Metaphysik

 

 

 

Sokrates und seine Freunde
Sokrates und seine Freunde

 

 

Es ist also klar, dass die Weisheit eine Wissenschaft von gewissen Prinzipien und Ursachen ist.

 

Aristoteles, Metaphysik, 1. Buch (A)

 

 

Hierin liegt allerdings der gerechteste und einleuchtendste Vorwurf gegen einen beträchtlichen Teil der Metaphysik:

daß sie nicht eigentlich eine Wissenschaft ist, sondern entweder das Ergebnis fruchtloser Anstrengungen der menschlichen Eitelkeit, welche in Gegenstände eindringen möchte, die dem Verstande durchaus unzugänglich sind,

oder aber das listige Werk der Volksaberglaubens, welcher auf offenem Plan sich nicht verteidigen kann und hinter diesem verstrickenden Gestrüpp Schutz und Deckung für seine Schwäche sucht.

 

David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand

 

 

Die Metaphysik der spekulativen Vernunft ist nun das, was man im engeren Verstande Metaphysik zu nennen pflegt; ...

Daher hat die menschliche Vernunft seitdem, daß sie gedacht, oder vielmehr nachgedacht hat, niemals einer Metaphysik entbehren, aber gleichwohl sie nicht, genugsam geläutert von allem Fremdartigen, darstellen können.

Die Idee einer solchen Wissenschaft ist ebenso alt, als spekulative Menschenvernunft; und welche Vernunft spekuliert

nicht, es mag nun auf scholastische oder populäre Art geschehen?

 

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (A 842 / B 870)

 

 

Es ist wohl erwiesen, dass jeder Mensch eine Art Metaphysik in sich trägt, auch wenn er meint, frei davon zu sein. In Wirklichkeit folgt gerade ein völlig selbstsicherer Mensch, der ›sich nur durch das leiten lässt, was er versteht‹, einer besonders gefährlichen Metaphysik, nämlich einer, der er sich nicht bewusst ist … Solche Metaphysik ist deshalb so gefährlich, weil deren Annahmen und Ableitungen als direkt beobachtete Fakten missdeutet werden, mit dem Ergebnis,

dass sie sehr effektiv und auf beinahe unveränderbare Weise mit der Struktur seines Denkens verflochten sind. Worum geht es also? Jeder muss sich – soweit es irgend möglich ist – über seine metaphysischen Vorurteile klar werden.

 

David Bohm, Towards a Theoretical Biology

 

 

Eine Wissenschaft ohne Metaphysik ist auf dem besten Wege, ein dogmatisches System zu werden.

 

Paul Feyerabend

 

 


 

 

Was ist Metaphysik?

 

 

Metaphysik ist eine alte philosophische Disziplin, die wir nicht nur dem Namen, sondern auch dem methodischen und systematischen Anspruch nach auf Aristoteles zurückführen können. Die Bezeichnung "Metaphysik" war ursprünglich nur buchtechnischen Charakters gewesen, da der Name meta physica die Bücher bezeichnete, die nach bzw. neben denen lagen, die als Thema die physica behandelten. Deswegen ist es bis heute ein weit verbreitetes Mißverständnis, dass die Metaphysik nur solche Themen behandeln würde, die jenseits der Physik oder Naturwissenschaft liegen, wie z.B. die großen Themen der Leibniz-Wolff'schen Metaphysik von Gott, der Freiheit des menschlichen Willens und der angeblichen Unsterblichkeit der menschlichen Seele.

 

Zwar haben auch schon Sokrates und Platon sowie die beiden Vorsokratiker Heraklit und Parmenides der Sache nach metaphysische Fragen auf philosophische Weise untersucht, aber der eigentliche qualitative Sprung auf ein höheres methodisches und systematisches Niveau ist erst Aristoteles als dem Gründer der philosophischen Metaphysik gelungen. Dies kann einem deutlich werden, wenn man sich eingehender mit einer Darstellung der Geschichte der antiken Philosophie von den Vorsokratikern bis zur Renaissance befasst, wie z.B. mit denjenigen von Franz Brentano, Wolfgang Röd oder auch Klaus Held. Der qualitative Sprung in der Entwicklung des metaphysischen Denkens bei Sokrates, Platon und Arostoteles gegenüber den anfänglichen Naturspekulationen der Vorsokratiker ist so enorm,

dass man sich nur wundern kann, wie ihn diese drei griechischen Denker alleine durch die Kraft des gründlicheren Nachdenkens hervorbingen konnten.

 

Auf die Metaphysik von Aristoteles und das, was man im Anschluss an sie im Laufe der Jahrhunderte darunter verstand, trifft jedenfalls nicht zu, dass sie sich bloß oder auch nur vorwiegend mit dem befasst, was "jenseits der physischen Welt" existiert. Ganz im Gegenteil beziehen sich die metaphysischen Untersuchungen des Aristoteles zunächst vor allem auf unsere ganz alltägliche Lebenswelt in Raum und Zeit. Denn nach Aristoteles betrifft die Metaphysik alles, was es überhaupt gibt und worüber man vernünftigerweise sagen kann, dass es das gibt und wie es beschaffen ist. Diesen Bereich der Metaphysik bezeichnet man als Ontologie bzw. als die Lehre vom Sein des Seienden. Sodann handelt die Metaphysik des Aristoteles davon, auf welche fundamentalen und nicht weiter reduzierbaren Weisen man anhand von bestimmten Grundfragen oder Kategorien fragen kann, was es überhaupt gibt und wie sich etwas verhält. Diesen Bereich bezeichnet man manchmal auch als Kategorienlehre bzw. als die Lehre von den Kategorien des Seienden oder den sog. Seinskategorien.

 

Seit Aristoteles seine Schriften über Probleme der Physik und Biologie, Psychologie und Theologie geschrieben hat, gehören die philosophischen Themen und Probleme, die dort behandelt werden, zur Metaphysik. Die Metaphysik hat also nicht nur mit dem zu tun, was "jenseits" des Physischen, Lebendigen und Psychischen liegen soll, wie etwa das Göttliche, das Esoterische oder das Okkulte, ein vermeintliches Jenseits oder ein angeblicher Ort "jenseits von Raum und Zeit", an dem sich nach Auffassung der Pythagoreeer und Neuplatoniker die Seelen nach dem Tod befinden sollen, wie manche Menschen auch heute noch glauben. 

 

Metaphysik ist auch gegenwärtig diejenige philosophische Disziplin, in der nicht nur solche ontologischen und kategorialen Untersuchungen angestellt werden, wie sie schon Aristoteles und viele Philosophen im Anschluss an ihn durchgeführt haben. Metaphysik hat eine lange und vielfältige Geschichte, in der sie sich weiter entwickelt hat, weil sie sich mit anderen intellektuellen Einflüssen auseinander setzen musste. Zu diesen Einflüssen gehörten in der langen Geschichte der europäischen Philosophie und Metaphysik vor allem die formalen, die empirischen und die experimentellen Einzelwissenschaften, die sich nach und nach von der Philosophie als der "Mutter aller Wissenschaften" abgespalten und emanzipiert haben, wie z.B. Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Linguistik, Soziologie, Ökonomie, etc.

 

Zu diesen Einflüssen gehörten in der langen Geschichte der europäischen Philosophie von der Spätantike bis zum 19. und 20. Jahrhundert jedoch auch die Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam, die bestimmte mythologische Vorstellungen von Gott als dem Schöpfer des Himmels und der Erde, von der Schöpfungsordnung der Natur, von der Sonderstellung des Menschen in der irdischen Natur sowie von der conditio humana, von Leib, Seele und Geist des Menschen und seinem mehr oder weniger freien Willen hatten. Alle diese drei Weltreligionen haben nicht nur über viele Jahrhunderte hinweg einige der metaphysischen Schriften von Platon und Aristoteles zu kosmologischen und physikalischen sowie psychologischen und theologischen Themen (neben den ethischen und politischen Schriften) tradiert, sondern haben sie immer auch transformiert und zu eigen gemacht.

 

Dadurch sind neue Konzeptionen von Metaphysik entstanden, die dann auch die religiösen Vorstellungen der Juden, Christen und Muslime aufgenommen haben, sodass die Themen Gott und Welt, Seele und Geist ein neues Gewicht erhielten und andere Themen, wie z.B. solche der Kosmologie und Biologie in den Hintergrund traten. Erst nach dem Umwälzungen der nova scientia in der frühen, mittleren und späten Neuzeit, wurden dann die mythologischen und metaphysischen Auffassungen dieser drei Religionen teilweise in den Hintergrund gedrängt, weil sich die neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaften mit ihren experimentellen und mathematischen Methoden eine neue Bahn brachen und in den Vordergrund drängten.

 

Nicht nur die klassische neuzeitliche Metaphysik der Rationalisten Descartes und Spinoza, Leibniz und Wolff sind weitgehend Antworten auf die neuen Herausforderungen durch die nova scientia, sondern auch die philosophischen Werke der Empiristen Locke und Hume, Berkeley und Reid. Kants Epoche machender Versuch, einen neuen Anfang zu wagen, indem er die klassischen Theorien der neuzeitlichen Metaphysik und deren Meinungsverschiedenheiten durch eine erkenntnistheoretische bzw. transzendentalphilosophische Untersuchung der strukturellen Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Vernunftvermögens prüfen wollte, ist dann schließlich ein zwischen Empirismus und Rationalismus vermittelnder Versuch, auf einige Probleme zu reagieren, die durch die nova scientia eines Kepler und Kopernikus, Galilei und Newton aufgeworfen wurden .

 

Die experimentellen Methoden, die mechanistischen Theorien und die materialistische Ontologie der neuzeitlichen Naturwissenschaften drohten nun aber den ganzen Kosmos einschließlich aller physischen Erscheinungen und Verhältnisse auf der Erde sowie einschließlich der Lebewesen und Menschen in einen einzigen, nach mechanistischen Prinzipien und materialistischen Ontologien funktionierenden und geschlossenen Kausalzusammenhang zu verwandeln, d.h. in einen gottlosen und seelenlosen Mechanismus, der nicht nur keinen Gott als Schöpfer oder Urheber, Designer oder Baumeister zu brauchen scheint, sondern in dem es anscheinend auch keine geistige Seele und keinen freien Willen geben kann. Kant hatte trotz seiner Verehrung für Newtons Beiträge zur Physik erkannt, dass die Newtonsche Mechanik zwar die Naturwissenschaften in ihrem Versuchen, die Erscheinungen der Natur zu verstehen und erklären zu können, vorangebracht hatte, dass sie aber als Philosophie der ganzen Natur zugleich nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch die sittliche Bestimmung des Menschen in Moral, Recht und Politik bedrohen würde.

 

Kant versuchte deswegen, das menschliche Wissen von der Natur, Geschichte und Kultur zu begrenzen, um nicht nur die Freiheit des menschlichen Willens als einer notwendigen Voraussetzung von alltäglicher Moral und richtigem Recht, allgemeinem Völkerrecht und einer Politik des Friedens zu sichern, sondern auch um dem Glauben an Gott, an die Freiheit des menschlichen Willens und an seine unsterbliche Seele einen sicheren Platz in dem mechanistischen Weltbild der nova scientia zu verschaffen. Sein ganzes Bestreben ging deswegen dahin, eine Metaphysik der Natur und der Sitten zu schaffen, die an die Stelle der erfolglosen Streitigkeiten der rationalistischen und empiristischen Metaphysiker seiner Zeit treten würde. Wie der Titel seiner berühmten Prolegomena besagt, ging es ihm um eine zukünftige "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können".

 

Kant hatte zwar in seinen kritischen Hauptwerken (KrV, KpV, KU) immer "nur" zwischen der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten unterschieden, aber seine metaphysischen Überlegungen gingen weit über diese Zweiteilung hinaus. Kant war von seiner Kritik der Urteilskraft über seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bis zu seiner Abhandlung über die Fortschritte in der Metaphysik auf der Suche nach einer möglichen Einheit der Metaphysik, die es erlaubten, diese beiden Metaphysiken der Natur und der Sitten, d.h. der theoretischen und der praktischen Philosophie in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Klar war ihm jedoch schon in der Kritik der reinen Vernunft, dass seine getrennt vollzogene Vernunftkritik nur eine philosophische Propädeutik zu einer einheitlichen Metaphysik sein kann. Dies wird vor allem auch in der Ersten Einleitung zu seiner Kritik der Urteilskraft wie in dem religionsphilosophischen Abschluss der sog. Dritten Kritik deutlich. Auf der Suche nach einer Einheit der Metaphysik kann und muss man jedoch auch seine geschichts-philosophischen, anthropologischen und religionsphilosophischen Schriften konsultieren. Vor allem aber hat Kant selbst einen Rückblick auf sein Gesamtwerk verfasst, der zwar erst 1804 posthum erschienen ist, aber von ihm noch zur Publikation frei gegeben wurde: seine Schrift über die Fortschritte der Metaphysik, in der er seinen kritischen Ansatz noch einmal als einen Fortschritt der Metaphysik gegen den Skeptizismus und Dogmatismus verteidigt hat.

 

Auch wenn jemand Kants abschließenden Ausführungen zu seinem Lebenswerk zwar nicht in allen Punkten folgen kann, bleibt es jedoch zutreffend, dass man nach Kants Vernunftkritik in Fragen der Metaphysik und Philosophie überhaupt nicht mehr hinter die epistemologisch unreflektierten Naivitäten einer vorkantianischen Metaphysik zurückfallen kann. Vielmehr müssen Philosophen, die weiterhin Metaphysik treiben, sich den epistemologischen und ontologischen Herausforderungen der neuzeitlichen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften stellen und damit wie Kant sowohl über die Ontologie und Kategorienlehre des Aristoteles als auch über die Metaphysik von Gott, Seele und Welt der Leibniz-Wolff-Schule hinausgehen. Eine jede neue Metaphysik wird auf die eine oder andere Art und Weise Kants vernunftkritische und transzendentalphilosophische Beiträge berücksichtigen müssen und im Anschluss an die metaphysischen Beiträge von Nicolai Hartmann und Karl Jaspers oder auch von Alfred North Whitehead und Jacques Maritain einige unkritische Simplifikationen der vor-kantischen Metaphysik überwinden müssen. Vor allem wird sie  sich den Problemen der Personalität, der Persönlichkleit und des geistigens Seins stellen müssen.

 

Nur zur monistischen Metaphysik des Materialismus, Vitalismus und Naturalismus führt nach Kant und Brentano, Husserl und Hartmann kein gangbarer Weg zurück. Wie in den Wissenschaften, so gibt es auch in der Philosophie bestimmte Denkwege, die sich als Irrwege oder Sackgassen erwiesen haben, und aus denen man nur herauskommt, wenn man auf die Hauptstraße zurückkehrt. Manche Philosophen, wie Hegel, glaubten, dass es eine inhärente Entwicklungslogik in der Geistesgeschichte der Philosophie zu entdecken gibt. Andere Philosophen, wie z.B. Franz Brentano, diagnostizierten sich wiederholende charakteristische Phasen des Aufstiegs und Verfalls im philosophischen Denken und manche zeitgenössischen Denker, wie z.B. Karl-Heinz Haag, meinen sogar von einem kumulativen Fortschritt in der Philosophie sprechen zu dürfen.

 

Die nach-kantische Metaphysik behandelt nun aber nicht nur die metaphysischen Implikationen und Voraussetzungen der Naturwissenschaften, wie insbesondere die Fragen nach dem Wesen von Raum und Zeit, Materie und Energie, Ursprung und Entstehung des Universums, Richtung und Ziel seiner Entwicklung. Manche Szientisten, wie z.B. W.V.O.Quine, D.Lewis und D.Armstrong haben die neue Metaphysik auf diese Weise zu beschränken versucht. Aber nicht alle zeitgenössischen Philosophen sind ihnen darin gefolgt. Eine Metaphysik, die zukünftig sowohl vor den Erfahrungen, Methoden und Ergebnissen der Einzelwissenschaften als auch vor der lebensweltlichen Welt- und Selbsterfahrung wird bestehen können, wird aus heuristischen Gründen nicht traditionsgemäß zwischen

 

(1.) Spezieller Ontologie  und

 

(2.) Allgemeiner Ontologie unterscheiden, sondern sich in Auseinandersetzung mit den modernen Einzelwissenschaften auch die ontologischen Grundfragen einer

 

(3.) Kategorienlehre der Lebenswelt und der Personalität als ontologischer Basis der theoretischen Realphilosophie berücksichtigen, die sich mindestens in fünf Gebiete aufteilen lassen:

 

A. Naturphilosophie

 

B. Kulturphilosophie

 

C. Religionsphilosophie

 

D. Kunstphilosophie

 

E. Wissenschaftsphilosophie

 

 

  © Ulrich W. Diehl, Heidelberg im April 2018

 

 


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Karl Heinz Haag, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung
Karl Heinz Haag, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, Frankfurt a.M.: Humanities-Online 2005 www.humanities-online.de
Haag, Metaphysik.pdf
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Peter Strasser, Naturalismus, Personsein und Moral
Strasser, Naturalismus, Personsein und M
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Holm Tetens, Der Naturalismus: Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit?
Information Philosophie Heft 3/2013, S. 8-17
Tetens, Der Naturalismus als Vorurteil u
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