René Descartes (1596-1650)

 

 

René Descartes (1596-1650)

 

Biographie:

 

1604-12 Studium am jesuitischen College Royal in La Flèche (Anjou)

1612-16 Studium an der juristischen Fakultät in Poitiers

1618-19 militärische Ausbildung in Holland

1620 freiwilliger Militärdienst in der Truppe des Herzogs von Bayern

  • Erfahrung des ungeheuren Elends des Krieges
  • Erleuchtungserlebnis im Schützengraben bei Ulm
  • Ursprung der Idee der Verbesserung der Medizin und der Lebensverhältnisse

1623-24 Italienreise

1625-28 Aufenthalt in Paris

1628 Emigration nach Holland; Freundschaft mit holländischen Gelehrten seiner Zeit

  • Idee einer radikalen Neufundierung der zeitgenössischen Wissenschaften

1635 Verhältnis mit Hijlena Jans und Geburt der Tochter

1644-48 drei Reisen nach Frankreich

1649 Übersiedlung nach Schweden auf Einladung der Königin Christine von Schweden

1650 Krankheit und Tod in Stockholm

1663 Schriften auf dem „Index Romanus“

1667 Überführung nach Paris in die Chapelle du Sacre Coeur, St. Germain des Prés

 

Hauptwerke: 

  • Regulae ad directionem ingenii (1628)
  • Discours de la méthode (1637) 
  • Meditationes de prima philosophiae (1641)
  • Principia philosophiae (1644)
  • Passions de l’áme (1649)  

Intentionen: 

  • Überwindung der scholastischen Philosophie
  • Fundierung der Wissenschaften in der Metaphysik
  • Streben nach Gewissheit der Erkenntnis
  • Radikale Überprüfung der eigenen Überzeugungen
  • Radikaler Zweifel als Methode der Philosophie
  • Orientierung am „natürlichen Licht“ der Vernunft (lumen naturale)
  • Rationalisierung der Lebenspraxis
  • Verbesserung der Medizin zwecks Verlängerung des menschlichen Lebens

 

Meditationen über die Erste Philosophie (1641):

 

In seinen Meditationen über die Erste Philosophie versucht Descartes eine neue Fundierung aller Wissenschaften in der Metaphysik, da nach seiner Auffassung die scholastische Metaphysik seiner Zeit aufgrund der Erkenntnisse der neuen Physik und Kosmologie (Kopernikus, Kepler, Galilei, u.a.) unglaubwürdig geworden ist. Die Metaphysik der Scholastik fußte vor allem auf den Lehren von Aristoteles und Thomas von Aquin.

 

Um die Wissenschaften in einer neuen Metaphysik zu fundieren, wollte Descartes zuerst einige absolute Gewiß-heiten des philosophischen Erkennen finden, die als evidente Prinzipien für die neue Metaphysik dienen konnten. Für zwei dieser absoluten, unbezweifelbaren und täuschungsfreien Gewißheiten der philosophischen Erkenntnis hielt er (1.) die Selbsterkenntnis, dass er selbst ein „denkendes Ding“ (res cogitans) sei, sowie (2.) die Selbst-gewissheit, dass er selbst nicht dauerhaft , sinnvoll und widerspruchsfrei an seiner eigenen Existenz zweifeln könne. Denn Zweifeln ist eine Form des Denkens, und wenn ich denke, muss ich existieren („cogito, ergo sum“).

 

Aber diese philosophischen Einsichten waren nicht ganz neu, da auch schon Augustinus das Phänomen der un-bezweifelbaren und täuschungsfreien Gewissheit der eigenen Existenz gekannt hatte. Auch die Radikalisierung der erkenntnistheoretischen Skepsis, die alle gewöhnlichen, alltäglichen und wissenschaftlichen Überzeugungen infrage stellt, gab es bereits bei den antiken Skeptikern Pyrrho von Elis und Sextus Empiricus. Neu war hingegen Descartes' Absicht, die skeptizistische Radikalisierung des Zweifels gerade umgekehrt als Methode zur Ent-deckung von evidenten Prinzipien der Erkenntnis für die Philosophie und für die Wissenschaften zu benutzen.

 

Von diesen evidenten Prinzipien der philosophischen Erkenntnis ausgehend versucht Descartes in seinen Meditationen zu beweisen (1.) dass es trotz der gelegentlichen Unzuverlässigkeit der Sinne (wie z.B. bei Sinnes-täuschungen, Träumen, Phantomschmerzen, etc.) wirklich physische Gegenstände der Erkenntnis gibt, die unabhängig vom (eigenen) menschlichen Geist existieren, (2.) dass es trotz der gelegentlichen Unzuverlässigkeit der Sinne möglich ist, zuverlässige Erkenntnisse von diesen realen physischen Gegenständen zu erlangen, (3.) dass es nicht möglich ist, dass ich mich immer und überall über die wirklichen Gegenstände in der Welt täusche, (4.) dass es für diese grundsätzliche Zuverlässigkeit der eigenen Erkenntnisfähigkeit  jedoch des Daseins eines allwissenden, allmächtigen, gerechten und barmherzigen Gottes bedarf, der die grundsätzliche Angepasstheit der Sinne und des Denkens an die realen Dinge in der Welt garantiert.

 

Denn wenn Gott nicht existieren würde und wenn er nicht allwissend, allmächtig gerecht und barmherzig wäre, dann könnte ein böser Dämon mich immer und überall täuschen. Dann aber wäre gar keine wirkliche Erkenntnis von den realen Gegenständen in der Welt möglich. Descartes konnte sich damals noch nicht vorstellen, dass für die grundsätzliche Angepasstheit der Sinne an die realen Dinge in der Welt ein unvorstellbar langer Prozess der naturgeschichtlichen Evolution der Arten und für die grundsätzliche Angemessenheit des Denkens an die realen Dinge in der Welt ein sehr langer Prozess der kulturgeschichtlichen Adaption der Mentalitäten verantwortlich sein könnte. Aber selbst wenn er schon Darwins empirischen Hypothesen über die Evolution der Arten gekannt und für wahr gehalten hätte, hätten sie die Möglichkeit, immer und überall getäuscht zu werden, wegen ihres bloß empirischen und kontingenten Gehaltes sicher nicht ausgeschlossen, sondern gerade erst umso wahrscheinlicher gemacht.

 

Dazu musste er aber beweisen, (1.) dass die Idee Gottes nicht nur eine zufällige und bezweifelbare Vorstellung im eigenen Geist ist, sondern dass sie auch eine Vorstellung von einer vom Geist unabhängigen ewigen Realität ist, die nur durch eine äußere Ursache in seinen Geist gelangt sein kann und (2.) dass Gott notwendig und zweifelsfrei existiert. Um das Dasein Gottes als notwendig und unbezweifelbar zu beweisen, versuchte Descartes im Sinne des ontologischen Gottesbeweises von Anselm von Canterbury von der offensichtlich vorhandenen Idee Gottes in seinem Geist auszugehen, der zufolge Gott ein höchstes und vollkommenes Wesen ist, das alle denkbaren Vollkommenheiten in sich vereinigt. Wenn Gott jedoch ein solches Wesen ist, dann muss Gott existieren, denn es wäre widersprüchlich anzunehmen, dass ein höchstes und vollkommenstes Wesen gar nicht existiert. Denn wenn Gott die Eigenschaft der Existenz fehlte, dann könnte er nicht das höchste und vollkommenste Wesen sein. Er wäre unvollkommen.

 

 

Aufbau der Meditationen:

 

1. Meditation: Ausgangspunkt: Gründe für die Möglichkeit und Nützlichkeit des Zweifels an der sinnlichen Erkenntnis; Traumargument; Differenz zwischen Real- und Formalwissenschaften; Entdeckung der Idee Gottes im eigenen Bewusstsein; Problem der Möglichkeit der Täuschung durch Gott bzw. einen bösen Dämon; metho-discher Zweifel als Mittel zur Vergewisserung über die Evidenz der Vorstellungen und Überzeugungen.

 

2. Meditation: Methodenproblem: Suche nach einer absolut evidenten Erkenntnis als erstem Prinzip aller Er-kenntnisse in der Philosophie und in den Wissenschaften; Einsatz des methodischen Zweifels zur Entdeckung dessen, was zweifelsfrei evident ist; Entdeckung der Differenz des Körperlichen und des Seelischen; klare und deutliche Erkenntnis der substantiellen Verschiedenheit; Frage nach der Unsterblichkeit der Geistseele; Physik

als Wissenschaft von den körperlich ausgedehnten Substanzen in Raum und Zeit.

 

3. Meditation: Gottesfrage: Beweis des Daseins Gottes als eines höchst vollkommenen Wesens; Notwendigkeit einer vollkommenen Ursache außerhalb meines Bewusstseins für die Idee von Gott im eigenen Bewusstsein.

 

4. Meditation: Wahrheitsproblem: Beweis, dass im Bereich der theoretischen Erkenntnis alles, was wir mit Hilfe des natürlichen Lichtes der Vernunft klar und deutlich einsehen, auch wahr sein muss; Möglichkeit des Irrtums; verschiedene Ursachen des Irrtums; Rolle des Willens und der freien Entscheidung; Differenz von Wollen und Verstehen bzw. Einsehen; Differenz von Willensakten und Urteilsakten; Möglichkeit der Urteilsenthaltung.

 

5. Meditation: Grundfrage der Physik nach dem Sein und Wesen der körperlichen Gegenstände in Raum und Zeit; Grundfrage der Metaphysik nach dem Sein und Wesen Gottes; ontologisches Argument für das Dasein Gottes: (P1) Gott wird als das höchste und vollkommenstes Wesen gedacht; (P2) es kann aber nicht sein, dass ein solches Wesen nicht existiert, weil es sonst nicht das höchste und vollkommenste Wesen wäre; (C) Also: Gott existiert notwendig; Reflexionen für und wider das ontologische Argument: Vergleiche mit Reflexionen über die Idee eines (vollkommenen) Dreiecks und die Prinzipien der Geometrie; Abhängigkeit der Wissenschaften von der Erkenntnis des wahren Gottes.

 

6. Meditation: Differenz zwischen bildlichem Vorstellen und reinem Verstehen; Einbildungskraft und Verstandes-kraft; Differenz zwischen dem Dasein meines Körpers und dem Dasein der Vorstellungen in meinem Bewusst-sein; verschiedene Erfahrungen, die das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Sinne ins Wanken gebracht haben; Berechtigung des Zweifels an der Zuverlässigkeit der Sinne; Differenz von Wahrnehmung, Empfindung und Einbildung; unaufhebbare Einheit von Körper und Geist; Existenz des Körpers unter anderen Körpern; Mensch als Einheit aus Geist und Körper; Körper als eine Art von organischer Maschine; Differenz von Geist und Körper; Teilbarkeit des Körpers; Unteilbarkeit des Geistes; besondere Verbindung des Geistes mit dem Gehirn; Differenz von Geist und Gehirn; Problem der Phantomschmerzen; Fazit: gewöhnliche Zuverlässigkeit der Sinne, des Gedächtnisses und des Verstandes im Alltag; Möglichkeit des Irrtums in Einzelfällen; Unvollkommenheit und Schwäche der menschlichen Natur; Gott ist kein böser Dämon; radikaler Zweifel nur als Methode der philo-sophischen Selbstvergewisserung in Bezug auf die Prinzipen der Erkenntnis in den Wissenschaften und im Alltag.

 

 

Kritische Bilanz:

 

Nach einer tour de force des philosophischen Denkens, gelangt Descartes zu den Prinzipien einer neuen Meta-physik, die der augustinischen Metaphysik verwandt ist: „Es gibt einen Gott, eine Seele, deren Unsterblichkeit zwar nicht demonstriert, aber doch durch den Beweis ihrer Realverschiedenheit vom Körper nahegelegt wird, und eine denkunabhängige Körperwelt.“

 

Der radikale methodische Zweifel diente lediglich der Vergewisserung über diese untrüglichen Prinzipien der Metaphysik. Trotz des cartesischen Ausgangspunktes bei der Selbstvergewisserung des denkenden Subjektes bleibt das denkende Subjekt von Gott abhängig. Das denkende Subjekt bleibt bei Descartes in seiner zuverläss-igen und weitgehend täuschungsfreien Erkenntnisfähigkeit auf den gütigen Gott angewiesen, der auch außerhalb seines eigenen Geistes wirklich existieren muss und es nicht dauerhaft und vollständig täuschen kann. Sein von Hegel rehabilitierter ontologischer Gottesbeweis ist und bleibt auch nach Kants und Brentanos Einwänden immer noch umstritten.

 

Descartes hatte weder angenommen, dass die menschlichen Sinne aufgrund des unvorstellbar langen natur-geschichtlichen Selektionsprozesses der Evolution gut an die Umwelt angepasst sind noch dass sich die mensch-lichen Denkweisen autopoietisch aufgrund eines langen kulturgeschichtlichen Selektionsprozesses an die Wirklichkeit anpassen. Aber selbst, wenn er schon Darwins empirische Hypothesen über die Evolution der Arten gekannt und für wahr gehalten hätte, dann wären sie auch nur ungewisse empirische Hypothesen über Lebe-wesen in seinem Geist gewesen, aber keine axiomatischen Prinzipien, die er als evident und als notwendig gültig hätte einsehen können (wie das Prinzip der Widerspruchsfreiheit oder das Prinzip der Kausalität).

 

Die Möglichkeit, immer und überall von einem bösen Dämon getäuscht zu werden, hätte er wegen des bloß empirischen und kontingenten Inhaltes dieser empirischen Hypothesen über Lebewesen nicht ausschließen können. Ganz im Gegenteil, wäre es dann nämlich nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich ge-wesen, dass er immer und überall über die Grundstrukturen der Wirklichkeit getäuscht wird. Denn Darwins Theorie der Evolution zufolge, zwingt die Natur alle Lebewesen nur zur Anpassung an die sinnlich erfahrbaren Phänomene der Umwelt, um sich selbst zu erhalten und um sich fortzupflanzen. Die Natur zwingt die Menschen jedoch nicht dazu, die Grundstrukturen der Wirklichkeit zu erkennen und die Naturgesetze hinter den Erschei-nungen zu entdecken. Diese Erkenntnisse und Entdeckungen müssen vielmehr der Natur mühsam abgerungen werden.

 

Was hätte Descartes dann aber bei hinreichender Kennntnis von Darwins Theorie der Evolution und ohne das Gelingen des ontologischen Gottesbeweises über die Möglichkeit der grundsätzlichen Täuschung durch einen bösen Dämon denken müssen? Descartes wusste, dass unter allen intelligenten Lebewesen nur Menschen aufgrund ihres sprachlich denkenden Geistes (mens) die Grundstrukturen der Wirklichkeit erkennen und die Naturgesetze hinter den Erscheinungen entdecken können. Wenn ihn jedoch seine körperliche Natur dazu zwingt, sich an die sinnlich erfahrbaren Phänomene der Umwelt anzupassen, dann könnte aber eben dieser natürliche Zwang gerade der böse Dämon sein, der ihn immer und überall täuscht. Denn dieser natürliche Zwang nämlich verhindert, die Grundstrukturen der Wirklichkeit zu erkennen und die Naturgesetze hinter den Erscheinungen zu entdecken. Sein Körper zwingt nämlich seine Seele, die sinnlichen Phänomene und ihre Sinnestäuschungen mehr zu lieben als die Gedanken und Zweifel seiner Seele und als die Erkenntnisse und Entdeckungen seines Geistes. Denn seine körperliche Natur zwingt ihn, sich an die sinnlich erfahrbaren Phänomene der Umwelt anzupassen, um zu überleben und um sich fortpflanzen zu können.

 

Fazit: Die Kenntnis der Evolutionstheorie und das Fürwahrhalten ihrer empirischen Hypothesen ändert nichts an dem cartesischen Grundproblem, durch einen radikalen methodischen Zweifel, unbezweifelbare und täuschungs-freie Gewißheiten bzw. absolute und evidente axiomatische Prinzipien des Erkennens und Wissens zu finden, die garantieren, dass menschliche Subjekte nicht grundsätzlich und dauerhaft über ihr Dasein in der wirklichen Welt getäuscht werden, ohne jemals die Grundstrukturen der Wirklichkeit erkennen und ohne jemals die verborgenen Naturgesetze hinter den Erscheinungen entdecken zu können.

 

Ohne einen festen Glauben an die Güte Gottes und ohne die Erfahrung seiner Gnade können sich menschliche Subjekte niemals sicher sein, überhaupt jemals etwas Wirkliches außerhalb ihres eigenen Bewußtseins erkannt

zu haben bzw. objektiv erkennen und wissen zu können. Mit einen festen Glauben an die Güte Gottes und mit

der Erfahrung seiner Gnade können menschliche Subjekte jedoch fest darauf vertrauen, nicht grundsätzlich und dauerhaft über ihr Dasein in der wirklichen Welt getäuscht werden, und bereits vieles Wirkliches außerhalb ihres eigenen Bewußtseins erkannt zu haben sowie weiteres Wirkliches objektiv erkennen und wissen zu können. Sie sind zur Zuversicht einer "zweiten Naivität" (Paul Ricoeur) gelangt.  

 

 

Rezeptionsgeschichte und Relevanz für die Gegenwart:

 

Die katholische Kirche, die Descartes' Schriften noch nach seinem Tode auf den Index Romanus gesetzt hatte, wird ihn im 19. Jahrhundert hingegen rehabilitieren. Auch die philosophische Wirkungsgeschichte seiner Meditationen war ungewöhnlich stark. Sie wurden von allen Rationalisten und Empiristen zur Kenntnis genommen und haben sie zu eigenen Positionen in Bezug auf die Erkenntnistheorie und Metaphysik herausgefordert: Leibniz, Spinoza und Pascal; Locke, Hume und Berkeley, u.a.

 

Stark war auch die Wirkung auf Kant, Fichte und Hegel (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie). Seit Hegel wurden Descartes’ Meditationen häufig als Anfang der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie aufgefasst. Des-cartes galt daher als „Vater der neueren Philosophie“ (Schopenhauer) bzw. als „Begründer der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie“ (Hegel), was allerdings auf seine eigenwillige Interpretation und seine Missachtung der scholastischen und vorkantianischen Elemente seines Denkens zurückzuführen ist.

 

Franz Brentano knüpfte in seinen epistemologischen Studien zwischen 1889 und 1916, die allerdings erst 1930 unter dem Titel Wahrheit und Evidenz publiziert wurden, mit seiner strengen methodischen Fundierung in der Evidenz des Logischen und Empirischen an Descartes und Locke und nicht an Kant an. In seiner Psychologie von Empirischen Standpunkt (1874) verteidigte der an Aristoteles orientierte Neo-Aristoteliker jedoch gegen Kant und Locke die Entdeckung der Intentionalität der psychischen Phänomene.

 

Edmund Husserl, anfangs einer der wichtisten Schüler Franz Brentanos, verteidigte zu Beginn seiner frühen Realistischen Phänomenologie der Logischen Untersuchungen (1901) die Intentionalität der psychischen Phäno-mene, entwickelte dann aber unter dem Eindruck der Schriften von Fichte seine spätere Transzendentale Phäno-menologie, wobei er sich zu Beginn seiner transzendentalen Wende in seinen Cartesianischen Meditationen (1929) auf Descartes bezogen hatte.

 

Die meisten naturalistischen und szientistisch-reduktionistischen Philosophen der sog. Analytischen Philosophie in der Nachfolge des positivistischen Logischen Empirismus (Wiener und Berliner Kreis) wie Daniel Dennett, Paul und Patricia Churchland, David Lewis und Richard Rorty benutzen Descartes gerne als Buhmann (straw man) für Seinen Substanzen-Dualismus (res extensa und res cogitans). Die Kritik am cartesischen Substanz-Dualismus bekommt dadurch eine rhetorische Funktion und schweißt gewissermaßen Materialisten und Naturalisten ideologisch zusammen.

 

Dabei wird trotz deutlicher Stellen in seinen Meditationen immer wieder gerne unterschlagen, dass sich Descartes wie Platon und Aristoteles selbstverständlich der Einheit der Person bzw. der "Ganzheit" des Menschen bewusst gewesen ist. Daher können der ausgedehnte materielle Körper und die bewußte immaterielle Seele auch bei ihm nur zwei substanziell verschiedene, also nicht aufeinander reduzierbare Arten von Entitäten sein, die zwar von-einander abhängig sind und auch funktional interagieren, aber nur zwei verschiedene Aspekte oder Schichten in der Persönlichkeit des Menschen sind, aber keine disparaten Dinge, wie es ihm gerne unterstellt wird.

 

Descartes war aufgrund seiner anatomischen Experimente sogar der Entdecker der Relevanz der unpaarigen Zirbeldrüse im weitgehend paarigen Gehirn und symmetrischen Nervensystem für ganz basale Bewußtseins-phänomene und Verhaltensmöglichkeiten, wie den Wechsel von Wachzustand und Schlafzustand und damit für die transtemporale Einheit der menschlichen Person. Die Zirbeldrüse bzw. Epiphyse (Epiphysis cerebri) "anato-misch auch Glandula pinealis genannt ist eine kleine, oft kegelförmige endokrine Drüse auf der Rückseite des Mittelhirns im Epithalamus ... In der Zirbeldrüse produzieren organtypische neurosekretorische Zellen, die Pinealozyten, das Hormon Melatonin.

 

Das Neurohormon Melatonin wird bei Dunkelheit gebildet und in Blut und Liquor freigesetzt, so überwiegend nachts. Melatonin beeinflusst den Schlaf-Wach-Rhythmus und andere zeitabhängige Rhythmen des Körpers. Eine Fehlfunktion der pinealen Sekretion kann – neben einem gestörten Tagesrhythmus – sexuelle Frühreife oder Verzögerung bzw. Hemmung der Geschlechtsentwicklung bewirken. (Wikipedia, Zirbeldrüse, Febr. 2021) Eine Fehlfunktion der pinealen Sekretion kann einen gestörten Tagesrhythmus bewirken. Ein länger gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus, wie z.B. bei Drogenmissbrauch oder bei einer manischen Depression, ist neurologisch und psychiatrisch relevant.

 

In der heutigen Psychiatrie gehen geisteswissenschaftliche Methoden der Phänomenologie und Psychopatho-logie und naturwissenschaftlich Methoden der Neurologie und Neurowissenschaften eine einzigartige Synthese ein, die für ein adäquates und umfassendes Menschenbild (auch philosophisch) relevant sind. Das hat zu einer erfolgreichen Methodenvielfalt von milieutherapeutischen, psychotherapeutischen und medikamentösen Therapien geführt. Aufgrund der neurowissenschaftlichen Forschungen konnten moderne Psychopharmaka in ihrem Wirkungsspektrum und ihrer Zielgenauigkeit zunehmend verbessert werden. Heute werden sie idealer-weise in ärztlicher Absprache mit den Patienten und nach deren vorherigen Zustimmung (informed consent) feindosiert eingenommen. Diese Entwicklung hat zu einer weiteren Humanisierung der klinischen Psychiatrie beigetragen.

 

Damit war Descartes ein früher Vorläufer der modernen neurowissenschaftlich informierten Psychiatrie, die seit einigen Jahren und Jahrzehnten den kausalen bzw. funktionalen Zusammenhang zwischen den unbewussten, neuronalen und hormonellen Prozessen im Gehirn und Nervensystem einerseits und den bewußten seelischen Phänomenen des Menschen, wie den Emotionen, Motivationen, Volitionen und Kognitionen andererseits er-forscht. Dieser komplexe Zusammenhang spielt eine wesentliche Rolle für die Subjektivität des Menschen,

sowohl in Form des subjektiven Selbsterlebens der eigenen Psyche als auch in Form der Interpretation der Wahrnehmungen von Objekten in der natürlichen, kulturellen und sozialen Lebenswelt.

 

Die ontologische Unterscheidung zwischen drei irreduziblen Schichten des Seienden (Drei-Welten-Konzeption) des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper und des Neurowissenschaftlers John Eccles kommt Descartes' Selbst-verständnis und seiner Unterscheidung zwischen Körper, Seele und Geist seiner trialistischen Konzeption der Einheit der Person (corporea - cogitationes - ideae mentis) in seinem Hauptwerk Principia philosophiae (1644) jedoch viel näher.

 

Mit den Ausdruck "ideae" bezeichnete Descartes nämlich abstrakte Entitäten, wie z.B. Begriffe für Zahlen und Funktionen, Ideale und Prinzipien, Normen und Werte,  Regeln und Propositionen, etc. Ähnlich wie Platon glaubt er, dass die metaphysische Idee eines gütigen Gottes angeboren sei. Anders als Aristoteles geht Descartes daher nicht davon aus, dass abstrakte Entitäten durch Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen werden. Als Rationalist glaubt er anders als der Empirist Locke nicht, dass alles, was im Geist (mens) ist auch schon zuvor in der sinnlichen Erfahrung gewesen sein muss.

 

Die beiden Analytischen Philosophen Thomas Nagel (What it is like to be a bat?, 1974) und David Chalmers (The Conscious Mind, 1996; The Hard Problem; 1997) verteidigten jedoch wie schon vor ihnen Franz Brentano und Edmund Husserl die semantische, ontologische und methodische Irreduzibilität der qualitativen Bewußtseins-phänomene von Menschen und Tieren gegen die vorwiegend reduktionistischen Überzeugungen und quanti-fizierenden Methoden der meisten Neurowissenschaftler.

 

Aber auch Neurowissenschaftler der sog. Embodiment-Bewegung in der biologischen Kognitionsforschung im Anschluss an Antonio Damasio und in der Psychologie und Psychotherapie verstehen sich gerne als monistische Anti-Dualisten im Fahrwasser eines östlichen Mystizismus (Buddhismus und Advaita-Vedanta) und verteidigen einen ausgesprochen anti-intellektuellen, anti-philosophischen und kulturpessimistischen Epiphänomenalismus, der die wesentlichen philosophischen Intentionen, phänomenologischen Methoden und psychologischen Über-zeugungen von Brentano und Husserl, Jaspers und Hartmann aufgibt.

 

Während die anti-mechanistischen Intentionen im Sinne einer Rehabilitation natürlicher Ziele und Zwecke bei Menschen und Tieren (Robert Spaemann und Reinhard Löw) nur allzu verständlich und zu begrüßen sind, werden jedoch durch eine behavioristische Reduktion alle spezifisch menschlichen Bewußtseinsphänomene (Emotionen, Motivationen, Volitionen, Kognitionen, Fiktionen und Reflexionen), die für alle universitären Wissenschaften und Künste sowie für die demokratischen und rechtstaatlichen Institutionen relevant sind, zu bloßen Epihänomenen des biologisch erforschbaren lebendigen Körpers und des subjektiv erlebbaren Leibes herabgestuft.

 

Das führt jedoch zu einem biologistischen Kulturrelativismus und unterwandert nicht nur die humanistischen Gehalte in den verschiedenen Menschenbildern der Religionen und Konfessionen von Judentum, Christentum und Islam, sondern auch die ethischen, moralischen, rechtlichen und politischen Errungenschaften der Moderne mit ihren drei Säulen von Demokratie, Rechtsstaat und (mehr oder weniger regulierter) Marktwirtschaft.

 


 

Descartes' Philosophie – Wahrheit und Evidenz durch methodische Skepsis

 

Ulrich W. Diehl

 

Abstract

 

René Descartes' (1596-1650) hat als Universalgelehrter im Zeitalter des Barock die damals noch nicht auf Erfah-rung, sondern auf Autoritäten gestützte Medizin radikal in Frage stellt. Selbst in scholastischer Philosophie ausgebildet, ist er jedoch auch mit einigen ihrer philosophischen Lehren in Konflikt geraten. Aufgrund seiner bahnbrechenden Beiträge und Erfolge in der Mathematik, in den Naturwissenschaften und in der Philosophie wurde Descartes im 18. Jahrhundert zum unverhofften Initiator eines schöpferischen Aufbruches der neuzeit-lichen Philosophie.

 

Im 19. und 20. Jahrhundert wurde er dafür von so unterschiedlichen Philosophen wie Schopenhauer und Hegel, Brentano und Husserl als Erneuerer des philosophischen Denkens und als "Vater der neuzeitlichen Philosophie" verehrt. Dadurch entstand jedoch ein einseitiges Bild von Descartes als einem “reinen Philosophen”, das weit-gehend eine Folge der hegelianischen und kantianischen Schulphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts gewesen ist. Die zeitgenössische Descartes-Forschung hat diese Bild von Descartes jedoch erheblich zurecht gerückt und in ihm auch wieder auch den Mathematiker und Naturforscher mit einem besonderen Interesse an einer Verbesse-rung der Medizin gesehen.

 

Descartes war kein absoluter Skeptiker, denn er bezweifelte nicht, dass Menschen im Alltag und in den Wissen-schaften Vieles objektiv erkennen und wissen können. Aber er benutzte den skeptischen Zweifel an allen Wahr-heitsansprüchen, um naturwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Einsichten radikal zu prüfen und so weit wie möglich in evidenter Erfahrung und in logisch geprüfter Rationalität zu fundieren. Dieser methodische Zweifel ist immer noch eine große Herausforderung für philosophisches Denken und daher bis heute anregend und inspirierend. Manche seiner philosophischen Überzeugungen und Überlegungen haben in jüngerer Zeit auch den Linguisten Noam Chomsky, den Philosophen Hilary Putnam und den Kognitionsforscher Steven Pinker inspiriert.

 

Im Fokus der zeitgenössischen Kritik steht hingegen meistens Descartes' spekulativer Substanz-Dualismus von einem sterblichen Körper und einer unsterblichen Geist-Seele, sein ontologischer Gottesbeweis, seine Überzeugung, dass es angeborene Ideen gibt, sein mechanistisches Modell vom menschlichen Körper als einer Art von natürlicher Maschine und sein mechanistisches Verständnis von Tieren als natürlichen Automaten ohne Bewußtsein und ohne Kognition.

 

Descartes' spekulativer Substanz-Dualismus basierte jedoch auf einem empirischen Eigenschafts-Dualismus der ontologischen Differenz zwischen psychischen und physischen Eigenschaften von intelligenten Lebewesen, der immer noch von vielen Philosophen wie David Chalmers, Thomas Nagel, John Searle und Keith Ward verteidigt wird. Diesen Eigenschafts-Dualismus kann man mit Hilfe des methodischen Zweifels, mit sinnlichen und logischen Gewissheiten und Gedankenexperimenten begründen. Denn der methodische Zweifel ermöglicht es, unter unzähligen lebensweltlichen, wissenschaftlichen und philosophischen Überzeugungen einige Einsichten zu entdecken, die so evident und rational sind, dass sie nicht mehr sinnvoll bezweifelt oder gar geleugnet werden können.

 

Zum harten Kern dieser evidenten und rationalen Einsichten gehören außer einigen einfachen logischen und mathematischen Prinzipien und Gleichungen auch der empirische Eigenschafts-Dualismus selbst. Dieser be-hauptet, dass psychische Fähigkeiten und Phänomene (1.) vom physischen Organismus, Gehirn und Nerven-system ontologisch verschieden sind, zwar (2.) vom physischen Organismus, Gehirn und Nervensystem funktional abhängen, aber (3.) nicht auf bio-chemische oder neuronale Prozesse im physischen Organismus, Gehirn und Nervensystem reduziert werden können und dennnoch (4.) mit dem physischen Organismus, Gehirn und Nervensystem kausal interagieren. Aufgrund ihrer intuitiven Evidenz und ihrer rationalen Plausibilität sind diese dualistischen Auffassungen den entgegengesetzten Auffassungen des monistischen Naturalismus, des neuro-wissenschaftlichen Reduktionismus, des psychologischen Epiphänomenalismus und des harten Determinismus überlegen.

 

Obwohl Descartes' spekulativer Substanz-Dualismus, sein allzu mechanistisches Verständnis vom menschlichen Organismus und sein mechanistisches Verständnis von Tieren als Automaten ohne Bewußtsein und ohne Kognition nicht mehr haltbar sind, sind sein kritischer Realismus, sein anthropologischer Personalismus von der Einheit von Leib, Seele und Geist und seine methodische Fundierung des Erkennens und Wissens im mensch-lichen Selbstbewusstsein nicht nur intuitiv evident, sondern auch rational plausibel. Diese cartesischen Auffas-sungen sprechen jedenfalls gegen Neurowissenschaftler, die vorschnell behaupten, dass die Resultate ihrer empirischen Forschungen nur mit einem psychologischen Epiphänomenalismus, mit einem neurowissenschaft-lichen Reduktionismus und mit einem harten Determinismus vereinbar wären.

 




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Andreas Kemmerling, Descartes über das Bewußtsein
Studia philosophica 55 /1996
Kemmerling,Descartes Bewusstsein.pdf
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