer geht's nicht.

Nur ist dieses ursprünglich gesetzte positive Recht gerade das, was jede einzelne Person schon für sich selbst setzt und mithin gerade nicht erst eine Menge von Personen für die einzelne Person. Vielmehr ist dieses ursprüngliche positive Recht der einzelnen Person gerade umgekehrt der Grund, weshalb für eine Menge solcher einzelner Personen die noch weitergehende Setzung positiven Rechts erforderlich wird: als Gesetzgebung durch Politik in einem Staat. Genau in diesem Sinn begründet Kant hier rational und säkular, ein jeder Mensch sei als eine Person das, was ein „Recht auf Rechte" habe: ein ursprünglich positives Recht auf abgeleitet positive Rechte einer Rechtsordnung. Und so ist eben dieses singulare „Recht" der Maßstab für diese pluralen „Rechte", und nicht etwa umgekehrt. Diese pluralen Rechte gilt es deshalb übereinstimmend mit diesem singularen Recht zu machen, und nicht etwa umgekehrt.

Für dieses singulare positive Recht steht der Artikel l im Grundgesetz, der dieses Recht als Menschenrecht durch Menschenwürde geltend macht, die jeder Einzelne als dieser wissentliche Selbstzweck hat. Und dieses singulare Recht ist es denn auch, das Herdegen und Gleichgesinnte nunmehr einfach auf die Seite der pluralen Rechte bringen wollen, um auch es noch der Gesetzgebung durch Politik zu unterwerfen. Hinter diesem Unternehmen aber steht gerade jene gänzlich andere Auffassung von Recht und Staat und Politik. Der aber widerstreitet schon bei Kant das Selbstzweck-Lehrstück als Errungenschaft, die den Artikel l begründet, was nun offenkundig wird.

Danach kann keine Rede davon sein, dass Recht und Staat und Politik ein bloßer Mechanismus der Erzwingung von Befolgung seien, hinter dem nur Macht und Willkür stehe, der es auch nur um das Äußere der Befolgung gehe und nicht um das Innere der beteiligten oder auch unbeteiligten Gesinnung: Deshalb lasse sich dadurch auch nicht Gesinnung als Moral, sondern nur Recht erzwingen. Diese Auffassung ist vor dem Maßstab jenes Lehrstücks einfach unmenschlich, weil tendenziell totalitär, woran auch demokratische Verhältnisse nichts ändern können. Widerlegen lässt sie sich denn auch in mehrerem, wovon nur weniges genannt sei.

So etwa, dass bloß Mechanik sich erzwingen lässt. Das Handeln eines Menschen aber ist keine Mechanik und daher auch nicht erzwingbar: Selbst durch schärfste Strafandrohung lässt sich nichts erzwingen, sondern nur zu etwas motivieren. Denn Handeln geht in jedem Fall zurück auf autonome, freie Willensbildung, und das Wissentliche an ihr ist eben Gesinnung. Diese also muss in jedem Fall im Spiel sein und ist deshalb gänzlich ungeeignet für die Unterscheidung von Moral und Recht als Maximum und Minimum nach dem Gesichtspunkt der beteiligten bzw. unbeteiligten Gesinnung. Wie das Selbstzweck-Lehrstück zeigt, sind sie ein Maximum und Minimum gerade nicht im subjektiven Sinn solcher Gesinnung, sondern in dem objektivven Sinn der jeweiligen Situation, in der ein Mensch zur Selbsthilfe imstande oder außerstande ist.

Die Rechtsordnung, die wir besitzen, steht daher mit jener unhaltbaren Auffassung von ihr auch nicht im Einklang, sondern widerspricht ihr. So gebietet unsere Rechtsordnung bekanntlich „Hilfeleistung", weil sie „unterlassene Hilfeleistung" unter Strafe stellt. Und das ist eben gänzlich unabhängig von Gesinnung ein Moralgebot, das jener Situation der Selbsthilflosigkeit entspricht und damit dem Gebot der Nächstenliebe, die das Maximum gebietet. Jedes andere Gebot in unserer Rechtsordnung, das einer Situation der Selbsthilfsfähigkeit entspricht, ist deshalb auch ein bloßes Rechtsgebot, das bloß das Minimum gebietet. Keine Rede sein kann somit davon, dass durch eine Rechtsordnung sich nicht Moral gebieten lasse, weil selbst ihre bloßen Rechtsgebote mehr sind als bloße Erzwingungsmechanismen. Denn schon sie gebieten, einen Menschen mindest auch als Selbstzweck zu behandeln.

Deshalb gilt es auch nur, jene unhaltbare Auffassung von Recht und Staat und Politik zugunsten dieser haltbaren zu ändern. Denn solang es bei der unhaltbaren bleibt, dass alles nur Mechanik der Erzwingung, sprich: nur Manipulation von Menschen durch die Politik als Macht und Willkür eines Staates sei, ist zu befürchten, dass entsprechend auch Regieren als Manipulieren aufgefasst und ausgeübt wird. Und wenn dann zugleich in Bildung und Erziehung diese unhaltbare Auffassung von Recht und Staat und Politik auch noch gelehrt wird und die so Belehrten sie auch so erleben, dann ist eine Situation geschaffen, die tatsächlich nur noch angst und bange machen kann, nur eben Herdegen und Gleichgesinnten nicht.

Denn eben diese unhaltbare Auffassung ist es, die sie jetzt auch noch gegen den Artikel l totalitär totalisieren wollen. Selbst unter demokratischen Verhältnissen kann dies jedoch nur dazu führen, dass das demokratische Prinzip zum demagogischen Prinzip und so zu seiner eigenen Perversion wird. Dann darf sich auch niemand wundern, wenn in Zeiten, wo es hart auf hart geht, jener Dynamit im Hochhaus hochgeht. Denn darauf zu bauen, dass Macht und Willkür ihn schon niederhalten werden, macht den Dynamit nur noch dynamischer.

Entsprechend käme es, solange es noch Zeit ist, darauf an, in Bildung und Erziehung gegen diese unhaltbare Auffassung die andere zu vermitteln, zu der die Entfaltung jenes Selbstzweck-Lehrstücks führt. Auch Recht und Staat und Politik kann nicht dazu ermächtigt sein, sich über das hinweg zu setzen, was nach diesem Lehrstück absoluter Maßstab jedes Handelns ist und bleibt: die einzelne Person als jener wissentliche Selbstzweck, dem auch sie verpflichtet sind. Ist dieses Lehrstück doch auch der Vermittlung fähig, denn als eine Wissenssache ist es auch für jeden Menschen nachvollziehbar. Die dadurch vermittelte Besinnung auf sich selbst und auf den anderen als diesen wissentlichen Selbstzweck aber wäre dann auch eine Basis, die ein freiheitlicher, säkularer Staat sehr wohl sich selber garantieren könnte. Angesichts von dieser Basis brauchte jedenfalls niemandem angst und bange um ihn werden, wenn er nur in Bildung und Erziehung die Besinnung auf sie auch befördern würde.

Ist sie aber wirklich eine Basis, wirklich eine Wissenssache, und nicht doch bloß eine letztlich religiöse Glaubenssache? Dies meint nämlich nicht nur Böckenförde, sondern meines Wissens jeder, der zumindest noch im Sinn eines Naturrechts jenes Lehrstück und Artikel l für etwas Vor- bzw. Überpositives halten und erhalten möchte. Doch in Wahrheit ist es, wie gesagt, gerade das ursprünglich positive Recht des Einzelnen, was sie als Menschenrecht durch Menschenwürde geltend machen. Dieses derart zu verkennen, ist geradezu fatal, weil Wasser auf die Mühlen derer, die es deshalb endgültig zermahlen wollen. So scheinen kann das, weil so wesentlich für jenes Lehrstück doch der dritte der drei Fälle ist: die Nächstenliebe als Gebot, wie es dem Judentum und Christentum entstammt und ursprünglich zurückgeht auf die Sinai-Geschichte, die es vorstellt als durch Gott geboten.

Es aus diesem Grund als eine Sache religiösen Glaubens zu betrachten, sei es auch nur eines Glaubens an etwas naturrechtlich Vor- oder Überpositives, ist jedoch verfehlt. Denn dies verkennt die Vorbedingung, die zu jener Zeit bereits erfüllt gewesen sein muss, weil es auch nur dadurch zu diesem Gebot gekommen sein kann. Als Gebot kann Nächstenliebe nämlich nur für Menschen gelten, deren jeder mindest soviel schon von sich wie auch vom andern weiß, dass sie sogar entgegen ihrer eigenen Bezeichnung, „Liebe", kein Gefühl ist, sondern Willenssache einer Handlung. Denn mit Sinn gebieten lässt sich auch nur eine Willenssache, von der jeder Mensch schon wissen muss, weil er für ein entsprechendes Gebot sonst gar nicht ansprechbar sein kann.

Solche Besinnung auf das wissentliche Wollen ist daher schon dort und damals eine Wissenssache der Philosophie, auf der die Glaubenssache der Theologie, dass Nächstenliebe ein Gebot von Gott sei, wesentlich beruht. Auch dann, wenn es als diese Glaubenssache weichen müsste, würde es daher als diese Wissenssache bleiben. Denn auch nur als solche ist es säkular und rational begründbar und begründet durch Philosophie. Ist Trägerin der Aufklärung doch immer wieder sie allein. Sogar dem Säkularsten der Französischen Revolution hat deshalb das Gebot der Nächstenliebe als Gebot der „Brüderlichkeit" standgehalten. Es ist daher prominentes Beispiel für den umfänglichen Anteil an Philosophie als Wissenssache, der schon Judentum und Christentum von allen Religionen, die wir kennen, unterscheidet, und der nicht erst später durch das Griechentum hinzutritt, wie nach jener Regensburger Rede von Papst Benedikt.

Einen willkommenen Beleg dafür enthält der offene Brief zu dieser Rede, worin sich Muslime äußern zum Verhältnis von Islam und Christentum. Denn unter anderem verweisen sie darin auf diese Nächstenliebe als „grundlegendes Prinzip" für beide Religionen, ohne dafür den Koran heranzuziehen. Dass Muslime diese Auffassung auch ohne den Koran vertreten können, kann allein durch ihre Einsicht zu erklären sein, dass diese Nächstenliebe als gebietbare gerade nicht spezifisch-religiöse Glaubenssache der Theologie ist. Und als eine Wissenssache der Philosophie ist diese Nächstenliebe eben etwas, das auch interkulturell und interreligiös für alle Menschen zugänglich und zumutbar sein muss, und das gibt Hoffnung.

Anderes dagegen weniger. Denn jene unhaltbare Auffassung von Recht und Staat und Politik ist weiter auf dem Vormarsch. So etwa wie folgt aus unserem Bundesministerium für Finanzen: Auf dem bloßen Wege der Verordnung werden Urteile eines Finanzgerichtshofs, die der Klage eines Steuerzahlers stattgeben, auf ihn als Einzelfall beschränkt, weil deren Ausdehnung auf gleiche Fälle den Finanzminister zuviel Steuern kosten würde. Und so aus dem Bundesministerium für Justiz auch das noch: Dorther stammt seit 1999 ein Gesetzentwurf, der regeln soll, dass gegen Urteile eines Gerichts nur dann noch Revisionen zugelassen werden, wenn Verfahrensfehler, also rein formale Fehler nachgewiesen werden können. Danach wäre jede inhaltliche Frage nach gerecht und ungerecht in Zukunft unzulässig: Das durch Macht gesetzte Recht ist hiernach, wenn die Macht nur in sich konsequent ist, auch schon das durch Macht gerechte Recht. Und darin meint man sich so sicher sein zu können, weil man doch durch eine Mehrheit von Personen demokratisch an der Macht sei und sich deshalb Unfehlbarkeit zutraut.

Solchem Vormarsch aber steht nun allerdings das singulare positive Recht der einzelnen Person im Weg, weil sie es auch noch gegen jede Mehrheit von Personen hat und so auch gegen jedes der pluralen positiven Rechte, wie es diese oder jene Mehrheit setzen mag. Für dieses singulare positive Recht steht denn auch jenes Lehrstück ein und der Artikel l im Grundgesetz. Nur fragt sich eben mittlerweile auch, wie lange noch.


Gerold Prauss, Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel
Freiburg i.B.: Alber 2008
152 Seiten, Kartoniert, € 24,-
ISBN: 978-3-495-48320-6


Es wachsen die Bedenken, ob der säkulare Staat des Westens von Bestand sein kann. Beruht er doch zuletzt, so scheint es, nur auf Macht und Willkür, weil er nur das Menschenwerk von positiv-gesetztem Recht ist. Und das kann je nach den Machtverhältnissen, die ständig schwanken, solches oder solches sein. Der säkulare Staat gilt deshalb auch nur als die Machtmechanik zur Erzwingung von Befolgung dieses oder jenes Rechts. Kein Maßstab aber scheint zu existieren, um zu orientieren, ob solches Recht gerechtes oder ungerechtes ist. Gerade als der säkulare scheint der Staat für sein Bestehen daher auch weiterhin noch zusätzlich auf religiöse Überzeugung seiner Bürger angewiesen, was jedoch umstritten ist.

Indes scheint keinem der Beteiligten, wie etwa Böckenförde, Habermas und Ratzinger, bewusst zu sein: Der eigentliche Grund dafür ist diese Art von Rechts- und Staatsauffassung selbst. Denn unumstritten ist, dass sie im Wesentlichen die von Kant ist. Zur Begründung einer Theorie von Recht und Staat macht Kant in der Moral- und Rechtsphilosophie jedoch zwei grundverschiedene Versuche, deren erster ihm misslingt. Und nur dieser misslungene zieht diesen Sinn von Recht und Staat nach sich, so lässt sich zeigen. Aber ausgerechnet den misslungenen Versuch hält man bis heute noch für den gelungenen, so dass daneben der gelingende nicht voll zur Geltung kommen kann. Der aber führt zu einem gänzlich andern Sinn von Recht und Staat, der gleichfalls säkular ist, für den es jedoch so einen Maßstab sehr wohl gibt. Zur Orientierung durch ihn ist daher auch keine religiöse Überzeugung nötig. Als ein allgemeiner Maßstab orientiert er umgekehrt vielmehr wie den Juristen oder Soziologen auch den Theologen.


Autoreninfo:

Prof. Dr. Gerold Prauss, geb. 1936, Studium in Bonn, Göttingen und Oxford; Lehrtätigkeit in Yale, Bonn, Heidelberg, Köln, Münster, seit 1985 in Freiburg. Gerold Prauss ist Prof. em. und ehemaliger Direktor des Philosophischen Seminars I der Universität Freiburg i. Br.

Forschungsgebiete: Erkenntnistheorie, Handlungstheorie, Sprachphilosophie, Ontologie, Leib-Seele-Problem; Platon, Aristoteles, Descartes, Kant, Frege, Heidegger.

Veröffentlichungen: Platon und der logische Eleatismus (1966); Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft" (1971); Kant und das Problem der Dinge an sich (1974, 1989); Einführung in die Erkenntnistheorie (1980, 1988); Kant über Freiheit als Autonomie (1983); Die Welt und wir, Band 1: Subjekt und Objekt der Theorie, Teil 1: Sprache - Subjekt - Zeit (1990), Teil 2: Raum - Substanz - Kausalität (1993). Die Welt und wir, Band 2: Subjekt und Objekt der Praxis. Teil 1: Form und Inhalt einer Absicht als Bewusstsein (1999), Teil 2: Die Grenzen einer Absicht (2006).

Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg i. B.: Karl Alber 2008