Sprache, Denken und Verstehen

 

 

Schimpansen können ähnlich wie Hunde behavioral trainiert werden, ein bestimmtes einfaches zweckrationales Ver-halten als Reaktion auf bestimmte Situationen oder auf bestimmte Signale zu vollziehen, wenn sie daran spielerisch Gefallen finden oder dafür bestimmte Belohnungen erwarten. Aber sie können weder Brettspiele wie Schach, Mühle oder Dame spielen lernen, weil sie die Spielsteine nur als einfache Gegenstände auf dem Brett wahrnehmen können, aber nicht die verschiedenen Farben und Funktionen unterscheiden und die dazu gehörigen Regeln für ihre möglichen Züge (gebotene, verbotene und erlaubte Züge) verstehen könnten. Aus ähnlichen Gründen können sie auch nicht  menschliche Kartenspiele wie Canasta, Poker oder Skat spielen lernen. Dazu fehlt ihnen nicht nur eine menschliche Sprache oder eine quasi-menschliche Schimpansensprache, sondern vor allem das Denkvermögen bzw. die kognitiven Kompetenzen zur Ostension, Individuation und Abstraktion, Klassifikation und Subsumption.

 

Schimpansen können also nicht Denken im Sinne des kognitiven Lösens von komplexen Problemen, wie sie in einem für Menschen bestimmten Intelligenztest vorkommen. Zwar wird in populärwissenschaftlichen Dokumentationen immer wieder suggeriert, dass Schimpansen, Delphine, Hunde oder Raben über eine menschenähnliche Intelligenz und eine sprachliche Kommunikation verfügen würden. Aber dabei werden meistens die erheblichen kognitiven Differenzen in der Leistungsfähigkeit heruntergespielt, um eine gewisse populäre Wirkung zu erzielen. Denn Schimpansen, Delphine, Hunde oder Raben können weder die dabei verwendeten Reihen von Zeichen (Semiotik) noch die von Situationen unabhängigen Aufgabenstellungen (Problematik) verstehen. Daher können sie auch keine komplizierte menschliche Sprache mit situationsunabhängigen Bedeutungen (Semantik), mit einer komplizierten Grammatik (Syntax) und einem kulturbedingten Situationswissen (Pragmatik) erlernen.

 

Gleichwohl ist Denken sowohl phylogenetisch in der evolutionären Entwicklung der Intelligenz der Primaten und der Menschen als auch genealogisch in der Entwicklung der Intelligenz der Kinder zeitlich und funktional vorrangig. Denn ohne eine angeborene und genetisch fixierte vorsprachliche Intelligenz hätten Frühmenschen in der Evolution keine menschlichen Sprachen entwickeln können. Und ohne eine angeborene und genetisch fixierte vorsprachliche Intelligenz können Kinder nicht ihre erste(n) Sprache(n) erlernen. Ein allen genetisch gesunden Kindern angeborener Sprachinstinkt und emergierende kognitive Kompetenzen entstehen in gewissen Zeitfenstern, um eine erste Sprache oder zwei erste Sprachen zu erlernen.

 

Vereinfacht gesagt: Zuerst kommt das Denken, dann erst kommt die Sprache. Es war ein schwerer Fehler der sog. Analytischen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts, das für mehrere Jahrzehnte übersehen zu haben. Erst mit dem Entstehen der empirischen Kognitionsforschung und der Psycholinguistik haben manche Sprachphilosophen endlich angefangen, ihr gemeinsames Dogma vom Primat der Sprache aufzugeben und zu überwinden.

 

Weil ein rudimentäres Denkvermögen vor der Sprache da sein muss, um sie lernen zu können, sich aber dann auch erst mit der Sprache entwickeln kann, ist das menschliche Denkvermögen grundlegender und einheitlicher als die vielen unterschiedlichen Sprachen. Menschen können zumindest viele Situationen als solche wahrnehmen und manche praktischen Probleme und Ziele verstehen und gemeinsam an Mitteln und Wegen zu Lösungen arbeiten, obwohl sie keine gemeinsame Sprache sprechen oder zumindest die ortsübliche Sprache nicht gut passiv verstehen und noch weniger aktiv sprechen.

 

Aber das gilt leider nur für konkrete Situationen und praktische Probleme. Das gilt nicht für das Verstehen und die Handlungskompetenz in vielen Wissenschaften und Künsten, für das Verstehen und den praktischen Umgang mit den parochialen Sitten und mit dem regionalen und nationalen Recht, für effektives, kluges und faires Handeln in der Ökonomie, für zweckmäßiges, angemessenes und ethisches Handeln im komplizierten Medizinwesen und für zweck-mäßiges, angemessenes und ethisches Handeln in der institutionalisierten Politik, wo es aus sachlichen Gründen immer auch praktisch notwendig ist, abstraktere Begriffe zu verstehen, die man nur durch eine sehr gute Kenntnis der Landes-sprache(n) und sogar durch eine Kenntnis der professionellen Fachsprachen erlernen kann.

 

Das bedeutet, dass es ohne schulische Ausbildung und ohne berufliche bzw. akademische Bildung nicht gelingen kann, solche Sprachbarrieren zu überwinden. Was die Probleme der Integration von Asylbewerbern und Einwanderen angeht, gelingt das erfahrungsgemäß oft erst in der zweiten und dritten Generation. Diesbezüglich sollte man sich trotz eines guten Willens zur Integration keine Illusionen machen.

 



 

Kann man ohne Sprache denken?

 

Gábor Paál in SWR Wissen am 19.05.2020

 

Urmenschen: Faustkeil und Jagd erfordern Denkvermögen

 

Es ist keine Frage, ob, sondern was man ohne Sprache denken kann. Wenn wir in der Menschheitsgeschichte zurück-gehen, dann hat sich Sprache, wie wir sie heute kennen, frühestens vor etwa 200.000 Jahren entwickelt. Da waren unsere direkten Vorfahren noch alle in Afrika; und in Europa waren schon die frühen Neandertaler unterwegs.

 

Aber bereits Millionen Jahre vorher haben die Urmenschen Werkzeuge benutzt, die sie selber hergestellt haben, allen voran natürlich die Faustkeile. Um einen Faustkeil herzustellen, muss man schon ein bisschen was denken. Die frühen Menschen haben auch schon in Gruppen Tiere gejagt. Auch dabei mussten sie systematisch vorgehen; das erfordert ebenfalls Denken.

 

Auch Babys denken. Aber was genau?

 

Man kann sich der Frage nähern, wenn man sich statt der frühen Menschheit die frühe Kindheit ansieht: Wir alle würden vermutlich einem kleinen Baby, auch wenn es erst ein paar Monate alt ist und nicht sprechen kann, zubilligen, dass es irgendetwas denkt; dass irgendetwas in seinem Kopf vorgeht. Die Frage ist eben: Was?

 

Schnürsenkel binden: erfordert Grips, aber keine Sprache

 

Oder betrachten wir uns einmal selbst: Was denken wir denn so den lieben langen Tag lang? Wir denken viel in Bildern und Vorstellungen, die eigentlich keine Sprache benötigen. Wenn Sie an Ihren Urlaub zurückdenken, werden Sie das nicht in Worten tun, sondern in Bildern. Es gibt auch komplizierte Gedanken, bei denen die Sprache herzlich wenig taugt. Das wird schnell klar, wenn Sie sich vorstellen, Sie müssten jemandem nur mit Worten erklären, wie man einen Schnür-senkel bindet oder wie man auf dem Fahrrad das Gleichgewicht hält. Solche Dinge erfordern Grips, aber nicht unbedingt Sprache.

 

Die hohe Form der Abstraktion

 

Andererseits gibt es natürlich bestimmte Formen des Denkens, bestimmte kognitive Leistungen, die ganz klar an Sprache gebunden sind. Das betrifft alles Abstrakte, alles, was man eben nicht in Bildern denken kann, und damit natürlich auch einen großen Teil von wissenschaftlichem Denken.

 

Wir können also davon ausgehen, dass kleine Kinder auch ohne Sprache eine Art intuitive Physik haben: Sie wissen und lernen zu verstehen, dass ein Schnuller, den man loslässt, auf den Boden fällt. Dazu brauchen sie keine Sprache. Sprache ist aber nötig, um aus diesem oder ähnlichen Vorgängen eine Gravitationskraft oder etwas noch Komplizierteres wie einen Energieerhaltungssatz abzuleiten. Denn Wörter wie Kraft und Energie sind hochabstrakte Begriffe. Abstrakt heißt dabei: Wir stellen Analogien her. Und da hilft uns die Sprache ganz wesentlich, indem sie uns die Möglichkeit gibt, z.T. ganz unterschiedliche Phänomene wie heißes Wasser oder die Bewegung von Körpern mit den gleichen Begriffen zu beschreiben – in dem Fall "Energie" – und auf diese Weise Beziehungen zwischen Dingen herzustellen, die wir sonst nie in Verbindung bringen würden. Das ist die hohe Form der Abstraktion.

 

Bildliche Verneinung eines Sachverhalts ist nicht vorstellbar

 

Man kann aber auch viel einfacher bei der ganz elementaren Logik ansetzen. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich folgenden Satz vor Ihrem geistigen Auge vor: "Ich fahre heute nicht mit dem Auto zur Arbeit." Was sehen sie vor ihren Augen? Vermutlich sich selbst, wie Sie mit dem Auto zur Arbeit fahren. Wir können uns einen Sachverhalt bildlich vorstellen, aber wir können uns nicht die Verneinung eines Sachverhalts vorstellen. D.h. um so einen einfachen logischen Vorgang wie Negation "denken" zu können, scheinen wir die Sprache dann doch zu gebrauchen.

 

 https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/gesundheit/kann-man-ohne-sprache-denken-100.html