Christliche Philosophie?


 

Christliche Philosophie – Kann es das überhaupt noch geben?

 

Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Philosophie stellt, wird früher oder später mit dem bekannten Diktum Martin Heideggers konfrontiert, dass christliche Philosophie “ein hölzernes Eisen” sei.

Martin Heidegger meinte damit vermutlich, dass eine christliche Philosophie nicht möglich sei, weil es sich um etwas handelte, was es entweder gar nicht wirklich geben kann oder was sich zumindest nicht mehr realisieren lässt.

 

Allerdings ist nicht so ganz klar, was Heidegger damit gemeint hat, dass christliche Philosophie wie ein "hölzernes Eisen" sei. Heidegger kann damit kaum gemeint haben, dass es in der langen Geschichte der europäischen Philosophie keine christlichen Philosophen gegeben habe, die Werke mit christlichen Inhalten verfasst und hinterlassen haben. Denn es ist unzweifelhaft, dass es von Aurelius Augustinus bis Franz Brentano und von C.S. Lewis bis Josef Pieper einige christliche Philosophen gegeben hat, die als Christen philosophiert haben.

 

Auch gibt es gegenwärtig immer noch einige bekannte und kompetente christliche Philosophen wie Alvin Plantinga (reformiert), Josef Seifert (römisch-katholisch), Richard Swinburne (orthodox) und Theo Kobusch (römisch-katholisch),

die ganz bewusst als bekennende Christen philosophieren und die philosophische Schriften mit ausgewählten christ-lichen Inhalten publizieren. Aber daraus folgt nicht unbedingt, dass die Philosophie in ihren publizierten philosophi-schen Schriften christlich ist. Oft handelt es sich eher um apologetische Schriften, die zumindest die logische Konsistenz und damit die minimale Rationalität oder auch die epistemische Plausibilität ihres christlichen Glaubens (einer ganz bestimmten Konfession oder Tradition) verteidigen, wie es auch christliche Theologen tun.

 

Wer sich Heideggers Verdikt zu eigen machen und verteidigen will, muss zugeben, dass es auch heute noch christliche Philosophen gibt, die in ihren Schriften christliche Gedanken äußern. Aber das bedeutet nicht, dass es sich dabei im eigentlichen Sinne noch um Philosophie handelt. Denn oft handelt es sich nur um eine verkappte Theologie. Dann müsste man ähnlich wie Thomas von Aquin oder Immanuel Kant darauf bestehen, dass die universale und rationale Philosophie und die parochiale und biblische christliche Theologie streng voneinander zu unterscheiden sind.

 

Wer sich Heideggers Auffassung und Verdikt anschließt, wird geneigt sein, zu behaupten: Wenn ein Denken christlich ist, wie das Denken von Sören Kierkegaard, dann ist es eben keine Philosophie mehr. Es handelt sich dann vielmehr um die eigensinnigen Reflexionen eines philosophierenden Schriftstellers über bestimmte Themen des christlichen Glaubens, selbst wenn sie voll von genialen Einfällen und glänzenden Gedanken sind.

 

Wenn jedoch ein Denken wirklich philosophisch ist, wie das vorchristliche Denken von Platon und Aristoteles oder wie das nachchristliche Denken von Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, dann ist es nicht mehr christlich, obwohl es bestimmte religionsphilosophische Gedanken und Schriften über eine philosophische "Religion innerhalb

der Grenzen der bloßen Vernunft" oder über "Glauben und Wissen" enthält. Es handelt sich dabei zwar um genuin philo-sophische Reflexionen, wie z.B. bei Kants Gedanken über das radikale Böse im Menschen oder bei Hegels Reflexionen über den Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens aufgrund der spezifisch christlichen Idee von der geschichtlich einmaligen Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.

 

Nun war Heidegger jemand, der sich gerne auf anschauliche Beispiele aus der Lebenswelt bezogen hat, wo es in seiner künstlichen Alltagssprache in der Lebenswelt Vorhandenes und Zuhandenes gibt. Vorhandenes ist das, was jemand einfach nur vorfindet, wie die Sitzbank, den Baum oder das Kreuz am Rande eines Feldweges. Zuhandenes sind der vertraute Hammer, die eigenen Hausschuhe oder der Besen vor der Hütte neben der Tür, die gleichsam eine gewohnte Verlängerung des leiblichen Daseins und der alltäglichen Vollzüge sind.

 

Sein Vergleich mit einem hölzernen Eisen soll verdeutlichen, dass es ebenso wenig eine christliche Philosophie geben kann, wie es ein hölzernes Eisen geben kann. Aber ist dieser Vergleich wirklich passend? Ein Fass ist hölzern, weil es aus Holz gemacht ist. Die Ringe rund um das Fass herum sind eisern, weil sie aus Eisen gemacht sind. Aber wenn so ein Holzfass von eisernen Ringen umspannt und zusammen gehalten wird, dann ist es weder ein hölzernes Eisen noch ein eisernes Holz, sondern ein Holzfass mit eisernen Ringen. Könnte eine christliche Philosophie dann aber nicht auch ein philosophisches Denken sein, das von christlichen Grundgedanken gleichsam umfasst und zusammen gehalten wird?

 

Aber welche christlichen Gedanken könnten und sollten das sein? Es müsste sich doch im Kern um den trinitarischen Glauben handeln, der biblisch fundiert ist und auf jeden Fall spezifisch christlich ist: Denn der monotheistische Glaube an das Dasein Gottes ist nicht spezifisch christlich, weil Christen ihn mit Juden, Muslimen, Parsen, Sikhs, Bahais und anderen teilen. Der Glaube an die (einmalige und einzigartige) Inkarnation Gottes in Jesus von Narareth bzw. der Glaube an die Gottessohnschaft und zweifache Natur Jesu Christi (als wahrer Mensch und als wahrer Gott in Personalunion) ist zwar spezifisch christlich, kann jedoch weder aus der allgemeinen menschlichen Erfahrung noch aus der allgemeinen Vernunft stammen, also nicht rein philosophisch verstanden oder begründet werden. Der Glaube an den Heiligen Geist als den von Jesus Christus gesandten Beistand und Tröster (in auferweckten, bibeltreuen und wiedergeborenen Chris-tenmenschen), die an den gekreuzigten, gestorbenen und leiblich auferstandenen Jesus Christus glauben, ist zwar auch spezifisch christlich, kann jedoch ebenfalls weder aus der allgemeinen menschlichen Erfahrung noch aus der allge-meinen Vernunft stammen, also auch nicht rein philosophisch verstanden oder begründet werden.

 

Diese spezifisch christlichen Glaubensinhalte stammen letzten Endes aus einer hermeneutisch angemessenen, mög-lichst konsistenten und möglichst plausiblen Interpretation der biblischen Schriften. Das stimmt auch dann, wenn jemand diese christlichen Glaubensinhalte nicht selbstständig aufgrund eigener Lektüre der ganzen Bibel gewonnen hat, sondern sie nur nach und nach auf vertrauliches Hörensagen hin von seiner christlichen Ursprungsfamilie, von seiner kirchlichen Gemeinde oder von anderen christlichen Apologeten, Laien, Missionaren oder Predigern vermittelt bekommen und übernommen hat.

 

Martin Heidegger hatte also sicher nicht bestreiten wollen, dass es in der Geschichte der europäischen Philosophie bedeutende christliche Philosophen gegeben hat. Aurelius Augustinus, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin

und Francisco Suarez waren aufrichtige, kluge und immer noch lesenswerte christliche Philosophen mit vielen heraus-fordernden Gedanken und mit einigen immer noch gültigen Einsichten.

 

Auch hatte sich Heidegger schon in seinem Studium mit Franz Brentanos Dissertation Über Die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles auseinander gesetzt und wurde über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus habilitiert. Also hatte er sich auch selbst zumindest mit den Schriften von zwei weiteren bedeutenden und einfluss-reichen christlichen Philosophen intensiv auseinandergesetzt.

 

Aber selbst, wenn diese Denker genuin christliche Schriften verfasst haben, und wenn sie zumindest Philosophen und Theologen in Personalunion waren, könnte Heidegger immer noch einwenden, dass sie zwar christliche Philosophen gewesen seien, aber dass ihre philosophischen Schriften im Unterschied zu ihren genuin christlichen Schriften dennoch nicht christliche Philosophie enthalten haben können. Heideggers Auffassung und Verdikt ist also nicht so einfach zu widerlegen, wie es sich einige christliche Denker erhoffen.

 

Wenn Heidegger darauf bestand, dass es keine christliche Philosophie geben kann, dann kann er das kaum in dem Sinn gemeint haben, wie wenn jemand zurecht feststellt, dass es schließlich auch keine christliche Logik und keine christliche Mathematik gibt. Das ist zwar sicher ganz richtig, aber philosophisches Denken verhält sich zum christlichen Glauben ganz anders als philosophisches Denken zur Logik und Mathematik. Denn obwohl Philosophie ganz sicher mehr ist als nur formal korrektes Denken und Schließen und auch sicher mehr ist als nur formal korrektes Argumentieren und Beweisen mit speziellen logischen Zeichen, kann es sich nicht einfach von der rationalen Forderung nach logischer Widerspruchsfreiheit lösen.

 

Wenn  Juden, Christen und Muslime glauben, dass es einen und nur einen Gott gibt, wenn Atheisten, Buddhisten, Konfuzianer und Advaida-Vedanta-Anhänger hingegen glauben, dass es keinen Gott gibt, sondern nur "das sog. Sein" schlechthin (das nach Hegel und Heidegger jedoch mit dem sog. "Nichts" zusammenfällt) dann können nun einmal nicht beide Gruppen recht haben. Entweder das eine - oder das andere! Das versteht jedes Kind im Vorschulalter, sobald es gelernt hat, in ganzen Sätzen zu sprechen. Denn der Erwerb seiner ersten Sprache, der sog. Muttersprache, setzt nun einmal ein emergierendes logisches Unterscheidungsvermögen voraus, für dessen rechtzeitige Emergenz es bei hin-reichender Wahrnehmung von sprachlichen Äußerungen ein angeborenes neuro-psychologisches Potential gibt (Noam Chomsky und Steven Pinker).

 

Auch in Matthäus 5, 37 heißt es übrigens einmal, dass Christen zwar nicht schwören sollen, dass sie aber in Bezug auf existenziell wichtige Aussagen, wie beim Eheversprechen, beim Geschäftemachen oder bei Zeugenaussagen vor Gericht eindeutige und klare Aussagen und Beteuerungen machen sollen: "Sag einfach ›Ja‹ oder ›Nein‹. Alle anderen Beteue-rungen zeigen nur, dass du dich vom Bösen bestimmen lässt." (Übersetzung: Hoffnung für Alle)

 

Das Gleiche trifft zu, wenn manche voreingenommenen und falsch informierte Atheisten behaupten, dass Jesus nie wirklich gelebt habe oder wenn Muslime behaupten, dass Jesus von Nazareth nicht wirklich gestorben und schon gar nicht leiblich auferstanden sein kann. Bibeltreue Christen glauben jedoch ganz im Gegenteil genau alle drei Glaubens-inhalte: (1.) dass Jesus von Nazareth wirklich gelebt hat, (2.) dass er wirklich an einem Kreuz gestorben ist und (3.) dass

er wirklich nach etwa drei Tagen leiblich auferstanden ist. Es lässt sich also ziemlich gut bestimmen, was christliche Glaubensinhalte sind, und dass ihre Quellen die Bibel und darin insbesondere das Neue Testament bzw. die Apostel

und die ersten Zeugen unter den frühen Christen sind. Wer wie viele zeitgenössischen Mitglieder christlicher Kirchen diese drei Kerninhalte des christlichen Glaubens leugnet und dennoch behauptet ein Christ oder eine Christin zu sein, betrügt sich leider selbst und seine Mitmenschen.

 

1. Franz Brentano als christlicher Philosoph

 

Franz Brentano hatte nicht nur Philosophie, sondern auch katholische Theologie studiert und wurde 1864 zum kath-olischen Priester geweiht. Aber sein philosophisches Hauptwerk Psychologie vom empirischen Standpunkt war eine allgemeine philosophische Abhandlung über die Grundbegriffe der Psychologie und über die Klassifikation der psychischen Phänomene und damit kein spezifisch christliches Denken. Auch seine beiden Schriften zur Ethik Vom Ursprung der sittlichen Erkrenntnis sowie Grundlegung und Aufbau der Ethik waren originelle Meisterwerke zu einer allgemeinen Ethik und Abhandlungen zur Grundlegung einer rationalen Wertethik, aber keine christliche Ethik.

 

Daher gilt Franz Brentano zurecht als ein Neoaristoteliker, der in seinem philosophischen Denken insbesondere an Aristoteles, Descartes, Leibniz und Locke angeknüpft hatte. Seine späte Abhandlung Vom Dasein Gottes ist eine Sammlung seiner schriftlich verfassten Überlegungen über vier klassische Gottesbeweise ergänzt durch einen eigenen, neuenoriginellen Versuch, das Dasein Gottes und die Immaterialität des menschlichen Geistes zu beweisen. Diese Überlegungen vermitteln einen philosophischen Theismus und eine Konzeption über die Intentionalität des Psychischen und über die Wirklichkeit des menschlichen Geistes, aber keine spezifisch christliche Philosophie oder gar nur eine als Philosophie ausgegebene christliche Theologie.

 

Ähnliches gilt erst recht von Brentanos Abhandlungen Über Aristoteles und über seine gesammelten Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Dort finden wir die Beiträge eines christ-lichen Philosophen, der eine kritisch-realistische Philosophie entwickelt hatte, die sich teilweise gegen Kant und vor allem gegen den Deutschen Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling) richtete.

 

Franz Brentano ist zwar in seinen Anfängen ein katholischer Priester gewesen, legte aber 1873 sein Priestertum nieder, weil er (etwa 1oo Jahre vor Hans Küng) die Kanonisierung des damals neuen Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes ablehnte. 1879 trat er dann sogar aus der römisch-katholischen Kirche aus. Davor prüfte er noch die Glaubwürdigkeit einiger anderer neuer Dogmen (Lehrmeinungen) der römisch-katholischen Kirche, wie etwa der Himmelfahrt Mariens. Diese neuen Dogmen hatte die römisch-katholische Kirche im Kirchenkampf des Modernismus erfunden, um ihre Autorität zu stärken.

 

Brentano war dabei ein besonders konsequenter Mensch, der mit seinem Philosophieren nicht nur wie unzählige mittelmäßige Philosophieprofessoren seine Brötchen durch Klassikerinterpretationen verdiente, sondern sie noch wie Sokrates, Platon und Aristoteles als existenziell verbindlich verstanden hatte. Dazu hatte er auch für den Mainzer Bischof Ketteler ein Gutachten verfasst, das zur Abspaltung der bekenntnistreuen Altkatholischen bzw. Christkatholischen Kirche geführt hat, die heute noch in ökumenischer Gemeinschaft mit den anderen christlichen Kirchen und insbesondere mit den episkopalen bzw. altkatholischen Kirchen existiert und kooperiert.

 

Gleichwohl ist Brentano bis zum Ende seines Lebens philosophisch ein Theist geblieben, der nicht nur an das Dasein Gottes glaubte, sondern der auch – anders als Hume und Kant – glaubte, dass es beweisbar sei und der es daher auch zu beweisen versuchte. Außerdem ist er immer noch ein freigeistiger Christ geblieben, der sich jedoch gründlich mit den Dogmen (Lehrmeinungen) der Römisch-Katholischen Kirche auseinandergesetzt hatte, wie seine religionsphilosophi-sche Abhandlung Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung zeigt.

 

Brentanos Beispiel zeigt uns, dass jemand durchaus ein christlicher Philosoph sein kann, dessen Philosophie allgemein-gültig ist, und zugleich ein christlicher Denker, der seine Gedanken zur Grundfragen des christlichen Glaubens darlegt, ohne jedoch zu versuchen, eine genuin christliche Philosophie zu entwickeln. Philosophie und (jüdische, christliche und islamische) Theologie sind demzufolge unterschiedliche kognitive Disziplinen oder - salopp gesagt - verschiedene "akademische Baustellen". Franz Brentano war anders als Kant und Hegel, Heidegger und Jaspers, Philosoph und Theologe in Personalunion.

 

Obwohl Heideggers Auffassung und Verdikt gegen die Möglichkeit einer christlichen Philosophie zutrifft, kann jemand immer noch wie Franz Brentano ein christlicher Philosoph mit einer allgemeingültigen Philosophie sein, die gar nicht erst versucht, "christliche Philosophie" zu sein. Dennoch kann jemand unabhängig davon wie alle christlichen Theologen und Apologeten vor ihm, seine eigenen Gedanken zum christlichen Glauben in der Auseinandersetzung mit irgendeiner christlichen Konfession oder Tradition darlegen, um damit zugleich apologetisch und kulturkritisch zu wirken.

 

2. Martin Heidegger und Karl Jaspers

 

Martin Heidegger ist einer der deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, über den auch einige zeitgenössische Philosophen und Philosophiehistoriker immer noch nachdenken, sprechen, lehren und schreiben. An ihm scheiden

sich jedoch immer noch die philosophisch Interessierten, weil er spätestens ab 1933 und seit seiner berüchtigten Freiburger Rektoratsrede ein überzeugter Nationalsozialist gewesen ist. Außerdem hat Heidegger höchst eigensinnige und dunkle, sprachlich nur schwer verständliche Schriften hinterlassen, in denen er wie kaum ein anderer Philosoph seit Friedrich Hölderlin wieder Dichten und Denken zu vereinen versucht hat.

 

Damit erinnert Heidegger einerseits an Platon, der zweifelsohne der größte Dichter philosophischer Dialoge und neben Aristoteles zugleich der größte Philosoph der vorchristlichen Antike gewesen ist. Platon hat zwar mit seinen philosophi-schen Werken seinem verehrten Lehrer Sokrates und dessen unermüdlicher Wahrheitssuche ein schriftliches Denkmal gesetzt. Aber dieser schöngeistige Platon hatte sich andererseits auch einmal in die höfischen Intrigen und in die kalte Machtpolitik des Syrakuser Tyrannen Dionysius II. verstricken lassen. Auch Heidegger hatte sich zu Beginn des National-sozialismus einmal sich dazu verstiegen, als Philosoph "den Führer führen" zu können. Heideggers "Schwarze Hefte" zeugen heute noch von seinem nationalsozialistisch motivierten Kampf gegen das Judentum und Christentum.

 

Anders als Platon hat Heidegger wie Friedrich Nietzsche gegen Platons apollinische "Flucht in die Ideen" rebelliert und wie Hegel das Zeitliche und Geschichtliche des menschlichen Daseins als unentrinnbares Schicksal angenommen und verkündet. Damit hat er stärker als Kant nicht nur jede religiöse Hoffnung auf die Unsterblichkeit der menschlichen Geistseele verworfen, die im esoterischen Denken der europäischen Ideengeschichte von Platon und Pythagoras bis zu Emmanuel Swedenborg und Rudolf Steiner präsent gewesen ist. Damit hat er sich aber auch noch vom altkatholischen Glauben seines Elternhauses  verabschiedet und radikal mit der christlichen Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung gebrochen.

 

Heidegger selbst hat sich anders als Brentano weder als christlichen Philosophen verstanden noch hat er seine eigenen Gedanken zum christlichen Glauben in kritischer Auseinandersetzung mit irgendeiner christlichen Konfession oder Tradition dargelegt. Heidegger ist nach seiner Distanzierung vom christlichen Glauben und der altkatholischen Kirche  weder Christ noch Theist geblieben ist, auch wenn ihm seine Anhänger immer noch irgendeinen Glauben an einen "kommenden Gott" anzudichten versuchen.

 

In seiner Marburger Zeit ließ er sich auch nicht von Rudolf Bultmann dazu bewegen, zur evangelischen Kirche über-zutreten wie Edmund Husserl, sein Freiburger Lehrer und Begründer verschiedener Spielarten der Phänomenologie. Vielmehr konnte Heidegger umgekehrt Rudolf Bultmann, den evangelischen Theologen für Neues Testament in seinen Bann schlagen und ihn dazu bewegen, sich von seinem Hauptwerk Sein und Zeit inspirieren zu lassen und sein bis heute nachwirkendes existenzialistisches "Entmythologisierungsprogramm" zu entwickeln. Auf diese Weise hat der über-zeugte Nazi Heidegger via Bultmann bis heute zur Selbstzerstörung des biblisch begründeten christlichen Glaubens in der Evangelischen Kirche in Deutschland beigetragen.

 

Heidegger wurde nach seinem Bruch mit dem christlichen Glauben weder zu einem Philosophen des aufgeklärten Christentums, wie Max Scheler oder Edmund Husserl, noch zu einem Lebensphilosophen, wie Rudolf Eucken, noch zu einem neuplatonischen Philosophen der Einheit von Existenz und Vernunft wie Karl Jaspers. Vielmehr wollte Heidegger aufgrund einer bis dahin unerhörten Dekadenztheorie der abendländisch-europäischen Metaphysikgeschichte von den Vorsokratikern bis zum technokratischen Positivismus und Szientismus der Moderne einerseits das unwiderrufbare Ende der abendländisch-europäischen Metaphysik von Gott, Seele und Welt diagnostizieren und andererseits ein neues Denken des geschichtlichen Seinsgeschickes durch sein dichtendes Denkens proklamieren. Seine wichtigsten Kron-zeugen und Vorbilder dabei waren Hölderlin und Schelling, Kierkegaard und Nietzsche. Das angeblich spezifisch jüdische Sollen stand jedoch dem von ihm diagnostizierten "Seinsgeschick" im Weg und sollte überwunden werden.

Wie seine "Schwarzen Hefte" belegen; sah er darin seinen denkerischen Beitrag zur antisemitischen und antichristlichen Aufgabe des Nationalsozialismus.

 

Heideggers spätes Diktum „Nur noch ein Gott kann uns retten.“ war weder der Ausdruck einer späten Reue noch der

geistliche Impuls zur Rückkehr eines verlorenen Sohnes in das heimische Haus des Vaters noch ein Bekenntnis zum kommenden Gott der Juden, sondern ein bewusst vages Sprachspiel und vielleicht sogar ein bauernschlauer Missbrauch des unbestimmten Wortes „Gott“ mit einer schillernden Vielfalt an möglichen Bedeutungen.

 

Das Wort „Gott“, aber nicht die Namen JHWH oder ABBA standen auch auf der Gürtelschnalle der deutschen Wehr-machtssoldaten, die für Hitler in den Krieg gezogen sind und die mehrere Millionen Menschen in Ost- und Westeuropa grausam umbrachten. Mit dem Wort „Gott“ hätte sich Heidegger auch auf tote Götterbilder wie Jupiter oder Zeus, Thor oder Odin beziehen können oder auf die heraufkommenden Götzen der modernen Magie von Wissenschaft und Tech-nik, wie z.B. auf die damals noch weitgehend unbekannte Humangenetik, auf das weltumspannende Netzwerk der Digitalen Technologien und der sog. Künstlichen Intelligenz, auf die technokratische Selbstermächtigung zur medika-mentösen und operativen Geschlechtsumwandlung oder auf den "übermenschlichen" Transhumanismus.

 

Seine späteren Gedanken zum "kommenden Gott" sind  kaum noch angemessen als "christlich" zu bezeichnen. Darüber hinaus sind sie aber auch nicht theistisch im klassischen griechischen Sinne, da der klassische Theismus Gott als ein allumfassendes, einheitliches, ewiges und omnipräsentes Wesen versteht, das keine Teile oder Organe hat und das keinen zeitlichen Veränderungen unterliegt. Das kann man jedoch kaum vom biblischen Gott JHWH sagen, der nach

den biblischen Erzählungen mit seinem Volk Israel einen wechselseitigen Bund der Treue eingegangen ist und seither mit ihm in einer lebendigen und leidvollen Beziehung steht.

 

Karl Jaspers hingegen, Heideggers früher Mitstreiter, mit dem er sich in den 20er Jahren von der in Routinen erstarrten akademischen Schulphilosophie distanziert hatte, stammte aus einer eher unkirchlichen und weitgehend säkularisierten protestantischen Familie.  Jaspers war nach seinem Studium der Medizin zuerst Arzt und Psychiater und wurde dann erst nach der Zwischenstation als Professor für die damals noch junge Psychologie zum Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg ernannt. Jaspers wurde daher zum Professor für Philosophie berufen, ohne jemals selbst an einer Universität Philosophie studiert und förmlich abgeschlossen zu haben. Das war auch damals schon äußerst ungewöhn-lich und wurde von den “Fachphilosophen” nicht gerne gesehen und daher "despektierlich" kommentiert. Jaspers war jedoch schon seit seiner Jugend ein passionierter Leser zahlreicher Schriften seiner Lieblingsphilosophen Platon, Spinoza und Kant gewesen.

 

 Jaspers hatte sich selbst jedoch bisweilen für einen "guten Protestanten" und christlichen Philosophen gehalten. Aber

es ist fraglich, ob er damit nicht sich selbst und Andere getäuscht hatte. Denn das wird vor allem aus seiner existenz-philosophischen Ablehnung einer allgemeinen Ethik und aus seiner bewussten Gleichstellung von Sokrates, Jesus, Konfuzius und Buddha als den vier “maßgebenden Menschen” der Weltgeschichte deutlich. Da Jaspers gerade in dieser entscheidenden Hinsicht um eine "geistesaristokratische" Äquidistanz und philosophische Neutralität bemüht war,

sollte man ihn eher als einen neuplatonischen Plotinianer ohne dessen Ethusiasmus für das Schöne verstehen. Denn auch schon Plotin und die Neuplatoniker in der Antike schauten auf die  weniger gebildeten Leute aus dem einfachen Volk herab, die sich zu den Christen hingezogen fühlten und denen die karitativen Werke der Christen vorzugsweise zugute kamen. Damit hatten die Neuplatoniker und die Stoiker wenig im Sinn. Die christliche Agape und Caritas war ihnen aufgrund ihres geistesaristokratischen Stolzes und ihrer apathischen Unerschütterlichkeit (ataraxia) fremd.

 

Wie ich oben schon erwähnt habe, lässt sich also ziemlich gut bestimmen, was spezifisch christliche Glaubensinhalte sind, und dass ihre Quellen die Bibel und darin insbesondere das Neue Testament bzw. die Apostel und die ersten Zeugen unter den frühen Christen sind. Zumindest für bibeltreue Christen ist Jesus der Christus bzw. Yeschua der Messias, der von den Juden kam, und der von sich selbst aussagte: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als durch mich.” Der Gott, den Jesus vertraulich seinen “Vater” (abba) nennt, das ist seinen überlieferten Äußerungen zufolge kein anderer Gott als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, auf den sich auch Blaise Pascal in seinem “Memorial” bezogen hatte. Yeschua war sein Leben lang ein treuer Jude und lehrte als schriftkundiger Rabbi in den Synagogen von Jerusalem.

 

Das bedeutet nicht, dass Sokrates, Konfuzius und Buddha nicht auch kluge und weise Einsichten über das rechte und gute Leben in dieser Welt gehabt hätten. Wohl aber bedeutet es, dass für alle authentischen Christen die höchste Wahrheit leibhaftig in der einmaligen geschichtlichen Person des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus selbst erschienen ist. Der christliche Glaube ist nämlich keine Buchreligion wie der Islam, da Muslime ihren Koran für eine direkte Offenbarung Gottes halten. Die Schriften der Bibel und insbesondere die vier Evangelien und apostolischen Briefe sind keine göttliche Offenbarung in Wort und Schrift, sondern sie zeugen nur als von Menschen verfasste Schrif-ten von der Selbstoffenbarung Gottes durch seine einmalige geschichtliche Menschwerdung in Jesus Christus. Das war sogar für Hegel das Entscheidende am christlichen Glauben.

 

Gleichwohl hat Jaspers in einigen Schriften Gedanken zum christlichen Glauben der Kirchen der Reformation dargelegt. Außerdem hat er sowohl in freundlicher Abgrenzung als auch in kritischer Auseinandersetzung mit dem protestanti-schen Theologen Rudolf Bultmann (Die Frage der Entmythologisierung, München 1954) keinen christlichen, sondern eher einen neuplatonischen "Philosophischen Glauben" entwickelt (Der philosophische Glaube. Fünf Vorlesungen. München / Zürich 1948; Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. Piper, München 1962). Auch seine späte kleine Schrift über die sog. Chiffren der Transzendenz steht schließlich in einer ziemlich großen Distanz zum Glauben der Juden und Christen, weil für sie beide Glaube erstens eine lebendige Beziehung ist, zweitens eine Frage der Treue zu Gottes Wort und drittens kein Schauen weder von Gott selbst noch von Aspekten oder Momenten des "Göttlichen" in Bildern, in Symbolen oder in Zeichen. (Chiffren der Transzendenz. Eine Vorlesung aus dem Jahr 1961, München 1970.)

 

Obwohl es auch nach Heideggers Verdikt und nach Jaspers' Distanzierung von christlicher Philosophie weiterhin frag-würdig bleibt, ob es möglich ist, eine christliche Philosophie zu entwickeln, ist es weder widersinnig noch aussichtslos, als Christ zugleich Philosoph oder als Christin zugleich Philosophin zu sein. Insofern kann ein christlicher Philosoph

bzw. eine christliche Philosophin immer noch, in Anknüpfung an bestimmte Philosophen philosophische Gedanken zu einigen ausgewählten Grundfragen des christlichen Glaubens darlegen, um den christlichen Glauben nach einem bestimmten Verständnis zu verteidigen und um von einem christlichen Standpunkt aus, manche Verirrungen des Zeitgeistes und einige schädliche und inhumane Tendenzen in unserer Kultur zu kritisieren.

 

3. Das Problem der Anknüpfung

 

Wer gegenwärtig an einen christlichen Philosophen aus der Vergangenheit anknüpfen möchte, um dessen philo-sophisches Denken durch einen hermeneutischen Zugang wieder zu beleben, der wird gut daran tun, rivalisierende Positionen aus vergangenen Konstellationen (Platon vs. Aristoteles; Augustinus vs. Thomas von Aquin; Kant vs. Hegel, etc.) zu kennen, die Andere gegenwärtig auch wieder beleben wollen. Eine andere, bessere Form der Anknüpfung an frühere christliche und unchristliche Philosophen wird gemäß der paulinischen Maxime “Prüfet alles, das Gute behaltet!” wie René Descartes eine methodische Skepsis walten lassen und dann als axiomatischen Ausgangspunkt nur dasjenige gelten lassen, was so zweifelsfrei evident ist, dass man durch Erfahrung und Vernunft als Quellen der Erkenntnis ge-zwungen ist, etwas als wahr und nicht nur wie gewöhnliche Meinungen als mehr oder weniger plausibel anzunehmen.

 

Menschliche Erfahrung als Quelle der Erkenntnis bedeutet, dass am Ende einer ganzen Reihe von schlüssigen Begrün-dungen immer eine unmittelbare und evidente innere oder äußere Wahrnehmung steht. Universale Vernunft als Quelle der Erkenntnis bedeutet, dass am Ende einer ganzen Reihe von Begründungen immer eine Zustimmung zu evidenten impliziten apriorischen Axiomen des rationalen Denkens und Urteilens, des logischen Folgerns und Schließens sowie

zu logisch gültigen Ableitungen und Reflexionen steht, aber nicht zu beliebigen kulturell oder sozial angeeigneten Vor-urteilen und Routinen, Konventionen und Traditionen. Das Zusammentragen eines Sammelsuriums von Meinungen seiner ehrenwerten Lieblingsphilosophen ist noch lange keine Philosophie, sondern bestenfalls der Ausdruck seiner eigenen, persönlichen Weltanschauung durch einen "Spruchbeutel".

 

Ich selbst knüpfe einerseits an Immanuel Kants Philosophie an, wobei ich nicht zu einer idealistischen Interpretation seiner kritischen Transzendentalphilosophie neige, sondern zu einer realistischen Interpretation, die Kants eigenes Insistieren auf der Möglichkeit objektiver Erkenntnis in seinen Prolegomena ernst nimmt, weswegen er sich dort deut-lich sowohl von David Humes empiristischen Skeptizismus, von Descartes "problematischen Idealismus" als auch von Bishop Berkeleys "dogmatischen Idealismus" abgegrenzt hat. Dazu gehört auch seine lebenslange Intention einer Vermittlung von empiristischen mit rationalistischen Überzeugungen, an der er bis zuletzt in seiner Preisschrift über

die Fortschritte in der Metaphysik (1804) festgehalten hat.

 

Ich werde jedoch andererseits an Franz Brentanos empirisch-rationale Philosophie anknüpfen, da ich der Auffassung bin, dass Brentano in einigen wichtigen Hinsichten trotz seiner oft zu schroffen Kritik an Kants theoretischer und prak-tischer Philosophie recht hatte. Ich denke jedoch auch, dass Brentano Kants bahnbrechende Entdeckung und Erklärung der Möglichkeit synthetisch-apriorischer Urteile und Erkenntnisse nicht wirklich verstanden hatte, da er an Aristoteles, Descartes, Leibniz und Locke angeknüpft hatte und vermutlich auch wegen ihrer ausweitenden Fortführung und miss-bräuchlichen Konsequenzen bei den Deutschen Idealisten abgeschreckt worden ist.

 

Da Brentano jedoch in den erkenntnistheoretischen Fragen der Evidenz und Gewissheit des empirischen Gehaltes sinnlicher Wahrnehmungen der inneren und äußeren Erfahrung an Descartes und Locke angeknüpft hat, kam er insbesondere in seiner Ethik der rationalen Präferenzen zu Ergebnissen, die umgekehrt Kant in ihrer Bedeutung übersehen hatte, da er zu sehr mit seiner Bahn brechenden transzendental-philosophischen Entdeckung und Erklä-

rung der Möglichkeit synthetisch-apriorischer Urteile (und Erkenntnisse?) im Breich der theoretischen und praktischen Vernunft befasst gewesen ist.

 

Es versteht sich fast schon von selbst, dass eine solche Anknüpfung an zwei so unterschiedliche und teilweise gegen-sätzliche Philosophen wie Kant und Brentano es mit dem grundsätzlichen Problem der Vereinbarkeit von verschiedenen methodischen Ansätzen, fundamentalen Grundbegriffen und philosophischen Grundüberzeugungen zu tun bekommt, das nur durch eine gründliche methodisch-skeptische Prüfung und schöpferische Synthese gelöst werden kann.

 

Aber zum Glück gab es auch schon zwei andere hervorragende Philosophen, die eine solche Synthese zwischen kantischen und brentanoischen Grundgedanken entwickelt haben, nämlich der frühe Edmund Husserl der Logischen Untersuchungen (Bd. 1900/1901) und Bertrand Russell der Problems of Philosophy (1912).

 

Der frühe Edmund Husserl der Logischen Untersuchungen hatte auch schon wie Kant und Brentano in der Grundlegung seiner phänomenologischen Philosophie nur das hat gelten lassen, was entweder in der sinnlichen Gewissheit der Erfahrung oder in der logischen Gewissheit der apriorischen Vernunft begründet werden kann. Dabei hat Husserl Brentanos Konzeption der Intentionalität der psychischen Phänomene übernommen, aber vielleicht noch deutlicher als Brentano zwischen den semantischen, logischen und ontologischen Urteilsinhalten und den psychischen Urteilsakten unterschieden.

 

Leider hat Husserl jedoch ab 1929 mit seiner transzendentalphilosophischen Wende (Cartesianische Meditationen) auch schon bald wieder seine frühe Realistische Phänomenologie zugunsten einer Transzendentalphilosophischen Phäno-menologie aufgegeben. Diese war jedoch mehr von Fichtes subjektivem Idealismus inspiriert als von Kants notorisch ambivalenter Position eines empirischen Realismus und Transzendentalem Idealismus .

 

Bertrand Russell hatte in seiner kleinen Schrift Problems of Philosophy gegen den Idealismus von Berkeley und Hegel auch schon kantische Auffassungen über das synthetische Apriori mit bretanoischen Auffassungen über verschiedene Grade der Evidenz verbunden. Russell war zumindest in logischen, erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen so gründlich gewesen, dass er zeigen konnte, dass eine solche Synthese möglich und plausibel ist.

 

Gerade, weil alle sinnlichen Gehalte der inneren und äußeren Wahrnehmung in unseren menschlichen Aussagen und Urteilen über innere Erlebnisse und über äußere Erfahrungen begrifflich gedeutet (bzw. sprachlich interpretiert) werden müssen, ist es epistemisch eminent wichtig, dabei verschiedene Grade der logischen und empirischen Evidenz unter-scheiden zu können. Dass Russell sich trotz seiner christlichen Prägung und Wertpräferenzen (Mitgefühl und Liebe zur Wahrheit) nicht mehr als Christ verstanden hatte, spielt in den dort behandelten logischen und erkenntnistheoretischen Grundfragen keine Rolle.

 

Ich werde darüber hinaus philosophische Anleihen bei einigen nach-kantischen Philosophen machen, die ich für kom-patibel und sinnvoll halte: Georg Friedrich Wilhelm Hegel (objektiver Geist in rechtsstaatlichen Institutionen), Johann Wolf-gang von Goethe (anschauende Urteilskraft), Nicolai Hartmann (Schichtenontologie der Persönlichkeit und der Natur), Ed-mund Husserl (LU) (kategoriale Wahrnehmung und eidetische Variation zur Bestimmung des Wesentlichen), Karl Jaspers (Allgemeine Psychopathologie) und Karl Popper (sog. “Drei-Welten-Konzeption” bzw. irreduzible Differenz zwischen den physischen, psychischen und geistigen Dimensionen sozialisierter menschlicher Personen).

 

Dass nicht alle diese Philosophen Christen gewesen sind, spielt bei den verhandelten Grundfragen ebenfalls keine Rolle. Denn, was jemand mit dem “natürlichen Licht” des empirischen Verstandes und der apriorischen Vernunft verstehen, erkennen und wissen kann, dürfen Christen im Sinne der paulinischen Maxime “Prüfet alles, das Gute behaltet!” auch für sich annehmen, übernehmen und davon einen freien, verantwortlichen und guten Gebrauch machen.

 

Es versteht sich von selbst, dass ich diese verschiedenen Anleihen nur mache, weil ich sie im Laufe vieler Jahre gründlich geprüft habe und weil ich dadurch zu der Auffassung gekommen bin, dass sie im Alltag und in der Lebenswelt logisch kompatibel, erkenntnistheoretisch plausibel und sowohl phänomenologisch als auch ontologisch vertretbar sind. Man mag diese Synthese zu "synkretistisch" finden, aber das kümmert mich wenig, da ich das reduktionistische Methoden-ideal der Naturwissenschaften und das methodische Prinzip der ontologischen Sparsamkeit (Ockhams Rasiermesser)

in der geisteswissenschaftlichen Philosophie für völlig fehl am Platz halte.

 

Beide methodischen Ideale stammen aus der Physik und Chemie als den beiden fundamentalen Naturwissenschaften. Aber der menschliche Geist stammt aus einer höheren und evolutionär späteren Schicht der Wirklichkeit sowohl in der allgemeinen Naturgeschichte als auch in der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen, sodass solche natur-wissenschaftlichen Prinzipien in den Geisteswissenschaften gar nicht gelten können und im Sinne von Kategorien-fehlern einfach deplaziert sind. Der Chemiker und Wissenschaftsphilosoph Michael Polanyi (1891-1976) hat in seinem philosophischen Hauptwerk Personal Knowledge so klar und deutlich wie kaum ein Anderer nachgewiesen, dass sich

das reduktionistische Methodenideal noch nicht einmal in der Biologie geschweige denn in der Psychologie oder in

der Soziologie erfolgreich und überzeugend anwenden lässt.

 

Wie sollte es dann für die “Königsdisziplin” der Philosophie und für die “Damendisziplin” der christlichen Theologie gelten? Um in der Sprache des Schachspiels zu bleiben, können auch gute Schachspieler aufgrund der Regeln des Schachspiels ihren König außer bei der Rochade immer nur kleine Schritte auf ein benachbartes Feld machen lassen, obwohl er die wichtigste Figur auf dem Feld ist, da das ganze Spiel auf das Schachmatt hinzielt und damit endet. Ihre Dame hingegen können sie kreuz und quer über das ganze Schachbrett führen, solange sie nicht von anderen Figuren daran gehindert wird, weil sie auf einem bestimmten Feld auf dem Schachbrett im Weg stehen. Sobald Schachspieler jedoch ihre Dame verlieren, sinken ihre Chancen erheblich, noch lange verhindern zu können, dass dann bald auch ihr König Schachmatt gesetzt wird. Dann kann die ganze Partie schnell verloren sein.

 

4. Christliche Philosophen ohne christliche Philosophie

 

Obwohl es keine christliche Philosophie (mehr) geben kann, gibt es doch christliche Philosophen, die sich an den allge-meinen Diskussionen zu philosophischen Problemen kompetent beteiligen können und die sich zugleich zu den Pro-blemen des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie kompetent äußern können, ohne zu beanspruchen, dass es eine christliche Philosophie gibt. Dazu können sie sich freilich ebenso äußern wie zu Problemen der modernen Kultur und Gesellschaft, Ökonomie und Politik.

 

Philosophie und christliche Theologie sind grundverschieden, aber dennoch komplementär. Sie beleben und ergänzen sich in einem konstruktiven Dialog als gleichberechtigte Disziplinen. Aber christliche Theologie ist dabei grundsätzlich auf eine überzeugende Philosophie angewiesen, während Philosophie nicht auf christliche Theologie angewiesen ist. Denn es gibt nicht nur nicht-christliche Philosophien und mit dem christlichen Glauben unvereinbare Philosophien, sondern es gibt sogar anti-christliche Philosophien, die nolen-volens zur Zerstörung des christlichen Theologie und des christlichen Glaubens führen müssen, wie z.B. der krude Materialismus (Lukrez), der neuzeitliche Naturalismus (Spinoza), der moderne Positivismus (Auguste Comte, Berliner und Wiener Kreis) und der reduktionistische Szientismus (Quine, Sellars, Rorty, Dennett, u.v.a.m.). Auch eine noch so große Vielzahl verschiedener gleichberechtigter angemessener Interpretationen der biblischen Schriften (z.B. von den einzelnen Gläubigen) ergeben noch lange keine einheitliche christliche Theologie. Aber die Einheit einer jeden christlichen Kirche ist auf eine oder einige miteinander konfligierende und rivalisierende christliche Theologie angewiesen, die in der kirchlichen Praxis Orientierung stiften können.

 

Aber wenn die rationale Philosophie als eine kognitive Disziplin bedroht ist, dann ist das auch für die christliche Theo-logie lebensbedrohlich. Die etwas altertümliche Rede von der Philosophie als der “Magd der Theologie” stammt aus

dem Mittelalter, passt jedoch unter den gegenwärtigen Bedingungen einfach nicht mehr in unsere Zeit. Aber dennoch ist es zutreffend, dass die rationale Philosophie der christlichen Theologie dienen kann und dass eine christliche Theo-logie auf die Unterstützung der rationalen Philosophie angewiesen ist.

 

Passender ist das von Johannes Paul II. stammende johanneische Bild eines Adlers, der nur mit zwei Flügeln fliegen kann: mit dem einen Flügel der rationalen Philosophie und mit dem anderen Flügel der christlichen Theologie. Der Adler braucht seine beiden Flügel und kann auf keinen seiner beiden Flügel verzichten. Wenn ihm auch nur einer dieser beiden Flügel gestutzt wird, dann kann er nicht mehr fliegen und stürzt ab (Enzyklika Fides et Ratio von 1998).

 

Der johanneische Adler hat zwar zwei Flügel, aber nur ein Herz und einen Verstand. Es gibt gegenwärtig nur noch wenige Intellektuelle, die rationale Philosophen und christliche Theologen in Personalunion sind. Aber Menschen mit dieser Art von geisteswissenschaftlicher Bildung, die noch für den Deutschen Idealismus prägend gewesen ist, weil zumindest drei ihrer Protagonisten, nämlich Hegel, Hölderlin und Schelling ursprünglich als Protestantische Theologen aus dem Tübinger Stift gekommen sind, werden heute zunehmend im Namen einer vermeintlichen "Aufklärung" von atheistischen und anti-christlichen Akademikern und Intellektuellen kaum noch geduldet, sondern angegriffen, ge-mobbt und aus den Akademien und Universitäten gedrängt. In dieser Hinsicht ist unsere angeblich so “offene Gesell-schaft” weder offen noch tolerant, sondern seit einiger Zeit hochgradig ideologisch aufgeladen, geistig verschlossen

und ziemlich intolerant.

 

Der Grund liegt darin, dass Karl Poppers euphemistischer Ausdruck “offene Gesellschaft” so vage und unbestimmt ist, dass er nicht einmal bestimmt, dass es sich um eine moderne Gesellschaft handelt, die (1.) eine Demokratie ist, (2.) durch einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat geordnet wird und (3.) von einer mehr oder weniger sozialen Marktwirtschaft getragen wird. Daher kann man bei der euphemistischen Rede von einer “offenen Gesellschaft” nicht ausschließen, dass sie sich bald auf ganz demokratischen Wegen selbst abschafft, dass sie die rechtlichen Institutionen ihres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates entweder anarchistisch oder diktatorisch ruiniert und dass sie die soli-darischen Qualitäten ihrer sozialen Marktwirtschaft zerstört, indem sie aufgrund neoliberaler bzw. marktradikaler Tendenzen immer “marktkonformer” wird.

 

Wer eine “offene Gesellschaft” bewahren und erhalten will, muss daher (1.) sicher stellen, dass die Demokratie durch Bildung, Meritokratie und Rechtsstaatlichkeit gezügelt wird, (2.) dass der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat von einer Verfassung bestimmt wird, die weitgehend unantastbar ist, weil sie der aktuellen Tagespolitik und der leichten Änderungen durch die demokratische Mehrheitsmeinung entzogen ist, weil sie die unveräußerliche Menschenwürde sowie und bestimmte Grund- und Menschenrechte garantiert und (3.) weil bestimmte ökonomische Prinzipien und Rahmenbedingungen einer sozialen Marktwirtschaft sowohl gegen marktradikale Prinzipien und gegen eine libertäre Auflösung dieser Rahmenbedingungen als auch gegen sozialstaatliche Überregulierung und einen schleichenden Weg in einen weiteren sozialistischen Unrechtsstaat geschützt werden.

 

Seit die Anhänger von Marx, Nietzsche, Freud und Foucault die klassische Philosophie und die christliche Theologie in Misskredit gebracht haben, herrscht eine verengte Kultur und “Hermeneutik des Verdachtes” gegen alles vor, was über ein materialistisches oder naturalistisches Welt- und Menschenbild und über den bloß empirischen und instrumentellen Verstand von naturwissenschaftlichen und technischen, ökonomischen und politischen Denk- und Handlungsweisen hinausgeht.

 

Adorno und Horkheimer waren die letzten teils links-hegelianisch, teils neo-marxistischen Philosophen, die im Gefolge von Kant, Hegel, Schopenhauer und Marx den materialistischen Vulgärmarxismus, die irrationale und misologische Lebensphilosophie Nietzsches und die geistfeindliche Popularisierung der Freudschen Psychoanalyse kritisiert hatten. Jaspers und Popper kritisierten zwar auch das naturalistische bzw. materialistische Welt- und Menschenbild, galten jedoch eher als Liberale in Anknüpfung an Sokrates, Spinoza und Kant. Dieser Liberalismus scheint jedoch zu Beginn

des 21. Jahrhunderts wegen der ökologischen Krise an seine Grenzen zu geraten.

 

Nach dem bereits verstorbenen Freiburger Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde ist jedoch auch der weitgehend neutrale und säkulare, liberale und soziale Rechtsstaat mit seinem rechtsstaatlichen Schutz des Lebens, der Freiheit und der menschlichen Würde zu seiner eigenen Selbsterhaltung über Generationen hinweg auf bestimmte kulturelle Voraussetzungen angewiesen, die er selbst nicht schaffen kann. Damit meinte er die lebendige Pflege jüdischer und christlicher Glaubensweisen mit ihren religiösen Konventionen, Institutionen und Traditionen.

 

Selbst der Soziologe und Sozialphilosoph Jürgen Habermas, der wie kaum ein anderer deutscher Intellektueller das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Frankfurter Schule weitergeführt hat, und der sich selbst im Sinne von Max Weber immer wieder als "religiös unmusikalisch" bezeichnet hat, hat Böckenförde in dieser Hinsicht in den letzten Jahren immer wieder zugestimmt. Habermas begründete dies ähnlich wie Adorno und Horkheimer, den Autoren der "Dialektik der Aufklärung" damit, dass es für das jüdische Ethos der Gerechtigkeit und für das christliche Ethos der Liebe einfach keinen glaubwürdigen Ersatz gibt.

 

UWD - Heidelberg 2023-2024