Rolle der USA im Ukrainekrieg

 

 

Welche Rolle spielen die USA?

 

Russland hat den Krieg begonnen, doch die USA haben dazu beigetragen, diesen Konflikt in einen potenziellen Weltenbrand zu verwandeln, analysiert Christopher Caldwell in der New York Times. Der Autor mehrerer Bücher zur Geschichte Amerikas fürchtet, dass Europa unter Führung der USA in einen Weltkrieg „schlafwandeln“ könnte. Und er fragt: Haben die USA überhaupt ein Interesse, den Krieg schnell zu beenden?

 

Christopher Caldwell in der Emma vom 3. Juni 2022  

 

In der Pariser Tageszeitung Le Figaro warnte Henri Guaino, ein Top-Berater von Nicolas Sarkozy während dessen Amtszeit als französischer Präsident, dass die europäischen Länder unter der Führung der Vereinigten Staaten in

einen Krieg mit Russland "schlafwandeln" würden. Guaino lehnte sich dabei an eine Metapher an, die der Historiker Christopher Clark verwendet hat, um die Entstehung des Ersten Weltkriegs zu beschreiben.

 

Natürlich weiß Guaino, dass Russland die Hauptschuld am derzeitigen Konflikt in der Ukraine trägt. Es war Russland,

das im letzten Herbst und Winter seine Truppen an der Grenze aufmarschieren ließ und - nachdem es von der NATO eine Reihe von Sicherheitsgarantien in Bezug auf die Ukraine gefordert hatte, die diese ablehnte - am 24. Februar mit dem Beschuss und dem Töten begann.

 

Die Vereinigten Staaten haben jedoch dazu beigetragen, diesen tragischen lokalen Konflikt in einen potenziellen Weltenbrand zu verwandeln. Indem der Westen - angeführt von der Regierung Biden - die Logik des Krieges miss-verstanden hat, so Guaino, hat er dem Konflikt eine Dynamik verliehen, die möglicherweise nicht mehr zu stoppen ist. Damit hat er Recht.

 

Die USA unterstützten 2014 den Aufstand gegen den pro-russischen Präsidenten

 

Im Jahr 2014 unterstützten die Vereinigten Staaten einen Aufstand - in seiner letzten Phase einen gewaltsamen Aufstand - gegen die rechtmäßig gewählte ukrainische Regierung von Viktor Janukowitsch, die pro-russisch war. (Die Korruption der Regierung Janukowitsch wurde von den Befürwortern des Aufstandes häufig angeführt, aber Korruption ist auch heute noch ein ständiges Problem in der Ukraine). Im Gegenzug annektierte Russland die Krim, einen historisch russischsprachigen Teil der Ukraine, der seit dem 18. Jahrhundert Standort der russischen Schwarzmeerflotte ist.

Über die russischen Ansprüche auf die Krim kann man streiten, aber die Russen nehmen sie ernst. Hunderttausende russische und sowjetische Kämpfer starben bei der Verteidigung der Krimstadt Sewastopol gegen europäische Truppen während zweier Belagerungen - einer während des Krimkriegs und einer während des Zweiten Weltkriegs. In den letzten Jahren schien die russische Kontrolle über die Krim ein stabiles regionales Arrangement zu bieten: Zumindest

die europäischen Nachbarn Russlands haben schlafende Hunde ruhen lassen.

 

Doch die Vereinigten Staaten haben dieses Arrangement nie akzeptiert. Am 10. November 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine eine "Charta der strategischen Partnerschaft", in der sie den Beitritt der Ukraine zur NATO forderten, die "anhaltende russische Aggression" verurteilten und ein "unerschütterliches Engagement" für die Wiedereingliederung der Krim in die Ukraine bekräftigten. Diese Charta "überzeugte Russland davon, dass es

angreifen muss oder angegriffen wird", schrieb Guaino. "Es ist erschreckend genau der Prozess, der sich 1914 in

seiner Unausweichlichkeit abgespielt hat.“

 

2014 hatte die Ukraine kaum modernes Militär, dann begannen die USA mit der Bewaffnung

 

Dies entspricht der Darstellung des Krieges, den Präsident Wladimir Putin zu führen behauptet. "Es gab ständigen Nachschub an modernster militärischer Ausrüstung", sagte Putin bei der jährlichen russischen Siegesparade am 9. Mai und bezog sich dabei auf die Bewaffnung der Ukraine durch das Ausland. "Die Gefahr wuchs jeden Tag." Ob er sich zu Recht um die Sicherheit Russlands sorgte, hängt von der jeweiligen Perspektive ab. Der Westen neigt jedenfalls dazu, diese Sorge kleinzureden.

 

Der bisherige Verlauf des Krieges in der Ukraine rechtfertigt Putins Diagnose, wenn auch nicht sein Verhalten. Obwohl die ukrainische Rüstungsindustrie zu Sowjetzeiten wichtig war, verfügte das Land 2014 kaum noch über ein modernes Militär. Nicht der Staat, sondern Oligarchen bewaffneten und finanzierten einige der Milizen, die gegen die von Russland unterstützten Separatisten im Osten kämpfen sollten.

 

Die Vereinigten Staaten begannen mit der Bewaffnung und Ausbildung des ukrainischen Militärs, zunächst zögerlich unter Präsident Barack Obama. Unter der Trump-Administration begann jedoch der Zustrom moderner Waffen, und heute ist das Land bis an die Zähne bewaffnet. Seit 2018 hat die Ukraine in den USA hergestellte Javelin-Panzerabwehr-raketen, tschechische Artillerie, türkische Bayraktar-Drohnen und andere NATO-kompatible Waffen erhalten. Die Vereinigten Staaten und Kanada haben in letzter Zeit moderne Haubitzen des Typs M777 britischer Bauart geliefert,

die GPS-gesteuerte Excalibur-Granaten abfeuern. Präsident Biden hat gerade ein Militärhilfepaket im Wert von 40 Milliarden Dollar unterzeichnet.

 

Henri Guaino hat Recht, wenn er den Westen der "Schlafwandelei" bezichtigt

 

Vor diesem Hintergrund ist der Spott über Russlands Leistungen auf dem Schlachtfeld unangebracht. Russland wird nicht von einem mutigen Agrarland in die Schranken gewiesen, sondern es behauptet sich, zumindest im Moment, gegen die modernen Wirtschafts-, Cyber- und Gefechtsfeldwaffen der NATO.

 

Und hier hat Guaino Recht, wenn er den Westen der Schlafwandelei bezichtigt. Die Vereinigten Staaten versuchen die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass die Bewaffnung ihrer Verbündeten nicht dasselbe ist wie die Teilnahme an einem Kampf.

 

Im Informationszeitalter wird diese Unterscheidung immer künstlicher. Die Vereinigten Staaten haben Geheimdienst-informationen geliefert, die zur Tötung russischer Generäle verwendet wurden. Sie lieferten Zielinformationen, die

dazu beitrugen, den russischen Schwarzmeer-Raketenkreuzer Moskva zu versenken, bei dem etwa 40 Seeleute getötet wurden.

 

Und die Vereinigten Staaten spielen möglicherweise eine noch direktere Rolle. Es gibt Tausende von ausländischen Kämpfern in der Ukraine. Ein Freiwilliger sprach im Mai gegenüber der Canadian Broadcasting Corporation davon, dass er an der Seite von "Freunden" kämpft, die "von den Marines und aus den USA kommen". So wie es leicht ist, die Grenze zwischen Waffenlieferanten und Kämpfern zu überschreiten, ist es auch leicht, die Grenze zwischen einem Stellvertreter-krieg und einem geheimen Krieg (Secret War) zu überschreiten.

 

Wenn größere Waffen nicht abschrecken, dann führen sie zu größeren Kriegen

 

Ein Land, das versucht, einen solchen Krieg zu führen, läuft Gefahr, von einer teilweisen in eine vollständige Beteiligung hineingezogen zu werden. Vielleicht rechtfertigen amerikanische Kräfte den Waffenexport mit dem Argument: Sie sind so mächtig, dass sie abschreckend wirken. Das Geld ist gut angelegt, denn es kauft Frieden. Wenn größere Waffen jedoch nicht abschrecken, führen sie zu größeren Kriegen.

 

Bei der russischen Übernahme der Krim im Jahr 2014 starben eine Handvoll Menschen. Doch diesmal ist Russland waffentechnisch ebenbürtig - und in einigen Fällen sogar überlegen - und hat sich auf einen Bombenkrieg verlegt,

der eher an den Zweiten Weltkrieg erinnert.

 

Selbst wenn wir Putins Behauptung nicht akzeptieren, dass Amerikas Aufrüstung der Ukraine der Grund dafür sei,  

dass es überhaupt zum Krieg gekommen ist, so ist sie doch mit Sicherheit der Grund dafür, dass der Krieg die Form angenommen hat, die er hat.

 

Unsere Rolle dabei ist nicht passiv oder zufällig. Wir haben den Ukrainern Grund zu der Annahme gegeben, dass sie sich in einem Krieg der Eskalation durchsetzen können. Tausende von Ukrainern sind gestorben, was wahrscheinlich nicht passiert wäre, wenn die Vereinigten Staaten sich zurückgehalten hätten. Das kann natürlich bei den amerikanischen Entscheidungsträgern ein Gefühl der moralischen und politischen Verpflichtung hervorrufen, den Kurs beizubehalten, den Konflikt zu eskalieren.

 

Die USA haben gezeigt, dass sie die Tendenz haben, Konflikte zu eskalieren

 

Die Vereinigten Staaten haben gezeigt, dass sie die Tendenz zur Eskalation haben. Im März schwor Biden auf Gott,

bevor er darauf bestand, dass Putin "nicht an der Macht bleiben kann". Im April erklärte Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass die Vereinigten Staaten "Russland geschwächt sehen" wollen.

 

Noam Chomsky warnte in einem Interview im April vor den paradoxen Anreizen, die von solchen "heroischen Äuße-rungen" ausgehen. "Sie mögen sich wie Winston Churchill-Imitationen anfühlen, sehr aufregend", sagte er. "Aber was

sie bedeuten, ist: Zerstörung der Ukraine."

 

Die Lage auf dem Schlachtfeld in der Ukraine ist jetzt in einem gefährlichen Stadium. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben schwere Verluste erlitten. Aber beide haben auch Gewinne gemacht. Russland hat eine Landbrücke zur Krim und die Kontrolle über einige der fruchtbarsten landwirtschaftlichen Flächen und Energievorkommen der Ukraine, in den letzten Tagen hat es die Oberhand auf dem Schlachtfeld gewonnen. Die Ukraine kann nach der Verteidigung ihrer Städte mit weiterer Unterstützung, Know-how und Waffen der NATO rechnen - ein starker Anreiz, den Krieg nicht so bald zu beenden.

 

Keine Zugeständnisse an Russland zu machen, hieße, sich dem Wahnsinn zu beugen

 

Aber wenn der Krieg nicht bald beendet wird, werden die Gefahren zunehmen. "Die Verhandlungen müssen in den nächsten zwei Monaten beginnen", warnte der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger letzte Woche, "bevor es

zu Verwerfungen und Spannungen kommt, die kaum noch zu überwinden sind." Er forderte eine Rückkehr zum Status quo ante bellum und fügte hinzu: "Wenn der Krieg über diesen Punkt hinaus fortgesetzt würde, ginge es nicht um die Freiheit der Ukraine, sondern um einen neuen Krieg gegen Russland selbst."

 

In diesem Punkt ist Kissinger auf derselben Seite wie Guaino. "Zugeständnisse an Russland zu machen, hieße, sich

einer Aggression zu beugen", warnte Guaino. "Keine Zugeständnisse zu machen, hieße, sich dem Wahnsinn zu beugen.“

Die Vereinigten Staaten machen keine Zugeständnisse. Das würde bedeuten, das Gesicht zu verlieren. Es stehen Wahlen an. Die Regierung versperrt also die Verhandlungswege und arbeitet an der Verschärfung des Krieges. Wir sind dabei, um ihn zu gewinnen. Mit der Zeit könnte die enorme Einfuhr tödlicher Waffen, einschließlich derer aus den neu bewilligten 40 Milliarden Dollar, den Krieg auf eine andere Ebene bringen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky warnte im Mai in einer Rede vor Studenten, dass die blutigsten Tage des Krieges noch bevorstünden.

 

CHRiSTOPHER CALDWELL

 

Der Autor ist Journalist und Verfasser der Bücher "The Age of Entitlement: America Since the Sixties" und "Reflections on the Revolution in Europe: Immigration, Islam and the West". Sein Text erschien zuerst in der New York Times.

 

https://www.emma.de/artikel/ukraine-krieg-welche-rolle-spielen-die-usa-339533

 


 

Neuer Kriegsplan, neues Kommando

 

Russlands Kriegsplan war von Anfang an fehlerhaft. Nachdem selbst ein enger Verbündeter Putins dessen Strategie öffentlich kritisierte, hat der russische Präsident den zuständigen Militärbefehlshaber durch General Sergej Surowikin ersetzt. Doch das neue Kommando und der neue Kriegsplan ändern nichts daran, dass die USA die Kontrolle über den Verlauf des Ukraine-Krieges haben.

 

VON GEORGE FRIEDMAN am 12. Oktober 2022 in CICERO ONLINE

 

Vor einigen Tagen beschloss der russische Präsident Wladimir Putin, den für den Ukraine-Krieg zuständigen Militär-befehlshaber durch General Sergej Surowikin zu ersetzen – und damit die militärische Kultur des Konflikts selbst zu verändern. Das war ein wichtiger Schritt, aber nicht unbedingt aus den Gründen, die von den meisten Medien genannt wurden. Er erfolgte, nachdem die Ukraine, die in erster Linie von den Vereinigten Staaten bewaffnet wurde, die Initiative auf dem ukrainischen Schlachtfeld ergriffen hatte. Putins Glaubwürdigkeit stand auf dem Spiel, und zwar selbst bei den vermeintlichen Kriegsbefürwortern, die nun begannen, seine Leistung zu kritisieren.

 

Der Ursprung der Kritik ist wichtig. Einer der lautesten Kritiker der russischen Strategie in der Ukraine ist Ramsan Ka-dyrow, Putins langjähriger Funktionär, der auf dessen Geheiß mit äußerster Brutalität den Aufstand in Tschetschenien unter Kontrolle hielt. Sowohl Kadyrow als auch Putin waren bestrebt, die Zersplitterung Russlands aufzuhalten und das zurückzugewinnen, was noch zu retten war.

 

Russlands Kriegsplan war fehlerhaft

 

Kadyrow unterstützte die Invasion in der Ukraine, war aber entsetzt über die Schwäche der russischen Armee, ins-besondere ihres Oberkommandos. Aus seiner Sicht war eine rücksichtslose Operation gegen die ukrainische Öffent-lichkeit und das ukrainische Militär erforderlich – mit anderen Worten: ein Krieg nach tschetschenischem Vorbild. Ein treuer Verbündeter Putins hat also öffentlich die Inkompetenz und Schwäche der russischen Armee angeprangert,

um dann einen neuen Kommandeur zu ernennen.

 

Kommandeure, die bei Übungen und Stabssitzungen gut aussehen, versagen manchmal im Kampf. Mitunter ist es entscheidend, einen Kommandeur zu ersetzen, egal unter welchen Umständen. Das kommt immer wieder vor. Es ist

seit einiger Zeit klar, dass Russlands Kriegsplan von Anfang an fehlerhaft war. Ein neuer Kriegsplan erfordert ein neues Kommando. Der neue Befehlshaber hat sofort ein Sperrfeuer von Raketen auf die Ukraine angeordnet.

 

Im Krieg geht es darum, den Widerstandswillen des Feindes zu brechen; ein rücksichtsloser Angriff, bei dem alles als mögliches Ziel angesehen wird, ist der erste Schritt. Der zweite Schritt besteht darin, den russischen Soldaten klar zu machen, dass sie extrem gefährdet sind, wenn sie auf dem Schlachtfeld versagen. Moral und Motivation sind wichtig, aber sie funktionieren nicht, wenn die Armee schlecht ausgerüstet ist oder die Soldaten schlecht ausgebildet sind.

Der Abschuss von Raketen ist also ein Signal für die Zukunft, aber die russischen Militärpläne werden nicht nur dann aufgehen, wenn die Truppen Angst vor ihren Befehlshabern haben. Sie setzen eine gute Ausbildung auf allen Ebenen voraus, mit geeigneten Waffen und anderen Instrumenten der modernen Kriegsführung. Beides aber braucht Zeit.

Ein rechtzeitiges Raketensperrfeuer kann in dieser Hinsicht ein bisschen helfen.

 

Grausamkeit als Grundlage für Einigung

 

Um mehr Zeit zu gewinnen, würde ein Angriff von der Peripherie aus noch mehr helfen. So gibt es Berichte über russische Streitkräfte in Weißrussland und Gerüchte, dass sich die weißrussische Armee auf den Krieg vorbereitet.

Sollte dies zutreffen, könnte ein Vorstoß von Weißrussland aus in Richtung Süden durchaus dabei helfen, Zeit zu gewinnen. Er würde die Ukraine dazu zwingen, sich an einer anderen Front zu verteidigen, und er würde die ukraini-

sche Versorgungslinie von Polen aus bedrohen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Es ist unklar, ob Weiß-

russland in der Lage ist, einen Krieg mit hoher Intensität zu führen, und allein schon die Verlegung russischer

Truppen dorthin ist schwierig.

 

Ein Angriff an der Peripherie wäre vielleicht möglich gewesen, bevor die ukrainische Armee kampferprobt war und bevor die USA damit begannen, massenhaft Waffen an Kiew zu liefern. Auch ein Friedensvertrag wäre vielleicht mög-

lich gewesen – wenn jemand ernsthaft daran interessiert gewesen wäre. Nichts davon ist aber möglich, wenn Russland nach seinen eigenen Maßstäben schwach ist. Ein Raketenbeschuss in Verbindung mit dem wiederaufgebauten russi-schen Militär soll Russland wahrscheinlich ein Druckmittel in die Hand geben, das es vorher nicht hatte. Die einstu-

dierte Grausamkeit des neuen Befehlshabers könnte theoretisch eine Grundlage für eine Einigung schaffen.

 

Die USA dominieren

 

Letztlich haben die USA die Kontrolle über den Verlauf des Krieges in der Ukraine, und daher ist die Ukraine eine Geisel amerikanischer Interessen. Da für die Ukraine jedoch Menschenleben auf dem Spiel stehen, kann sie den Krieg nicht so lange und so intensiv führen. Das amerikanische Ziel ist es, die russischen Streitkräfte so weit wie möglich nach Osten und damit von der Nato fernzuhalten. Das russische Ziel ist es, die gesamte Ukraine zurückzuerobern. Ein Fortschritt in diesem Konflikt hängt also bis zu einem gewissen Grad davon ab, wie glaubwürdig die neue russische Militärführung

ist und wie sie die vorhandenen Truppen motivieren kann, während sie im Frühjahr eine neue Truppe aufbaut.

 

Bis dahin müssen sie zeigen, dass die Soldaten, die bereits vor Ort sind, ernst zu nehmen sind, und dass noch Schlim-meres bevorstehen könnte. Sie müssen den Ukrainern und Amerikanern Angst einjagen. Nächstes Mal reicht die Kritik von jemandem wie Kadyrow vielleicht nicht mehr aus. Die Produktion von Waffen ist die Grundlage dieses Krieges,

und die USA dominieren die Produktion. Wenn Russland da nicht schnell mithalten kann, muss es einige Zugeständ-nisse machen, möglicherweise sogar große. Das ist das Problem, mit dem das neue Kommando sich auseinander-zusetzen hat. (In Kooperation mit GPF)

 

AUTORENINFO

 

George Friedman, 73, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm ge-gründete Denkfabrik Geopolitical Futures (GPF) und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

 

General Sergej Surowikin - Neuer Kriegsplan, neues Kommando | Cicero Online

 


 

Wird in der Ukraine wirklich "unsere Freiheit"  verteidigt?

 

In der Ukraine wird so wenig "unsere Freiheit" verteidigt wie zuvor am Hindukusch. Das ist nur eine ideologische Phrase und eine Flucht in die gerade in Berlin und Brüssel angesagte politische Rhetorik. Die meisten US-amerikanischen Politiker lieben diese vereinfachende Freiheitsrhetorik und deutsche Politikerinnen wie Annalena Baerbock (Grüne), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Ursula von der Leyen (CDU) gefallen sich dabei, diese ideologischen Phrasen zu übernehmen und in die Talkshows hineinzutragen.

 

Die Ukrainer verteidigen vielmehr sich selbst, ihr Land und ihre Leute, ihre Städte und Dörfer, ihre Familien und ihre Nachbarn, ihr Leben und ihre Zukunft, ihre Selbstbestimmung und ihre ukrainische Identität. Sie verteidigen sie gegen einen ungerechtfertigten und zerstörerischen Angriffskrieg, der darauf abzielt, die Ukraine zu vernichten. Ist das denn nicht genug, sein Leben zu verteidigen und zu erhalten zu versuchen? Muss es denn immer eine praktische Idee oder ein ideologisches Schlagwort sein, für das es sich zu kämpfen lohnt? Hat das Leben der Ukrainer denn gar keinen Wert?

 

In der Ukraine geht es dem Kreml zwar auch um die Abwehr von Demokratie und Menschenrechten, die für die Macht des Kremls und seiner Oligarchen gefährlich werden können, zugleich aber auch um die Erhaltung des hegemonialen Einflussbereiches von Russland. Der Kriegsverbrecher Putin träumt von der Wiederherstellung eines großrussischenn Reiches und rechtfertig damit seinen brutalen Angriffskrieg  mit nationalistischen Großmachtsträumen. Daher verbreitet seine Propagandamaschine, dass seine sog. "Spezialoperation" angeblich nur Faschisten in der Ukraine bekämpfe.

 

Aber in Wahrheit geht es wie in jedem Krieg primär um Macht über Land und Leute, Bodenschätze und Rohstoffe, Infrastrukturen und Mentalitäten, die dieser Machterhaltung oder Machterweiterung dienen. Daher muss man sich

die Frage stellen, wer an der Fortsetzung und Erhaltung dieses Krieges interessiert sein könnte und warum weder die deutsche Bundesregierung noch die Chefbürokraten in Brüssel noch die US-amerikanische Regierung alles daran setzen, dass dieser brutale Krieg mit schrecklichen Verlusten von Menschenleben auf beiden Seiten und mit einem schrecklichen Elend und sinnlosem Leid für die Soldaten und ihre Familien, für Ukrainer und Russen, für Hungernde

und Dürstende in vielen Ländern der Welt so schnell wie möglich beendet wird.

 

Könnte es sein, dass die Regierungen der USA seit etwa zwei Jahrzehnten ihren alten Erzfeind, die russische Regierung mit der NATO-Osterweiterung bewusst provoziert haben und auf Putins wiederhohlten Warnungen vor roten Linien nicht reagierten, obwohl auch Henry Kissinger davor um des Friedens willen gewarnt hatte? Könnte es nicht sein, dass die Regierungen der USA diesen Krieg in Europa sogar wollten und immer noch wollen, um Russland in die Knie zu zwingen, um eine deutsch-russische Partnerschaft zu verhindern? Könnte es nicht sogar sein, dass die amerikanische Regierung für ihre außenpolitischen Ziele sogar die Ukraine und die Ukrainer bewusst opfern, um von diesem Krieg in Europa als Hegemonialmacht zu profitieren?

 

Ist es denn bloß ein Zufall, dass die Regierung unter Joe Biden ausgerechnet jetzt ein Binnenwirtschaftsprogramm zur Stärkung des eigenen ökologischen Wirtschaftswandels auflegt? Das schadet dem momentan durch den Ukrainekrieg massiv geschwächten Europa und soll vermutlich verhindern, dass Europa auf diesem Gebiet weiter in Führung bleibt. Die USA sind harte wirtschaftliche Konkurrenten der Europäer und daher oft falsche Freunde und sie versuchen nicht nur durch diesen Wirtschaftskrieg, Deutschland, Frankreich und ganz Europa zu schwächen, sondern gehen dabei eiskalt das Risiko ein, dass dieser heiße Krieg in der Ukraine eskaliert, dass Deutschland und Europa hineingezogen werden, dass daraus ein Dritter Weltkrieg entsteht und dass Putins Regime dann entweder aus Verzweiflung oder aus Versehen dann doch noch Atomraketen auf Kiew und die Ukraine abfeuern. Von dem atomaren Ausfall wäre unter ungünstigen Umständen auch einige andere Länder in Europa betroffen, aber nicht die USA. 

 

Schließlich könnte bei einem Angriff der chinesischen Voksarmee auf Taiwan wegen der US-amerikanischen Sicherheits-garantien für die USA für Taiwan auch noch eine weitere Kriegsfront eröffnet werden. Dann wäre der Dritte Weltkrieg endgültig nicht mehr zu verhindern bis hin zu mehrfachen gegenseitigen Atomschlägen, die zum Untergang der ganzen Menschheit auf dieser Erde führen könnten. Es braucht viel Mut, um diese Möglichkeit zu erkennen und nicht länger zu verdrängen. Das ist ein Mut, den die meisten Menschen in Europa zur Zeit noch nicht aufbringen.

 

UWD - 06. Dezember 2022