Aufklärung über Aufklärung

Mendelssohn und Lavater bei den Lessings
Mendelssohn und Lavater bei den Lessings

 

 

Aufklärung über Aufklärung

 

In jüngster Zeit hört man von Politikern und Journalisten immer wieder gut gemeinte Appelle an den "Geist der Aufklärung" oder an die "Werte der Aufklärung". Angesichts eines alten, wieder aufkeimenden Nationalismus nicht nur in Europa, sondern auch in China, Brasilien, Russland und in den USA und angesichts autoritärer und totalitärer politischer Bewegungen, die die parlamentarische Demokratie und den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat infrage stellen, entsteht offenbar das nur allzu verständliche Bedürfnis, sich nicht nur ideologisch positionieren, sondern auch historisch in der eigenen Geschichte und Kultur verankern zu können.

 

Leider wird dabei jedoch selten klar, was man eigentlich mit dem "Geist der Aufklärung" oder mit den "Werten der Aufklärung" meint. Denn das Meiste, was im 18. Jahrhundert auch noch von vielen berühmten Philosophen und Theo-logen, öffentlichen Intellektuellen und Ideologen für selbstverständlich genommen wurde, wird doch im heutigen Europa nicht einmal mehr von (liberalen) Konservativen gefordert, sondern nur noch von einigen Reaktionären, wie z.B. die Todesstrafe und Sklaverei, überholte Begriffe von Rasse und Volksgeist, ein ausschließlich religiös fundiertes Naturrecht, eine absolute und nicht nur repräsentative Monarchie, Kriege zwischen den Armeen von Völkern und Fürstentümern oder vormoderne Formen der Republik ohne säkulare Rechtsstaatlichkeit.

 

Aufklärung ist immer dann notwendig, wenn in der Öffentlichkeit dumpfe Vorurteile dominieren, wenn mutmaßliche Wahrheiten verschleiert und wahrscheinliche Verbesserungen der Verhältnisse verhindert werden. Zu solchen dumpfen Vorurteilen gehören zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem rassistische und sexistische Vorurteile und abwertende Stereotype über bestimmte Ethnien, wie z.B. über Araber und Farbige, Latinos und Asiaten oder Sinti und Roma sowie Vorurteile über "alte weiße Männer", Ältere und Behinderte, Männer und Frauen, Schwule und Lesben und schließlich auch religiöse und anti-religiöse Vorurteile gegenüber Juden, Christen und Muslimen. Solche Vorurteile muss man auch dann nicht billigen oder billigend in Kauf nehmen, wenn man nicht mehr dem allzu optimistischen Fortschrittsglauben anhängt, dass sie eines schönen Tages ganz verschwinden werden.

 

1. Vorurteile über die Aufklärung

 

Nun gibt es jedoch auch Vorurteile über die Aufklärung selbst, und zwar sowohl über die geschichtliche Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert als auch über das wie intellektuelle Projekt der Aufklärung durch Philosophie und Wissenschaft. Aufklärung als intellektuelles Engagement ist aber immer auch dann notwendig, wenn in der Öffentlichkeit modische Schlagworte und leere Worthülsen verwendet werden, die ideologisch aufgeladen sind und kaum noch hinterfragt werden. Das gilt auch für die modische Verschlagwortung der Aufklärung selbst.

 

Die kultur- und geistesgeschichtliche Epoche der Aufklärung wird seit einigen Jahrzehnten von Historikern erforscht, die sich unter dem gemeinsamen Dach der International Society for Eighteenth-Century Studies (ISECS / SIEDS) in über 30 nationalen Gesellschaften zur Erforschung der Epoche der Aufklärung zusammengeschlossen haben. Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß (Universität Konstanz) hat vorgeschlagen, dass es in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte eigentlich drei geschichtliche Epochen der Aufklärung gegeben habe:

 

Die erste Epoche der Aufklärung stellt bereits die frühe klassische Periode der griechischen Philosophie dar, die Sokrates, Platon und Aristoteles eingeleitet haben. Durch sie wurden die frühe griechische Mythologie, der griechische Polytheismus und die vorsokratische Naturspekulation philosophisch infrage gestellt und schließlich überwunden. Zu dieser intellektuellen Errungenschaft haben später auch christliche Denker wie Augustinus oder Boethius beigetragen.

 

Die zweite Epoche der Aufklärung fand dann in der Renaissance statt, als Wissenschaft und Technik, Individualisierung und Historisierung einen ungeheuren Aufschwung erlebten. Dieser Aufschwung wurde dann erst wieder durch die Reformation und Gegenreformation in die Schranken gewiesen. Diese zweite Epoche der Aufklärung war zwar keine glanzvolle Epoche der Philosophie, jedoch ein Höhepunkt der technischen und praktischen Anwendung des bis dahin erlangten Wissens in den Künsten und Technologien sowie in Ökonomie und Politik.

 

Die dritte Epoche einer Aufklärung war dann das immer noch so genannte "Zeitalter der Aufklärung" (Age of Enlightenment / L'age des Lumieres), das erst ca. 200 Jahre nach der Renaissance und Reformation mit den großen wissenschaftlichen Entdeckungen der Nova Scientia begonnen hatte. Kulturhistorisch wird es gewöhnlich zwischen der Frühen Neuzeit des 17. Jahrhunderts und der Romantik des 19. Jahrhunderts angesetzt. Wissenschaftshistorisch liegt diese Epoche der Aufklärung nach dem Aufschwung der Newtonschen Mechanik (Principiae, 1687) und vor Laplace' Exposition du système du monde (1796).

 

Mittelstraß' Vorschlag ist hilfreich, sobald man sich einen allgemeinen Begriff davon machen will, was 'Aufklären' als ein intellektuelles Unternehmen heißen kann, ohne sich mit diesem Namen nur auf das so genannte Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert zu beziehen. Für die historisch informierte und philosophisch reflektierte Konstruktion eines solchen allgemeinen Begriffes vom intellektuellen Projekt der Aufklärung sind nun aber nicht die Historiker des 18. Jahrhunderts zuständig, sondern hermeneutisch gebildete Philosophen, die sich nicht alleine mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert befasst haben. Manche der immer noch bekannten und studierten Aufklärer waren Juden und Christen, andere waren empiristische oder rationalistische Freidenker, die sich entweder von den umfassenden Philosophien von Platon und Aristoteles oder von den kompakteren Konzeptionen der Epikuräer und Stoiker inspirieren ließen. So können beispielsweise die "Radikale Aufklärung" Spinozas als eine neue Variante des Stoizismus und die skeptische Aufklärung Humes als eine neue Variante des Epikuräismus verstanden werden.

 

2. Vier philosophische Studien zum Verständnis der Aufklärung

 

Es gibt hauptsächlich vier elaborierte Untersuchungen, die in der philosophischen Forschung des Begriffes, des Projektes und der Epoche des Zeitalters der Aufklärung einige Bedeutung erlangt haben :

 

Ernst Cassirer: Der deutsch-jüdische Philosoph stammte aus der berühmten Marburger Schule des Neukantianismus

(Hermann Cohen, Paul Natorp, Karl Vorländer) und er knüpfte in seinen philosophischen Schriften hauptsächlich an Leibniz, Goethe und Kant an. Er war einer der ersten Neukantianer, der die Auseinandersetzung mit den modernen Entwicklungen in der Mathematik (Nicht-Euklidische Geometrie), in der Physik (Relativitätstheorie) und in den Geistes-wissenschaften, in der Semiotik und Anthropologie suchte. Seine Absicht war es deren neuere wissenschaftlichen Resultate in den Neukantianismus zu integrieren. Cassirers philosophiehistorischen Diagnosen über Erkenntnis und die "Philosophie der Aufklärung" (1932) vermuteten noch ganz optimistisch, dass "der Mensch" seit der Epoche der Renaissance gelernt habe, sich an verschiedenen Werten zu orientieren, die ihm nicht mehr durch tradierte Autoritäten oder durch einen "objektiven Geist" (Hegel) vorgegeben sind, sondern die er aus freien Stücken selbst zu verantworten habe. Aber immer noch sollten es vor allem selbst ernannte aufgeklärte Intellektuelle sein, die die breite Masse der Menschen beeinflussen, sich sittlich richtig zu orientieren, um sie zum erhofften "Licht der Vernunft" zu führen. Was bedeutet das jedoch für die beharrliche Kritik der Aufklärer an der Schwärmerei? Gilt das dann aber auch für die Anhänger der politischen Massenbewegungen der totalitären Ideologien von Faschismus, Nationalsozialismus und Marxismus-Leninismus? Nach den beiden Weltkriegen, nach dem Holocaust und dem Archipel Gulag, nach Hiroshima und Nagasaki klingt dieser ungebrochene Aufklärungsoptimismus jedoch irgendwie naiv, schal und zu schwärmerisch. Der säkulare Glaube in den vermeintlichen Automatismus eines moralischen, rechtlichen und politischen Fortschrittes sowie die schmeichlerische Idee mancher Intellektueller und Politiker, selbst immer schon auf der hellen und richtigen Seite der Geschichte zu stehen, hat im äußerst dunklen 20. Jahrhundert eine schweren Tiefschlag verkraften müssen.

 

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Nach den beiden Weltkriegen und nach den Enthüllungen über den Holocaust sahen sich die beiden deutsch-jüdischen Intellektuellen gezwungen, in ihrer berühmten Untersuchung über "Die Dialektik der Aufklärung" (1944) die radikale Frage zu stellen, inwiefern die europäische Aufklärung und die Säkularisierung auch zu den ideologischen und totalitären Massenbewegungen des Nationalsozialismus und des Marxismus-Leninismus geführt haben. Nicht nur der weltanschauliche Naturalismus mit seinem biologistischen Darwinismus und mit seinem praktischen Instrumentalismus standen auf dem Prüfstand, sondern auch der "Aufstand der Massen" gegen den lebendigen Geist der Intellektuellen. Denn die klassischen philosophischen Fragen nach dem guten Leben und nach dem guten Staat wurden von den Ideologen dieser Massenbewegungen ebenso attackiert wie die kritische Vernunftphilosophie Kants und die spekulative Geistmetaphysik Hegels. Die kulturkritischen Analysen der kapitalistischen Kulturindustrie, die auch aufklärerisch anmutende Gedanken und Kunstwerke allzu leicht und schnell in käufliche Fetische und Waren verwandeln konnten, hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Das gilt auch für den wohlfeilen Ruf nach einer "neuen Aufklärung", die nicht mehr die harte "Arbeit an den Begriffen" (Hegel) auf sich nimmt und nur manisch und panisch politische Forderungen stellt, aber das mühsame "Bohren dicker Bretter" (Max Weber) zu umgehen versucht.

 

Panajotis Kondylis: Der griechische Ideenhistoriker und Gelehrte, der ähnlich wie Foucault eher an Nietzsche und Marx anknüpfte, versuchte in seiner umfangreichen Studie "Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus" (1981) den gesamten Diskurs der Epoche der europäischen Aufklärung etwas verkürzend auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Danach soll es sich bei den Diskussionen der Aufklärungsphilosophen insgesamt um einen Streit zwischen empiristischen Verteidigern der Sinnlichkeit und rationalistischen Verteidigern des Verstandes und der Vernunft gehandelt haben. Damit fällt Kondylis jedoch hinter Kant und Hegel zurück, da Kants kritische Philosophie ganz zurecht immer als eine fruchtbare Synthese aus empiristischen und rationalistischen Überzeugungen interpretiert wurde und da Hegel weder Kants philosophische Beiträge noch die theoretischen und praktischen Ziele der Aufklärung ganz verworfen hatte. Doch Kondylis' naturalistische Reduktion des begrifflichen Geisteslebens auf den instrumentellen Verstand im Dienste eines "Willens zur Macht" (Nietzsche) kann allen beliebigen Händen und Köpfen dienen, nicht nur Adolf Hitlers "Arbeitern der Stirn und Arbeitern der Faust", sondern auch Stalins mörderischen Schergen der russischen Revolution und Maos barbarischen Kämpfern der chinesischen Kulturrevolution.

 

Rainer Enskat: Anders als die bisherigen ideengeschichtlichen Studien zur Epoche und zum Diskurs der Aufklärung geht Enskat in seiner sehr dichten, differenzierten und schwierigen Untersuchung (Bedingungen der Aufklärung, 2008) zuerst einmal von einer neuen Analyse des Begriffes der Aufklärung aus. Zu einem befriedigenden Begriff der Aufklärung gehört es demnach, dass jemand Auskunft erteilen kann, wer (Aufklärende), wen (Aufzuklärende) worüber (Fakten und Probleme), wodurch (Methoden und Ressourcen) und wozu (Ziele und Zwecke) aufklären will. Anhand dieser neuen Fragestellung rekonstruiert und diskutiert Enskat ausführlich, wie bereits Rousseau in seiner genialen Auseinandersetzung mit der Chemie und mit den Beiträgen der führenden Aufklärern seiner Zeit auf das Kernproblem der Urteilskraft und auf die notorischen Schwierigkeiten einer „Aufklärung durch Wissenschaft“ gestoßen ist. Damit gewinnt diese Studie eine bleibende Relevanz für alle zeitgenössischen Intellektuellen, die nur allzu gerne an die neuzeitliche Epoche der europäischen „Aufklärung durch Wissenschaft“ anknüpfen würden. Aber alle neuen Versuche einer vermeintlichen "Aufklärung durch Wissenschaft" scheitern immer noch daran, dass sie ihr eigenes Verständnis von Aufklärung nicht gründlich genug begrifflich geklärt haben. Das gilt nicht nur, aber auch dann, wenn sie sich im Sinne eines positivistischen "Aufkläricht" (Kant) gegen Glaube und Vernunft, Theologie und Philosophie richten. Denn die modernen Wissenschaften, Künste und Techniken stellen uns Menschen immer wieder vor neue schwierige Herausforderungen, die jedenfalls nicht alleine mit Hilfe der Wissenschaften, Künste und Techniken selbst bewältigt werden können. Denn keine noch so gut bestätigte wissenschaftliche Theorie und keine noch so raffinierte technische Erfindung können uns sagen, wie man von ihnen „einen guten Gebrauch“ machen kann, um trotz aller erhofften Erfolge unerwünschte Nebenwirkungen und langfristige Schäden für Mensch und Natur zu vermeiden.

 

Die Tragfähigkeit und der Wert von Enskats Beitrag zu einem besseren philosophischen Verständnis des Begriffs und des Projektes der Aufklärung erweist sich an den gegenwärtigen Debatten über die Erderwärmung und die Corona-Virus-Epidemie. Es ist ein Gemeinplatz, dass es so etwas wie "die Wissenschaft", auf die alle nationalen Regierungen hören sollten, ganz einfach nicht gibt. Es gibt bei jedem Thema und bei jedem Problem immer nur eine Vielfalt von Wissenschaftlern, eine Vielfalt von wissenschaftlichen Untersuchungen und eine Vielfalt von Debatten über ihre zuverlässigsten Resultate.

 

Abgesehen von den zuverlässigsten Daten und Statistiken, abgesehen von den besten evidenz-basierten Diagnosen

und Prognosen der führenden Experten auf den Gebieten der Meteorologie und Klimatologie bzw. der Virologie und Epidemiologie, und sogar abgesehen vom am besten informierten Risiko-Management, bleibt es doch immer und überall notwendig, dass charakterlich zuverlässige Politiker situativ angemessene Einschätzungen der Lage abgeben und kluge Entscheidungen treffen können. Dabei orientieren sie sich jedoch immer an ethischen und moralischen Prinzipien sowie an verantwortlichen ökonomischen und politischen Überlegungen.

 

Aber es ist nun einmal immer noch Aufgabe von Philosophen, in ihren Diskursen tragfähige Einsichten über ethische und moralische Prinzipien sowie über eine verantwortliche Ökonomie und eine solide Politik in modernen Regierungen zu gewinnen. Daher ist eine Aufklärung durch Wissenschaft einfach gar nicht wirklich möglich. Deswegen kommt es aber auch immer noch auf die Beiträge von Philosophen an. Allerdings müssen sich Philosophen immer um echte und solide Philosophie sowie um tragfähige und bleibende Einsichten bemühen. Denn sie sollten nicht der allzu mensch-lichen Versuchung erliegen, wie clevere Sophisten bloß hinter dem schnellen Erfolg bei der Beeinflussung der Massen oder hinter den fetten Tantiemen für flotte Bestseller herzujagen.

 

Das gilt zu Beginn des noch jungen 21. Jahrhunderts um so mehr, als immer mehr Menschen von einer unverdaulichen Flut von Informationen und von einem überwältigenden Strom von Bildern im Fernsehen und in den digitalen Medien zumindest fasziniert, wenn nicht gar besessen sind. Dafür sind Menschen jedoch nicht gemacht. Dafür wurden sie weder von Gott geschaffen noch von der Evolution hervorgebracht. Was sich Menschen mittlerweile mit ihrer modernen Technik antun, überfordert jedoch ihre menschliche Natur.

 

3. Aufklärung über Aufklärung

 

Sollten zeitgenössische Philosophen und Theologen, Wissenschaftler und Politiker trotz der zahlreichen Missverständ-nisse über den Begriff, die Epoche und das intellektuelle Projekt der Aufklärung weiter das modische Schlagwort der Aufklärung ins Feld der öffentlichen und politischen Debatten einführen? Können sie das tun, ohne wieder bloß ins Schwärmen zu geraten? Können sie das tun, ohne bloß die oberflächliche Rhetorik früherer Aufklärer zu wiederholen? Dürfen sie das tun, ohne über das uneingelöste Versprechen einer neuen Aufklärung selbst aufzuklären? Sollten sie das tun, ohne den ernsten Fragen und komplexen Problemen der ökonomischen, ökologischen und politischen Realitäten auszuweichen? Dazu brauchen wir vor allem nüchterne Diagnosen und dialektische Analysen über die Licht- und Schattenseiten der Epoche, des Begriffs und des Projektes einer Aufklärung der angeblich unaufgeklärten Bürger und Menschen. Denn die meisten klassischen Aufklärer zweifelten selbst zurecht an den hitzköpfigen Schwärmereien einer allzu seichten Aufklärerei.

 

Wer jedoch Aufklärung propagiert und damit eigentlich nur Atheismus, Naturalismus, Szientismus und Historismus meint, der handelt weder historisch informiert noch philosophisch gebildet. Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch „Aufklärung“ propagiert, der muss redlicherweise auch sagen, was er damit wirklich meint. Denn Aufklärung als das ideologische und politische Projekt einer grenzenlosen Naturalisierung und Historisierung der öffentlichen Lebens-welten von Bildung und Wissenschaften, von Recht und Staat, von Wirtschaft und Politik ist bereits in dem blutigen, gewalttätigen und technokratischen 20. Jahrhundert krachend gescheitert. Dieses ideologische und politische Projekt basierte jedoch noch auf den naturalistischen und historistischen Weltanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese reduktionistischen Weltanschauungen passen jedoch nicht mehr in die methodisch pluralistische Wissenschafts-kultur des 21. Jahrhunderts. Von daher bedarf es heute vor allem einer philosophischen und ideengeschichtlichen Aufklärung über Aufklärung, d.h. einer Aufklärung über die Epoche, das Projekt und den Begriff der Aufklärung.

 

Keine Philosophie, keine Gesellschaft und kein Zeitalter können auf Aufklärung verzichten. Aber noch nie war eine Aufklärung über Aufklärung so wichtig wie heute.

 


 

Rainer Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft

Velbrück: Wissenschaft 2008

 

Die Untersuchungen dieses Buches knüpfen an die traditionelle Vielstimmigkeit der Bemühungen um eine Klärung der Bedingungen der Aufklärung an. Sie reduzieren deren Komplexität, indem sie fragen: Aufklärung – wodurch, für wen, worüber, wozu?


Ohne moralische, rechtliche, politische und utilitäre Aufklärung weiß die Urteilskraft weder von den fundiertesten wissenschaftlichen Informationen ihrer jeweiligen Zeit noch von den zuverlässigsten wissenschaftsbasierten Handlungs-techniken ihrer jeweiligen Zeit in ihrer jeweils konkreten geschichtlichen Situation einen guten Gebrauch zu machen. Wissenschaftliche Informationen bleiben ohne die Obhut einer moralisch, rechtlich, politisch und utilitär aufgeklärten Urteilskraft praktisch stumm. Handlungstechniken, auch wissenschaftsbasierte Handlungstechniken, bleiben ohne eine solche Urteilskraft blind. Auch die beste Aufklärung durch Wissenschaft bleibt praktisch blind und stumm. Es bedarf daher der praktischen Aufklärung der Urteilskraft.

 

Rainer Enskat, geb. 1943, ist Professor für Philosophie an der Universität Halle. Von 2005 bis 2007 war er Mitglied und Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung.

 


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Rainer Enskat gibt der Urteilskraft ihre Bedeutung zurück – mit Rückgriff auf Rousseau

 

Die Sokratischen Anfänge der Aufklärung haben es trotz ihrer Fortsetzung durch Platon nicht vermocht, zugunsten dieser Bemühungen eine stabile und fruchtbare Tradition ins Leben zu rufen. Die Aufklärungsbedürftigkeit der Menschen sucht immer wieder von neuem nach Nahrung für die Berechtigung der Hoffnung, dass die Bemühungen um Aufklärung einer fruchtbaren und methodisch kontrollierten Disziplinierung zugänglich gemacht werden können – eine Hoffnung, wie sie wirkungsvoll vom Wissenschaftsenthusiasmus beflügelt wurde. „Der Mensch ist darum unglücklich, weil er die Natur verkennt“, schrieb d’Holbach. Dieses Unglück suchte man seit den initiativen szientis-tischen Impulsen durch Diderots und d’Alemberts Encyclopédie mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Forschung zu reduzieren. Diese Bemühungen haben durch einen tiefgreifenden Gestaltwandel im Rahmen der Industriellen Revolution zu einer technischen Dauerrevolutionierung unserer praktischen Lebenswelt geführt sowie zu einer institutionellen, ökonomischen und personellen Begünstigung ingenieurswissenschaftlicher Transformationen von Forschungsresultaten aus Physik, Chemie und Biologie. Das szientistische Aufklärungsmodell wird indessen durch nichts in so spürbarer Weise in Frage gestellt wie durch die praktischen Ambivalenzen, die sich die Menschen einhandeln, wenn sie dieses Modell so energisch, einseitig und zielstrebig zu verwirklichen suchen, wie es ein ihm innewohnendes Aufklärungspotential rechtfertigen würde.

 

Der Hallenser Philosoph Rainer Enskat zeigt in seinem Buch

 

Enskat, Rainer: Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft. 687 S., Ln., € 69.—, 2008, Velbrück, Weilerswist

 

die Geburtsfehler dieses szientistischen Aufklärungsmodells auf. Sie haben ihren Ursprung in der Blindheit, mit der dieses Modell in seinen Grundlagen geschlagen ist. Die szientistischen Aufklärungsmodelle leiden an einem gemein-samen Geburtsfehler: Sie trauen wissenschaftlichen Forschungsmethoden, -hypothesen und -resultaten Erkenntnisse zu, wie sie in diesem Rahmen aus prinzipiellen Gründen weder zuwege gebracht noch intendiert werden können – praktische Einsichten in das, was in einer konkreten geschichtlichen Situation aus rechtlichen, aus utilitären, aus politischen oder aus moralischen Gründen zu tun oder zu unterlassen richtig und wichtig ist und was nicht.

 

Wer eine Interventionstechnik in die praktische Lebenswelt einführt und hier einsetzt, um nützliche oder gar wohltätige Zustandsänderungen herbeizuführen, muss bereits ein gerütteltes Maß an praktischer Umsicht, Vorsicht und Rücksicht im Blick auf die praktische Gewichtung der konditionalen Umstände walten lassen, von denen die kausale und damit auch die praktische Tragweite der jeweiligen Interventionstechnik abhängt. Umsicht, Vorsicht und Rücksicht sind für Enskat die drei kognitiven Kardinaltugenden einer Kompetenz, die auf den alten Namen der Urteilskraft hört.

 

Kann man den Sozialwissenschaften unter diesen Voraussetzungen eine Kompetenz für die Aufklärung zutrauen? Immerhin ist kaum eine Generation vergangen, seit man anfangen hat, den Sozialwissenschaften die Leitfunktion der Aufklärung zuzutrauen, weil man bestimmten Methoden und Resultaten ihrer Arbeit eine emanzipatorische Funktion meinte zutrauen zu können. Für Enskat ist es kein Zufall, dass sich die wichtigsten soziologischen Beiträge zu diesem Thema inzwischen am Muster der ärztlichen Diagnose orientieren. Aber die sozialwissenschaftlichen Aussagen, die überhaupt für Diagnosen in Frage kommen, müssen auf das wichtigste Funktionselement verzichten, das sie in Analogie zu ärztlichen Diagnosen ebenfalls zu praktischen Diagnosen stempeln würde: auf normativ-praktische Begriffe. Es wirft deshalb ein aufschlussreiches Licht auf das emanzipatorische Aufklärungsmodell der Sozialwissenschaften, dass die Urteilskraft nur gelegentlich und in einer flüchtigen und randständigen Rolle auftaucht – die praktische Urteilskraft indessen überhaupt nicht. Für Enskat erweist sich das Fehlen einer entsprechenden Konzeption der praktischen Urteils-kraft als das entscheidende Handicap auf dem Weg zu einer wohlfundierten Konzeption der Aufklärung. Denn der kognitive Probierstein aller Aufklärung bildet die Trefflichkeit und die Tragfähigkeit von praktischen Beurteilungen bzw. Diagnosen. Nur durch sie durchschaut und erfasst eine individuelle Person im Jetzt und Hier ihrer individuellen Situation alle praktisch relevanten Umstände und den durch sie provozierten Handlungsbedarf so, dass sie dieser Situation sowohl unter Gesichtspunkten der Utilität wie der Rechtlichkeit, der Moralität oder der Politik auch praktisch gerecht werden kann. In der klassischen Sprache des 18. Jahrhunderts heißt dieses Ziel der Aufklärung Mündigkeit.

 

Es sind wechselnde Wissenschaftsgruppen, denen man bislang eine Tauglichkeit für eine Leitfunktion in der Aufklärung zugetraut hat.

 

Gegenwärtig wächst in immer größer werdenden Kreisen eine Neigung, den Biowissenschaften diese Leitfunktion anzu-sinnen. Zwar reagiert jedes Aufklärungsmodell auf eine konkrete geschichtliche Situation. Es macht darauf aufmerksam, dass die geschichtliche Situation, auf die es reagiert, unter zwei Aspekten eine Revision von Beurteilungen nötig macht: eine Revision dessen, was wissenswert ist, und eine Revision dessen, was praktisch wichtig ist. Unter diesen Voraus-setzungen scheint zwar jede Wissenschaft eine potentielle Aufklärungswissenschaft zu sein. Denn jede Wissenschaft kann in eine geschichtliche Situation geraten, in der die Menschen aus praktischen Gründen darauf angewiesen sind, über ein Wissen zu verfügen, wie es nur von dieser ganz bestimmten Wissenschaft erarbeitet werden kann. Doch auch in einer solchen Situation kommt eine Wissenschaft sogar im günstig­sten Fall nicht über eine Erfüllungsgehilfenschaft hinaus, wie sie ihr vor allem durch die Beratungsfunktion eröffnet wird. Doch ob einer Wissenschaft die Erarbeitung von etwas Wissenswertem zugetraut wird, hängt von den Urteilen der Menschen darüber ab, was in einer konkreten geschichtlichen Einzelsituation ihres Lebens praktisch wichtig, nötig oder nützlich ist und damit auch, was wissenswert ist und was nicht. Diese praktischen Beurteilungen können ihnen auch von der ausgereiftesten Wissenschaft nicht abgenommen werden. Im Gegenteil: Gerade sie haben das ausgeprägteste Bewusstsein davon, dass sie selbst gemein-sam mit den ratsuchenden Instanzen auf Kriterien des Wissenswerten angewiesen sind. Für Enskat gehört zur Auf-klärung das unablässige Bemühen, die Kriterien zu klären, mit deren Hilfe man in kontrollierbarer Weise beurteilen kann, was aus praktischen Gründen wissenswert und was nicht. Aufklärung ist daher jederzeit trotz Wissenschaft nötig.

 

Der am tiefsten blickende Zeuge und Diagnostiker der schleichenden Revolution, die ein szientistisches Aufklärungs-modell von Anfang an durchmacht, war Rousseau. Am Ende desselben Jahrzehnts, an dessen Anfang die Encyclopédie zu erscheinen beginnt, teilt er seine ironische Diagnose mit: Mitten in so viel Licht, wie es die Aufklärung durch Wissen-schaft verbreitet, sind wir mit Blindheit geschlagen. In Rousseaus Überlegungen ist die praktische Relevanz von wissen-schaftlichen Informationen, die in der Öffentlichkeit kursieren, ausschließlich an deren praktische Brauchbarkeit gebunden. Die Aufklärungsrelevanz von Informationen hängt daher nicht davon ab, ob sie von der Wissenschaft erarbeitet worden sind, sondern davon, ob sie praktisch relevant sind. Enskat ist mit Rousseau einig, dass sich jedes Aufklärungsmodell, das die chronische praktische Aufklärungsbedürftigkeit des Menschen vernachlässigt, seine eigene Unzulänglichkeit eingestehen muss. Das Modell einer Aufklärung durch Wissenschaft ist geradezu der Prototyp eines solchen Aufklärungsmodells. Rousseau sorgt sich im Schatten dieses Modells daher wegen einer drohenden Verküm-merung der praktischen und politischen Urteilskraft. Er entwirft daher nach und nach ein Modell einer reifen Urteils-kraft, die genau einschätzen kann, was die Wissenschaft im ganzen wert ist, was nützlich zu wissen ist, was wichtig zu wissen ist und was würdig ist, erforscht zu werden, sowie eine am Erwerb einer solchen Urteilskraft orientierte Didaktik. Die politische Urteilskraft reift z. B. nur in dem Maß, in dem sie lernt, die normativen Aspekte, Kriterien und Regeln, die der Struktur eines republikanischen Gemeinwesens angemessen sind, in höchst differenzierter Weise auf die unter-schiedlichen und sich wandelnden Situationen der Bürger abzustimmen. Rousseau arbeitet drei verschiedenartige Risiken heraus, auf die man sich im Schatten eines rigoros praktizierten szientistischen Aufklärungsmodells gefasst machen muss:

 

1. Die Beurteilungskompetenz der allermeisten Bürger bleibt chronisch hilflos hinter dem Niveau der Beurteilungs-probleme zurück, die wissenschaftliche und technische Informationen aufgeben.

 

2. Mit der Komplexität der wissenschaftlichen Arbeit wächst nicht nur die Komplexität ihrer Wahrheitsfindigkeit, sondern auch die ihrer Irrtumsträchtigkeit. Eine politisch institutionalisierte Aufklärung durch Wissenschaft verbreitet durch die uneingeschränkte gesellschaftliche Proliferation von Informationen über Forschungsresultate unvermeidlich auch immer mehr Irrtumsrisiken in einer Gesellschaft, die diesen Irrtumsrisiken nicht weniger hilflos ausgeliefert ist als den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Arbeit.

 

3. Die praktische und die politische Urteilskraft aller Bürger wird um den Preis ihrer Regression in dem Maß vernach-lässigt, in dem sie ihre Aufklärung durch Aneignung wissenschaftlicher und technischer Informationen zu erwerben suchen.

 

Der kognitiven Kompetenz des Laien fehlt per definitionem gerade der methodisch-technisch-theoretische Authen-tizitätskern der Experten-Kompetenz. Alleine deswegen bleibt auch der informierteste Laie chronisch durch einen undurchdringlichen „Schleier des Nichtwissens“ vom Know-how des Experten getrennt. Er versteht sich weder auf die Methoden und die Techniken, mit deren Hilfe man die Entdeckungen und die anderen Erkenntnisse zuwege bringen kann, über die er aufgeklärt werden soll, noch versteht er sich auf die Methoden und die Techniken der Begründung,

mit deren Hilfe die solche Entdeckungen und Erkenntnisse dokumentierenden Sätze in das System der schon bewährten wissenschaftlichen Sätze eingearbeitet werden sollen. Sogar der informierteste Laie ist im Schatten des enzyklopädi-schen Aufklärungsmodells in chronischer Weise auf einen tüchtigen Lotsen angewiesen, der ihm die Wege, Techniken und Methoden zeigen kann, mit deren Hilfe man eine schon entdeckte Wahrheit jederzeit wiederfinden kann.

 

Kant hat die Diagnosen und Mahnungen Rousseaus unter anderen Aspekten verarbeitet. Er macht in überzeugender Weise darauf aufmerksam, dass eine wissenschaftliche Untersuchungsmethode, die zum Irrtum führt, dies auch in der Praxis tut. Je vielseitiger, sorgfältiger und gründlicher die Erprobungen solcher Methoden ausfallen, umso legitimer kann man sich auf ihre Erfolgsträchtigkeit auch in der Praxis verlassen. Solche Erprobungen sind daher umso wichtiger je dringender es darauf ankommt, das Risiko von praktischen Misserfolgen zu verringern. Kant ergänzt Enskat zufolge Rousseaus rigideren, eher gleichsam produktorientierten Utilitarismus wissenschaftlicher Forschungsresultate zugunsten eines weitsichtigeren Utilitarismus der Risikoprophylaxe durch kontinuierliche Bewährungsproben für wahrheiterschließende Techniken und Methoden wissenschaftlicher Forschung. Gleichwohl ist Kants vergleichsweise liberaler methodologischer Wissenschaftsutilitarismus immer noch eine Frucht seiner Auseinandersetzung mit den Belehrungen – vielleicht besser: Bekehrungen –, die er durch sein Studium von Rousseaus Emile erfahren hat: Rousseau hat Kant aus seinem szientistischen Schlummer geweckt.

 

Für Enskat hat Rousseau durch die Wiederentdeckung der Urteilskraft in der Auseinandersetzung mit dem enzyklopä-dischen Aufklärungsmodell eine Einsicht gewonnen, deren Tragweite man schwerlich überschätzen kann. Und niemand sonst hat so eindringlich wie Rousseau vor den Risiken einer kognitiven Überforderung der Bürger durch die kommuni-kative Konfrontation mit Informationen über wissenschaftliche Arbeit gewarnt. Rousseau hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine wahrhaft enzyklopädische Aufklärung durch Wissenschaft schon an der statistischen Begabungs-verteilung in einer Gesellschaft scheitert und daß eine wahrhaft wissenschaftliche Aufklärung von Laien an der Unmöglichkeit scheitert, das persönliche, methodisch-technisch-theoretische Know-how eines wissenschaftlichen Experten durch Informationsmedien auf andere Personen zu übertragen.

 

Ohnehin geht das Publikum auf seine eigene Weise mit der praktischen Blindheit des szientistischen Aufklärungs-modells um: sie wird von ihm einfach kompensiert. Jeder Adressat einer wissenschaftlichen Information fragt zwar ganz spontan im Licht des eigenen Bildungsgrades und im Licht der eigenen Wünsche, Sorgen, Hoffnungen und Ängste, kurz: im Licht der eigenen Lebenssituation und der eigenen Erfahrung nach der technischen Fruchtbarkeit und nach den praktischen Relevanzen und Tragweiten, die die von ihm rezipierten wissenschaftlichen Informationen für ihn mit sich bringen. Doch gleichzeitig überfordern sie die epistemische Urteilskraft jedes Laien schon auf einem vergleichsweise bescheidenen Komplikationsniveau maßlos.

 

Rousseau hat gezeigt, dass die Urteilskraft die einzige kognitive Instanz ist, die die scheinbar so trennscharfe, katego-riale Kluft zwischen authentisch Wissenden und Wissenden-aus-zweiter-Hand, zwischen aufklärungsbedürftigen und aufgeklärten Menschen restlos zum Verschwinden bringen könnte, wenn alle Menschen sie sowohl in ihrer epistemi-schen wie in ihrer praktischen Gestalt mit demselben Reifeniveau entwickeln könnten. Will sich das szientistische Aufklärungsmodell angesichts dieser Kognitions-Utopie nicht selbst preisgeben, dann steht ihm nur der Weg offen, den ihm mit einem pointierten Wink schon früh Diderot gewiesen hat: Es muss die Not seiner praktischen Blindheit durch die Tugend der „aufgeklärten Kunst“ des tüchtigen Forschers, Gelehrten und Wissenschaftlers kompensieren, mit der es möglich ist, auf den immer anspruchsvoller werdenden Forschungsfeldern mit aufgeklärter epistemischer Urteilskraft zwischen Wahrheit und Falschheit, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeit und Unglaublichkeit sowie Gewissheit und Zweifelhaftigkeit zu unterscheiden. Im Gegenzug ist es die Sorge um die gefährdete Tüchtigkeit der praktischen und politischen Urteilskraft, wodurch Rousseau in seiner geschichtlichen Situation beunruhigt wird.

 

Das Programm einer Aufklärung der Urteilskraft personalisiert die Möglichkeiten und die Aufgaben der Aufklärung in einem unüberbietbaren Mass. Denn es soll nicht nur die Trefflichkeit optimiert werden, mit der die individuelle Person über das urteilt, was in individuellen Situationen, nützlich oder unnütz, gut oder schlecht und wissenswert oder nicht ist. In demselben Rahmen soll die Trefflichkeit der Urteilskraft sogar noch mit Blick auf die Aufgabe optimiert werden, in solchen Situationen das Format des eigenen Aufklärungsbedarfs einzuschätzen. Die Urteilskraft der individuellen Person erweist sich damit sowohl als das wichtigste Medium wie auch als die wichtigste Instanz der Aufklärung. Bei alledem kann die Urteilskraft auf keine andere Weise ertüchtigt werden als durch ihre unablässige und unmittelbare Aus-einandersetzung mit den kognitiven und praktischen Herausforderungen, die die ständig wechselnden Situationen des menschlichen Lebens mit sich bringen.

 

Kant hat sich Rousseaus Wiederentdeckung der Urteilskraft ein für allemal zu eigen gemacht und in zwei Richtungen fruchtbar gemacht. Zum einen ist die Urteilskraft für ihn „ein besonderes Talent…: eine Naturgabe, vorläufig zu urteilen…. wo die Wahrheit wohl möchte zu finden sein“. „Worauf kommt's an? (frägt die Urteilskraft)“, und Kant erläutert diese Charakteristik, indem er die Urteilskraft mit dem „Talent der Auswahl des in einem gewissen Fall gerade Zutreffenden“ identifiziert: Wer mit diesem Talent begabt ist, „weiss…. den springenden Punkt zu treffen (denn er ist nur ein einziger), worauf es ankommt“. Zum anderen bemüht sich Kant unablässig um eine systematische Ausarbeitung der Tragweite von Rousseaus Wiederentdeckung der Urteilskraft. Er nimmt insbesondere das von Rousseau formulierte Grenz-Problem ernst, bis zu welchem Punkt ich mich auf die Urteilskraft verlassen kann – das Ursprungsproblem des „critischen Geschäfts“, das ausgerechnet mit der Publikation einer Kritik der Urteilskraft seinen inneren und äußeren Abschluss findet: Nur in dem Maß, wie die Urteilskraft von einer verborgenen kriteriellen „Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ profitiert, steigt ihre Chance, dass sie zu aufgeklärten epistemischen, praktischen und ästhetischen Beurteilungen dessen gelangt, worauf es im Jetzt und Hier einer Situation jeweils ankommt.

 

Quelle: http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=7322&n=2

 


 

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2008 von Otfried Höffe

 

Filterkunst

Was ist Aufklärung? Einer der großen deutschen Aufklärungsforscher, ehemals geschäftsführender Direktor von Halles Interdisziplinärem Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, legt hier eine Summe langjähriger Forschung vor. Mit guten Gründen lässt er die Aufklärung schon mit Platon und Aristoteles beginnen und hält Montesquieu, Diderot und Voltaire für wichtige, aber Rousseau und Kant für die entscheidenden Vertreter.

 

Und während England, Schottland und die Niederlande im Hintergrund bleiben, treten noch spätere Autoren, zunächst Hegel und für das 20. Jahrhundert vor allem Jürgen Habermas, in den Blick. Dagegen fehlen unter den neueren Aufklärern die nichtdeutschsprachigen Autoren wie Sartre und Foucault oder Rawls, der wegen seines Begriffs der öffentlichen Vernunft wichtig wäre. Auch vermisst man für die deutsche Debatte Kritiker wie Odo Marquard und Hermann Lübbe sowie Robert Spaemann.

 

Die Gelehrsamkeit des Autors ist beeindruckend, auch die Fähigkeit, das komplexe Phänomen Aufklärung zu erschlie-ßen. Beispielsweise untersucht der Verfasser, ob Aufklärung durch Wissenschaft möglich oder trotz (weitläufig etablier-ter) Wissenschaft nötig ist. Der Untertitel signalisiert schon die von Rousseau und Kant inspirierte Antwort: Auch im Zeitalter der Wissenschaften braucht es die Fähigkeit, aus dem Meer der wissenschaftlichen Erkenntnisse das aus praktischen Gründen Wissenswerte auszufiltern, um von ihm einen "guten praktischen Gebrauch" zu machen. Daran zu erinnern und die Erinnerung teils philosophiegeschichtlich, teils systematisch zu entfalten ist in Zeiten einer praktizierten Szientismus sowohl theoriepolitisch als praktisch-politisch unerlässlich.

 

Man hätte freilich einen weitaus strafferen Text schreiben können. Und da das Werk stillschweigend zu einer Kreuz-und-quer-Lektüre einlädt, hätte ihm ein Sachregister gutgetan.

 

Rainer Enskat: "Bedingungen der Aufklärung". Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2008. 688 S., geb., 68,- [Euro]. hoef

 

Studienausgabe mit aktuellem Vorwort, Erscheinungstermin: Juni 2020

 

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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2018

 

Das Ideal des Wohlergehens

 

 

Seht doch nur all die philosophischen Schwarzmaler und Grübler: Steven Pinker möchte die Aufklärung retten und macht sich die Sache dabei sehr einfach.

 

 

Eine aufgeklärte Kultur ist kein Selbstläufer. Wie alle Kulturen muss auch sie durch die, die in ihr leben, erhalten und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es gibt kein Gesetz der Geschichte, dass sich Vernunft und Menschlichkeit "am Ende" von selbst durchsetzen. An welchem Ende, möchte man fragen. Zwar ist der Eindruck durch keine statistische Untersuchung belegt, doch er wird von vielen geteilt: Die Menge an gedruckten und elektronisch verbreiteten Texten, die Verschwörungstheorien, Lügen, haltlose Vermutungen verbreiten und die zu Hass und Gewalt aufrufen, nimmt immer mehr zu gegenüber der Menge an Texten, die von überprüften Erfahrungen, belegten Theorien, vielversprechenden Vermutungen berichten und zu Mitgefühl und Hilfeleistung ermuntern. Dieser Eindruck legt nahe, dass wir in einer Zeit der Gegenaufklärung leben.

 

 

Solche Zeiten hat es immer gegeben. Wenn man unter aufgeklärten Epochen solche versteht, die sich der Verbreitung eines potentiell von der ganzen Menschheit teilbaren Wissens zum Zwecke einer Steigerung des Wohlergehens aller auf der Welt verpflichten, dann sind die Tendenzen des religiösen Fundamentalismus, fanatischen Nationalismus und die Bullshit- und Desinformations-maschinen des Internets gegenaufklärerisch. Deshalb kann man das neueste, teilweise polemische, auf jeden Fall streitbare Buch von Steven Pinker mit dem Titel: "Aufklärung jetzt" grundsätzlich nur begrüßen. Denn es breitet nicht nur Ideale der Aufklärung neu aus. Sondern es stellt auch die Motive und Kräfte der Gegenaufklärungen dar und argumentiert gegen sie.

 

 

Pinker betont, dass sein Buch lange vor der Zeit von Trump geplant war, der gegenwärtig aufgrund der militärischen und wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten mit seiner "America first"-Politik und der Verbreitung von Lügen und Verschwörungstheorien Anführer der politischen Gegenaufklärung ist, die Pinker auch als antihumanistisch einstuft. Humanismus definiert er als das Streben, "menschliches Wohlergehen zu maximieren - Leben, Gesundheit, Glück, Freiheit, Wissen, Liebe, Reichtum an Erfahrungen", und zwar auf der Ebene der Menschheit. Politiken, die für die Wohlergehensgewinne kleiner Gruppen in Kauf nehmen, dass andere leiden müssen, sind anti-humanistisch.

 

 

Für die Begründung, dass Aufklärung einer Anstrengung bedarf, holt Pinker weit aus. Er geht bis zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zurück. Dieser besagt, dass Unordnung in geschlossenen energetischen Systemen zunimmt. Wer Ordnung erhalten will, muss dafür etwas tun. Leben ist ein energetisch unwahrscheinlicher Zustand, der durch Nahrungszufuhr erhalten werden muss. Es zu zerstören ist dagegen einfach. Oder, wie Pinker es mit den Worten des texanischen Abgeordneten Sam Rayburn formuliert: "Jeder Trottel kann eine Scheune zum Einsturz bringen, aber um sie zu bauen, braucht man einen Zimmermann." Menschliches Wohlergehen beruht nun auf sehr komplexen kulturellen Ordnungen, die ebenfalls nur unter großem Aufwand erhalten werden können. Es ist sicher nur eine Analogie, aber keine unplausible, wenn man behauptet, dass es ohne erheblichen wissenschaftlichen, erzieherischen, technischen und politisch-kooperativen Aufwand nicht möglich sein wird, das Niveau des Wohlergehens, das Menschen gegenwärtig erreicht haben, zu erhalten, geschweige denn es global zu steigern.

 

 

Als wesentliche Kraft der Gegenaufklärung unter den Intellektuellen betrachtet Pinker die Fortschrittsskeptiker. Zwar würden auch sie die Früchte des Fortschritts gern genießen und sich lieber mit als ohne Narkose operieren lassen und lieber Computer zum Schreiben benutzen als Tinte und Federkiel, trotzdem zweifelten sie an, dass sich die Welt durch Forschung verbessern ließe. Hier teilt Pinker ziemlich heftig und pauschal gegen "die Crème de la Crème der Geistes-wissenschaften" aus und nennt Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger, Adorno, Benjamin, Sartre, Fanon, Foucault, Edward Said und Cornel West als "Schwarzmaler", die Fortschritte der Aufklärung nicht anerkennen. Das ist philosophie-historisch starker Tobak. Nietzsches Diagnose am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dass das Verschwinden des Christentums als Sinnspender zu einem Nihilismus führen wird, in dem sich Menschen an charismatischen politischen Führern als Ersatz-sinngebern berauschen und in Kriege stürzen werden, war eine gute Prognose der Schrecknisse von zwei Weltkriegen. Auch Adornos Diagnose und Warnung, der Kapitalismus werde alles zur Ware machen, einge-schlossen die sozialen Beziehungen, kann man angesichts von Facebook nur als hellsichtig bezeichnen.

 

 

Pinker scheint nicht zu verstehen, dass die Freude über fließend Warmwasser, reduzierte Kindersterblichkeit, abneh-menden Welthunger, immer weniger Tote durch Gewalt und Infektionskrankheiten nicht bedeutet, dass man sich der Kritik an Lebensverhältnissen enthält. Aufklärung ist einerseits ein Wohlergehensprojekt. Aber sie ist auch ein kritisch emanzipatorisches Vorhaben. Wer nichts zu essen hat und fürchten muss, erschlagen zu werden, wird sich keine Gedanken über den Sinn des Lebens machen. Da hat Pinker recht. Doch dass gegenaufklärerische Bewegungen wie nationale und religiöse Fanatismen mit Sinn- und Partizipationsverlusten zu tun haben, die durch Wohlstandsprojekte nicht aufgefangen werden können, scheint er nicht zu sehen.

 

 

Verächtlich polemisiert er gegen moralphilosophische Vorlesungen, in denen Studenten lernen, Probleme des Utilitarismus und deontologischer Ethik "herunterzurattern", und behauptet: "Eine in einer kosmopolitischen Welt umsetzbare Moralphilosophie darf nicht aus Schichten komplizierter Argumentation bestehen oder auf tiefgründigen metaphysischen oder religiösen Überzeugungen beruhen. Sie muss ihre Kraft aus einfachen, transparenten Prinzipien beziehen, die jeder verstehen und akzeptieren kann. Das Ideal des menschlichen Wohlergehens ist genau solch ein Prinzip, da es auf nicht mehr (und nichts weniger) basiert als auf unserem gemeinsamen Menschsein."

 

 

Das Problem mit dem "gemeinsamen Menschsein" ist leider, dass es unter anderem kulturell in Erziehungsprozessen entsteht (was Pinker in anderen Publikationen bestritten hat). Mitglieder des "Islamischen Staates" interessieren sich halt mehr für das Jenseits und die (vermeintlichen) Befehle Mohammeds als für globales Wohlergehen. So sind sie erzogen worden. Pinker wird einwenden, dass sie eine Gehirnwäsche erlitten, bei der sie Prinzipien der Vernunft aufgeben mussten. Doch wo verläuft die Grenze zwischen vernünftiger Erziehung zu Mündigkeit auf der einen und Manipulation auf der anderen Seite? Lässt sie sich einfach durch Hinweis auf "unser gemeinsames Menschsein" ziehen? Pinker tut so, als würden sich Philosophen über die Natur von Begründungen, die Vernunft, Autonomie von Einzelnen und Gruppen nur deshalb komplizierte Gedanken machen, weil sie Lust an Komplikationen haben. Da irrt er.

 

 

Letztlich wird die Fortsetzung der Aufklärung nicht nur ein anstrengendes wissenschaftliches, politisches und kulturelles Projekt sein. Sie wird auch ein schwieriges philosophisches und erzieherisches Unternehmen. In ihm müssen "wir", die Menschheit, ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit, Erziehung und Freiheit über Kulturgrenzen hinweg ent-wickeln. Das ist nicht durch Hinweis auf ein paar Studien der empirischen Psychologie möglich, wie Pinker zu glauben scheint. Denn hier geht es um die Antwort auf die normative Frage, wie wir auf diesem Globus leben wollen: in einer gemeinsamen Welt, die sich transparentem Wissen in ihrem Handeln verpflichtet, oder in hysterischen Stämmen, die von Mythen aufgepeitscht Kämpfe gegeneinander führen, mit deren Hilfe sich einige wenige entschieden bereichern können.

 

 

MICHAEL HAMPE

 

 

Steven Pinker: "Aufklärung jetzt". Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Aus dem Englischen von Martina Wiese. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2018. 736 S., geb., 26,- [Euro].

 

 

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Vittorio Hösle, Moralische Reflexion und Institutionenzerfall
Zur Dialektik von Aufklärung und Gegenaufklärung, in:
V. Hösle, Praktische Philosophie in der modernen Welt, München: C.H. Beck 1992, S. 48-58
Hösle, Moralische Reflexionen und Instit
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