Das große Ziel Reids ist es, »die Philosophie mit den notwendigen Überzeugungen der Menschheit zu versöhnen« (William Hamilton). Daß es dieser Bestrebung bedarf, liegt an
einer Fehlentwicklung des neuzeitlichen Denkens, deren Diagnose und Therapie Reid sich selbst als bleibendes Verdienst zurechnet. Kernstück des zur herrschenden Doktrin avancierten
Systems von Descartes ist nach Reid die »Theorie der Ideen«, die besagt, daß geistige Entitäten – Ideen –
die unmittelbaren Objekte des Denkens sind. Unsere Ideen, so Locke, »sind nichts anderes als aktuelle Wahrnehmungen im Geist, die aufhören, irgend etwas zu sein, sobald sie nicht mehr
wahrgenommen werden.« Ideen existieren demnach nur »in the mind«, in mentaler Präsenz. Zugleich fungieren sie als Stellvertreter, »Abbilder« der an sich epistemisch
unzugänglichen physischen Dinge und sind dazu bestimmt, diese zu repräsentieren. So nehmen wir, wenn wir einen Baum wahrnehmen, unmittelbar nicht den Baum, sondern eine Idee von ihm wahr,
die zu dem Baum, wenn es ihn gibt, in Ähnlichkeitsrelation steht. Vom Dasein und Sosein der Idee muß auf das Dasein und Sosein des Dinges geschlossen werden. Reid kritisiert die Theorie,
daß geistige Operationen wie Wahrnehmen und Sicherinnern eigentümliche inter-mediäre geistige Objekte hätten, im gleichen Tenor wie hundertfünfzig Jahre später Bertrand Russell, der die
Ideen als »Vorhang zwischen uns und den Dingen außer uns« bezeichnet; »wir erreichen in Wirklichkeit in der Erkenntnis nie die Dinge, die wir angeblich erkennen, sondern nur die Ideen
dieser Dinge.«
Daß die Theorie der Ideen skeptizistische Konsequenzen hat, ist einer der beiden Hauptgründe, aus denen Reid sie verwirft. Historische Gerechtigkeit war seine Sache
freilich nicht. Und so übergeht er die Tatsache mit Stillschweigen,
daß der Zusammenhang zwischen Ideentheorie und Erkenntnisskepsis seit langem bekannt war. Schon Locke hat die Frage aufgeworfen, wie der Geist, wenn er lediglich seine
eigenen Ideen wahrnimmt, erkennen kann, ob diese mit den Dingen selbst übereinstimmen. Es liegt auf der Hand, daß die so gestellte Adäquationsfrage nicht beantwortbar ist,
weil es für den in seinen Ideen befangenen Geist (bildlich gesprochen) keinen Ort gibt, von wo aus er – unbefangen – »seine« Ideen mit Dingen, die nicht »seine« Ideen sind, vergleichen
und Bestehen oder Nichtbestehen einer wie auch immer gearteten Relation zwischen ihnen feststellen kann. George Berkeley schließlich attackiert den Dualismus von Ideen
»within« und materiellen Dingen »without the mind« mit ebendem Argument, daß, wenn Ideen als Abbilder an sich bestehender externer Dinge aufgefaßt werden, wir nie sicher sein können, daß
sie die Dinge adäquat abbilden und nicht »bloße Phantome« und »eitle Chimären« sind. Kein Zweifel, daß Reid manchmal um des polemischen Effekts willen unter sein Niveau geht. So hält er,
fraglos wider besseres Wissen, Berkeley gegenüber an dem unsinnigen Einwand fest, wer die Existenz der Materie bestreite, vermöge zwischen Hirngespinst und Realität nicht zu unterscheiden
und müsse daher, wenn er seinen eigenen Grundsätzen Glauben schenkt, mit dem Kopf gegen die Wand rennen oder sonst ein aberwitziges, die Naturgesetze verleugnendes Verhalten an den Tag
legen.
Reid lehnt die Theorie der Ideen ferner ab, weil sie nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit eine bloße Hypothese ist. Ideen sind Fiktionen; es gibt sie nicht. Zur Annahme ihrer Existenz
haben sich die Philosophen in erster Linie durch die Sprache verleiten lassen, die zwischen Empfindungs- und Wahrnehmungsaussagen, zwischen »ich fühle einen Schmerz« und »ich sehe einen
Baum« keinen grammatischen Unterschied macht. Nun ist der wahrgenommene Baum als physi-scher Gegenstand etwas von meiner Baumwahrnehmung Verschiedenes. Also müsse, so meint man, auch der
Schmerz als mentales Objekt vom Akt des Fühlens verschieden sein. Das ist das Proton pseudos der Theorie. In Wirklichkeit sind der Akt des Empfindens und der empfundene Schmerz
eins. »Wie der Ausdruck einen Gedanken denkenˆ nicht mehr bedeutet als denkenˆ, so bedeutet ich fühle einen Schmerzˆ nichts anderes als es tut mir wehˆ (being pained). Was wir
vom Schmerz gesagt haben, gilt von jeder Empfindung als solcher.« Reid unterscheidet scharf zwischen Sinnesempfin-dung (sensation) und Wahrnehmung (perception). Auf
dieser Unterscheidung basiert zum einen seine Kritik an Berkeleys Ideenmonismus; zum anderen ist sie das Kernstück seines eigenen erkenntnistheoretischen direkten Realismus. Berke-ley
setzt voraus, daß Wahrnehmung in nichts anderem besteht als im Haben von Sinnesempfindungen, die »in the mind« sind und für die »esse est percipi« gilt; physische Gegenstände
sind geordnete Empfindungskomplexe. Nach Reid erfüllen unsere Sinne eine doppelte Funktion: Sie versehen uns mit verschiedenartigen Empfindungen; gleichzeitig gewinnen wir durch sie etwas
kategorial anderes als Empfindungen, nämlich die Vorstellung der Existenz äußerer Objekte und den unerschütterlichen Glauben daran.