Widerstand

 

 

Widerstand in einer Demokratie?

 

EIN GASTBEITRAG VON ANDRÉ POSTERT in CICERO ONLINE am 24. November 2020

 

Sophie Scholl, Graf Stauffenberg und andere Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime gelten zu Recht als Helden. Doch ist der Widerstand gegen eine mörderische Diktatur vergleichbar mit Corona-Protesten in einer Demokratie? Über den Denkfehler der „Querdenker“.

 

In erklecklicher Zahl gehen Menschen gegen die Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern auf die Straße. Widerstand ist in aller Munde. Eine Zeitung nennt sich „Demokratischer Widerstand“, eine Protestpartei „Widerstand 2020“. Gegner der Corona-Politik sieht man mit dem vermeintlichen Zitat Bertolt Brechts: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Und eine junge Frau, die auf der Bühne ins Mikrofron spricht, wähnt sich in den Fußstapfen der mutigen Sophie Scholl. Wohl seit der außerparlamentarischen Opposition in den 1960er und 1970er Jahren ist nicht mehr so oft von Widerstand die Rede gewesen.

 

Die Frage, was Widerstand ist, lässt sich auf den ersten Blick nüchtern klären: eine Handlung, die gegen die herrschende Ordnung, ihre Gesetze oder Vorgaben gerichtet ist. Das deutsche Strafgesetz spricht – jeder kennt das – vom „Widerstand gegen die Staatsgewalt“, was unter anderem körperliche Tätlichkeiten gegen Vollstreckungsbeamte meint. Nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ des Jahres 1933 billigt uns das Grundgesetz in Artikel 20 jedoch auch das Widerstandsrecht zu – „gegen jeden“, heißt es da, „der es unternimmt, diese [verfassungsmäßige] Ordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Man merkt: Zwischen Recht und Unrecht wird es mit dem Widerstand kompliziert.

 

Aktiver und passiver Widerstand

 

Etwas leichter hat man es, nähert man sich dem Widerstand über die Geschichte an. Wer über Opposition im Nationalsozialismus oder in der DDR schreibt, nutzt „Widerstand“ als einen Oberbegriff – mit einer Reihe von Unterbegriffen. Historiker unterscheiden zwischen dem aktiven und passiven Widerstand. Der Erstere schreitet zur Tat, wie die Geschwister Scholl und die „Weiße Rose“ mit ihren illegalen Flugblättern. Passiver Widerstand meint Gehorsamsverweigerung oder ein Verhalten, das auffällig abweicht; die leichteste, aber ebenfalls nicht ungefährliche Art des Widerstands. Eine Diktatur erkennt man daran, dass sie dies alles verfolgt, unterdrückt und bestraft – in nicht wenigen Fällen gar mit dem Tod.

 

Opposition, die in widerständige Handlungen umschlägt, ist in Diktaturen das Geschäft einer Minderheit. Wer Widerstand leistete, richtete sich nicht nur gegen den Staat und seine Gesetze, sondern hatte im Regelfall die Mehrheit gegen sich. Man denke an die NS-Diktatur, in der, wer Gefolgschaft verweigerte, sich als „Volksfeind“ aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen sah. Oder an die DDR, in der Konterrevolutionäre und Saboteure verfolgt und denunziert wurden. Dass der Widerstand in die Lage gerät, zur großen Zahl zu wachsen und in einer Revolution einzumünden, gab es in Deutschland selten – am ehesten 1989, als die DDR endete, weil die Friedliche Revolution die Straßen überschwemmte.

 

Widerstandshelden werden im Nachhinein geboren

 

Die Erfahrung zeigt außerdem: Erst im Rückblick verwandeln sich widerständige und illegale Handlungen in vorbildliche, sogar heroische Taten. Was früher gesetzeswidrig war und von der Mehrheit verachtet wurde, wird dann zu einem Lichtblick aus dunkler Zeit.

 

Anders gesagt: Die Position des Widerständigen wurde im Regelfall erst akzeptiert und gesellschaftlich anerkannt, wenn die Ordnung, gegen die er sich gerichtet hat, schon nicht mehr existierte. Das stellt uns vor Probleme. Denn wenn es so ist, dass der Widerstand gegen den Staat und gegen die Mehrheit agiert, er zudem erst spät auf Anerkennung stößt: lässt sich dann mit Gewissheit sagen, wann der Widerstand aus richtigen Motiven erfolgt und gerechtfertigt ist? Sogar die NS-Diktatur besaß – das will man kaum glauben – ihre Widerstandshelden und einen eigenen Widerstandsbegriff. In einem Nazi-Schmöker, der 1933 erschien, springt einem ins Auge: Die SA sei durch ihren Fanatismus und Glauben zu einem „stählernen Widerstand“ gegen das korrupte System der Republik befähigt worden.

 

Klar ist: Der Widerständige sieht seine Handlung immer anders als der Staat, gegen den er sich richtet. Stets nimmt er für sich in Anspruch, aus Idealismus oder höheren Werten zu handeln. Die Frage, wann Widerstand geboten ist, hat man in verschiedenen Epochen anders beantwortet. Thomas Hobbes, ein Philosoph des 17. Jahrhunderts, billigte ein Recht auf Widerstand eingeschränkt zu: Nur das Recht des Menschen auf sein nacktes Leben legitimierte Widerstand gegen den Monarchen.

 

Ab wann wird Widerstand legitim?

 

Folglich: Wenn der Herrscher dem Untertanen nach dem Leben trachtete, dann sollte der Untertan aufbegehren dürfen – aber nur dieser eine, nicht die anderen. Über ein Jahrhundert später war auch Immanuel Kant das Widerstandsrecht nicht geheuer. Der moderne Staat hatte eine Rechtsordnung geschaffen, was Kant eine so vorzügliche Errungenschaft schien, dass wenig den Widerstand dagegen legitimierte. Für das republikanische Frankreich, das nach der Revolution 1789 entstand, konnte sich Kant erwärmen. Für den gegenrevolutionären Aufstand der Bauern aber nicht.

 

Die normative Bewertung von Widerstand setzt somit einen Standpunkt voraus. Je nach Zeit, Person, Ort und Kontext wird die Frage nach der Legitimität von Widerstand ganz unterschiedlich beantwortet. Zu sagen, wir müssten deshalb auf Wertmaßstäbe verzichten, wäre dennoch falsch. Es ist fast unmöglich, Widerstand zu denken, ohne ihn zu bewerten.

 

Ein positives Verhältnis zum Widerstand

 

Dass wir heute ein positives Verhältnis zum Widerstand haben, hat mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu tun. Zwei totalitäre Diktaturen liegen hinter uns: der Nationalsozialismus und die DDR. Beide sind nicht gleichzusetzen. Erstere war, platt gesagt, tödlicher als Letztere. Beide haben jedoch unsere Vorstellung davon, was Einzelne gegen den Staat und die Mehrheit tun sollten, erheblich beeinflusst.

 

Der Mut der Minderheit soll uns zu Recht als Vorbild dienen. Wertschätzung lassen wir auch denen angedeihen, die zwar Widerständler, aber keine Demokraten waren – so bei Graf Stauffenberg, dessen Hitler-Attentat im Juli 1944 nicht primär die Wiedererrichtung einer Republik bezweckte. Und bei Georg Elser, dessen Attentat auf Hitler im November 1939 unglücklich scheiterte, stellt man die seit der Antike diskutierte Frage nach der Legitimität des „Tyrannenmords“ kaum noch. Wir ahnen: Hätte Elser mit seiner kühnen Tat Erfolg gehabt, dann wäre früh viel Leid, Krieg, Verbrechen und Völkermord vermieden worden.

 

Widerstand in einer Demokratie?

 

Die Frage steht im Raum, was Widerstand in der Demokratie bedeutet, ob es einen legitimen Widerstand in der Demo-kratie überhaupt geben kann. Unsere Verfassungsväter und -Mütter (61 Männer, 4 Frauen) haben das Widerstands-recht, wie gesagt, mit Blick auf den Nationalsozialismus niedergeschrieben: Widerstand dürfen wir leisten, wo die Demokratie bedroht ist; auch gegen den Staat, sofern die Bedrohung von ihm ausgeht. Gemeint ist ein Staatsstreich. Von diesem Notfall sind wir – sicher, die „Querdenker“ sehen das anders – weit weg. Und sonst?

 

Unsere Alltagssprache deutet auf unser positives Verhältnis zum Widerstand hin. Gegen diese oder jene Ungerechtigkeit vorzugehen, halten viele Menschen für wichtig und notwendig. Doch der Widerstand in der Diktatur ist nicht mit dem zivilen Ungehorsam und Protest in der Demokratie gleichzusetzen. Die Bundesrepublik gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Uns steht der Rechtsweg bis hin zum Verfassungsgericht offen. Der friedliche Protest wird nicht niedergeknüppelt, die Opposition nicht in Lager gepfercht. Sie ist Teil des politischen Systems, in dem Wahlen die Revision falscher oder ungerechter Entscheidungen ermöglichen. Wo Widerstand mit Gewalt einhergeht, gilt, was Karl Ballestrem schrieb: „Aktiver Widerstand in einer freiheitlichen Ordnung ist Terrorismus.“

 

Dass in Demokratien nicht zu leichtfertig von Widerstand gesprochen werden sollte, zeigt einiges von dem, was heute als Widerstand daherkommt: Rechtsextreme, die sich den „nationalen Widerstand“ auf die Fahnen schreiben; Rechts-populisten und „Querdenker“, die sich dem Symbol der „Weißen Rose“ bedienen, um mit der Assoziation zu spielen, dass die Bundesrepublik mit einer Diktatur vergleichbar sei. Reichsbürger mit Fantasiestaaten und falschen Papieren, die Gesetze nicht anerkennen; linksradikale Autonome, die für vermeintliche Ideale vor Gewalt nicht zurückschrecken.

 

Es hat seinen Grund, wenn mancher sagt, dass in der Demokratie wenig Platz für Widerstand ist. Protest und ziviler Ungehorsam sind die besseren Begriffe. Wer ungehorsam ist, mag die Verhältnisse herausfordern, nimmt Rechts-übertretungen in Kauf, aber steht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Er verweigert sich dem Rechtsstaat und Parlamentarismus nicht per se.

 

Gelebter Widerstand

 

Allerdings: Widerstand soll ja nicht nur ein Ehrentitel sein, den man im Nachhinein an geschichtliche Heroen verleiht – an Hans und Sophie Scholl, Georg Elser oder Graf Stauffenberg. Fritz Bauer, der als jüdischer Jurist von den Nazis verfolgt und verhaftet wurde, emigrierte und sich später an den Auschwitz-Prozessen beteiligte, trug in der Bundes-republik viel zur Rehabilitation des anti-nationalsozialistischen Widerstands bei.

 

„Widerstand ist notwendig im Unrechtsstaat“, so Bauer in einem Vortrag 1968, dem Jahr der beginnenden Studenten-proteste, nur wenige Tage vor seinem Tod: „Die Bundesrepublik ist kein Unrechtsstaat. Aber Unrecht gibt es hier und anderwärts, und die Würde des Menschen und seine Rechte sind immer und überall in Gefahr, im Namen einer Staatsraison verkürzt zu werden.“ Für Bauer, der den Begriff des Unrechtstaates prägte, gründete der legitime Widerstand auf den universalen Menschenrechten. Wo sie verletzt zu werden drohten, sah er uns gefordert, um ungehorsam zu sein und einzuschreiten.

 

Es gibt keine letzte Instanz

 

Eine letzte Instanz, die entscheidet, wann Widerstand geboten ist, existiert nicht. Wie umgehen damit, dass Widerstand richtig ist, wo Unrecht droht, aber Widerstand in der Demokratie einer besonderen Begründung bedarf? Bernd Ladwig, Professor für politische Theorie und Philosophie in Berlin, hat eine Lösung angeboten: Der Widerstand im demokra-tischen Rechtsstaat bedürfe, sagt Ladwig, der „Öffnung zur Öffentlichkeit“, um Legitimität beanspruchen zu können. Das heißt: Der Widerständige soll sich nicht verschanzen und nicht dogmatisch behaupten, dass er die Wahrheit gepachtet habe.

 

Nicht nur im Spiegel zu sich selbst oder im Beisein der Gesinnungsfreunde soll er reden, sondern vor anderen soll er sich erklären. Er darf die Debatten nicht scheuen. Durch die Hinwendung zur Öffentlichkeit „geben die Handelnden zu verstehen, dass sie sich keine […] Sonderrolle anmaßen. Nur so können sie glaubhaft machen, dass sie zwar ‚auf eigene Faust‘, jedoch im Namen einer verständigen Öffentlichkeit vorgehen.“

 

So kann sich Widerstand legitimieren: eingebettet in die Demokratie, Diskussion und Anschluss an die Gesellschaft suchend, dabei auch bereit, sich selbst kritisch zu prüfen. Nur: Wird das, was auf unseren Straßen stattfindet, diesem Anspruch gerecht? Meistens nicht.

 

Dr. André Postert, geboren 1983, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, wo er 2013 promovierte. Er ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden und arbeitet in den Themenfeldern Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Rechtsextremismus in der Gegenwart.

 

https://www.cicero.de/innenpolitik/demokratie-widerstand-corona-nationalsozialismus-ddr-demonstrationen-querdenker