Gemeinwohl

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rathausplatz in München

 

 

Auf der Suche nach dem Gemeinwohl

 

Kenan Malik

 

Das Gemeinwohl ist seit Jahrtausenden Gegenstand philosophischer Betrachtungen.

Im Westen steht ihm heute das Schubladendenken der Identitätspolitik entgegen.

 

Novo - Argumente für den Fortschritt - 12.07.2019

 

Das öffentliche Interesse. Das Gemeingut. Das öffentliche Wohl. Das Gemeinwohl. Alles Ausdrücke, die unverzichtbar erscheinen. Formulierungen, die wir alle benutzen und die wir instinktiv verstehen. Zugleich ist ihre Bedeutung umstritten und scheinbar unmöglich zu definieren. Die Ausdrücke werden oft synonym gebraucht. Für viele Philosophen und Politologen bestehen jedoch fundamentale Bedeutungsunterschiede. In „Gemeinwohl“ deutet „gemein“ auf die Gemeinsamkeit zwischen allen Individuen einer Gruppe hin. Dagegen bezieht sich „öffentlich“ in „öffentliches Wohl“ gewöhnlich auf Angelegenheiten, die gemeinschaftlichem Handeln unterliegen. Während „Wohl“ meist auf eine moralische Absicht verweist, wird „Interesse“ mit materiellen Vorzügen assoziiert. Und so weiter.

 

Auf derartige semantische Debatten möchte ich hier nicht länger eingehen. Ich will mich stattdessen auf einen fundamentaleren Aspekt konzentrieren, der all diesen Begriffen gemeinsam ist: Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Genauer: Das Verhältnis zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl der Gemeinschaft. Ich werde letzteres als „Gemeinwohl“ bezeichnen: Das Wohl einer größeren Gemeinschaft oder Gesellschaft.

 

Diskussionen über das Gemeinwohl und die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft stehen gegenwärtig im Zentrum vieler politischer Diskurse – von Populismus über Einwanderung bis hin zu religiösen Freiheiten und Transgender-Rechten. Um zu verstehen, warum dieses Thema so umstritten ist, muss man sich mit der Geschichte des Gemeinwohlbegriffs beschäftigen. In diesem Vortrag will ich mich auf seinen Bedeutungswandel zwischen Antike und Moderne konzentrieren. Zudem will ich soziale und politische Veränderungen der letzten Jahrzehnte beleuchten, die unsere Sicht auf das Thema prägen. Aus Zeitgründen werde ich mich hauptsächlich auf westliche Vorstellungen beschränken, obwohl es natürlich wichtige, in vielerlei Hinsicht vergleichbare Debatten in nicht-westlichen Gesellschaften gibt.

 

Aristoteles

 

Lassen Sie mich mit Aristoteles beginnen. Er wird oft als der erste Philosoph in der westlichen Tradition gesehen, der sich ernsthaft mit dem Thema Gemeinwohl beschäftigte. In seinem Werk „Politik“ schreibt er: „[…] wenn der Eine, oder die Einigen oder die Menge die Herrschaft zu dem allgemeinen Besten führen, so müssen dies die richtigen Verfas-sungen sein; geschieht es aber nur zu dem besonderen Nutzen des Einen, oder der Wenigen, oder der Menge, so sind sie Ausschreitungen […].“

 

Aristoteles vertrat wie viele antike Philosophen und Denker der monotheistischen Religionen die Auffassung, dass alle Objekte des Kosmos zu einem bestimmten Zweck existieren. „Gutes“ Verhalten ist demnach Verhalten, das der Erfüllung dieses Zwecks dient. Ein Messer ist zum Schneiden da. Daher ist ein gutes Messer ein Messer, das scharf genug ist, dies zu tun. Für Aristoteles war der Zweck des Menschen die Ausübung der Vernunft. Ein guter Mensch war demnach einer, der tugendhaft und vernünftig handelte.

 

Für Aristoteles hatte jedes Individuum eine Aufgabe in der Gemeinschaft. Der Zweck der Polis, also des griechischen Stadtstaates, war es, einen Rahmen zu schaffen, in dem die Menschen aufblühen konnten. Das Gemeinwohl drückte sich in der Fähigkeit der Individuen aus, innerhalb der Gemeinschaft ihrer Bestimmung nachzugehen. Sklaven sollten fügsam schuften, Herrscher gerecht herrschen, und Philosophen mit Weisheit lehren.

 

Aristoteles war vielleicht der erste Philosoph, der sich ernsthaft mit dem Gemeinwohl auseinandergesetzt hat. Aber sein Gemeinwohlbegriff unterschied sich sehr von unseren heutigen Vorstellungen. Für Aristoteles war die Herrschaftsform unerheblich, solange sie das Gemeinwohl fördert. Eine gute oder gerechte Regierung kann von einem einzigen Herr-scher („Monarchie“), von einer kleinen Gruppe („Aristokratie“) oder von Vielen („Republik“) gebildet werden. Den drei „gerechten“ Regierungsformen standen drei korrupte gegenüber: „Die Tyrannis ist eine Monarchie zum Nutzen des Monarchen, die Oligarchie zum Nutzen der Männer mit Vermögen und die Demokratie zum Nutzen der Männer ohne Vermögen.“ Heute gehen wir von einem Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit einer Regierung und der Staats-form aus. Nur wenige vertreten heute die Ansicht, dass eine Diktatur, die das Gemeinwohl fördert, eine gerechte Re-gierung darstellt.

 

Aristoteles‘ Vorstellungen von Regierung und Gemeinwohl und das Ausmaß, in dem sie sich von heutigen Auffassungen unterscheiden, spiegeln einen Wandel in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wider. Für Aristoteles war das oberste Gut das Gemeinwohl, nicht das Wohl des Individuums. Er argumentiert: „Kein Bürger sollte denken, er gehöre nur sich selbst.“ Jeder Bürger müsse sich dem Staat zugehörig fühlen, da jeder Teil des Staates sei. Die Sicherung dessen, was dem Individuum zugutekomme, sei zwar erstrebenswert. Viel edler und erhabener sei es jedoch, das Wohlergehen des Volkes oder des Staates zu gewährleisten.

 

Christliches, chinesisches und islamisches Denken

 

Natürlich war Aristoteles nicht der einzige Denker im antiken Griechenland, der sich mit der Beziehung zwischen Indi-viduum und Gesellschaft beschäftigte. Es gab eine Vielzahl von Philosophien und einige Auffassungen von Gemein-schaft, etwa die der Stoiker, waren sehr anders gelagert. Nichtsdestotrotz war das Primat der Gemeinschaft und die Unterordnung individueller Interessen ein Grundstein der griechischen Gesellschaft. Und nicht nur der griechischen. Dieses Verständnis prägte die gesamte antike Welt und die monotheistischen Religionen. Die Römer orientierten sich am Grundprinzip der „res publica“, damit sind die gemeinsamen Angelegenheiten des Volkes gemeint. In der christ-lichen Tradition entwickelte Thomas von Aquin, der eine Schlüsselrolle bei der Verschmelzung christlicher und aristo-telischer Denktraditionen spielte, die einflussreichste Definition des Gemeinwohls. Wie Aristoteles vertrat er die Auf-fassung, dass das Verfolgen von Eigeninteressen zu einer entarteten Regierungsform führe: „Eine tyrannische Re-gierung ist ungerecht, weil sie nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist, sondern auf das private Wohl des Herrschers.“

 

Thomas war nicht nur von der Entwicklung bestimmter politischer Gesellschaften beunruhigt, sondern er begriff Menschen auch als Teil einer universalen moralischen Ordnung. Im Gegensatz zu antiken griechischen und römischen Theoretikern sah er das Gemeinwohl in Gott. Thomas war der Meinung, dass das Gemeinwohl Anhängern des christ-lichen Glaubens in der Offenbarung zugänglich wurde. In seinen Worten: „Das Gute des gesamten Universums ist das, was durch Gott, den Schöpfer und Herrscher aller Dinge, verstanden wird.“

 

Und auf nicht-westliche Traditionen bezogen? Die Trennung, die oftmals zwischen westlichen und nicht-westlichen Vorstellungen gezogen wird, ist riskant. Viele der vermeintlichen Unterschiede werden zu vereinfacht betrachtet. Oft wird angeführt, westliches Denken sei individualistischer als nicht-westliche Traditionen. Jedoch ist der Begriff des Gemeinwohls in griechischen, römischen und christlichen Überlieferungen weitaus ausgeprägter und intensiver diskutiert worden als in anderen Traditionen.

 

Es lässt sich darüber streiten, ob im Chinesischen eine genaue Entsprechung des „Gemeinwohls“ existiert, wenngleich ähnliche Vorstellungen in der chinesischen Philosophie gefunden werden können, konfuzianisches Gedankengut eingeschlossen. Möglicherweise rührt dies aus der tiefen Verwurzelung der Idee des Gemeinwohls in der chinesischen Tradition, sodass Philosophen die Bedeutung nicht ausdrücklich ergründet haben. Aber das wäre wiederum eine falsche Annahme. Im Westen besteht die Neigung, die chinesische Philosophie ausschließlich durch die Linse des Konfuzia-nismus zu betrachten. Ebenso verhält sich dies bei der Betrachtung des Begriffs der harmonischen Gesellschaft und den Verpflichtungen des Individuums gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat, um ebendiese Harmonie herzustellen. Aber genau wie im Westen besteht in China ein Pluralismus philosophischer und ethischer Traditionen.

 

Mo Tzu, der in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor Christus und damit ungefähr ein Jahrhundert nach Konfuzius lebte, entwickelte beispielsweise eine Philosophie (den Mohismus), die einen deutlich radikaleren Standpunkt vertrat. Mo unterschied zwei Prinzipien: das der „Parteilichkeit“ und das der „Universalität“. Konfuzius beschränkte sich auf das Prinzip der Parteilichkeit. „Harmonie“ existierte dabei nur in Bezug auf die eigene Gemeinschaft, wobei mora-lische Interessen anderer Völker und Gesellschaften unberücksichtigt blieben. Mo fügte das Prinzip der „Universalität“ hinzu, beharrend darauf, dass moralische Interessen Fremder, anderer Völker und Staaten, uns ebenso ein Anliegen sein sollten wie unsere eigenen. Dieses bemerkenswerte Argument wurde drei Jahrhunderte, bevor die griechische und christliche Tradition begann, entwickelt. Mo verwendete nie den Begriff des Gemeinwohls; aber indem er das Wohl universalisierte, weitete er die Auffassung über die Zugehörigkeit zum „Gemeinsamen“ aus.

 

Nicht zu vergessen die islamische Welt. Dort orientierte man sich stärker an Aristoteles‘ Gedanken, als dies vor Thomas von Aquin in der christlichen Tradition der Fall war. Nur durch islamische Übersetzungen von Aristoteles‘ Schriften und Reaktionen darauf konnte Thomas von Aquin, und allgemein das Christentum, die Schätze der griechischen Gedanken-welt wiederentdecken.

 

Der Begriff des „Maslaha“ („Wohlergehen“ oder „Wohlfahrt“) – ein Denkbild, das insbesondere der Theologe al-Ghazali im elften Jahrhundert entwickelte – prägte das griechische und christliche Verständnis des Gemeinwohls auf ähnliche Weise. Maslaha war für al-Ghazali Gottes übergeordneter Plan bei der Offenbarung seines göttlichen Gesetzes. Gott wollte damit den Erhalt der fünf Wesenszüge des Wohlergehens sicherstellen: Religion, Leben, Intellekt, Nachkommen und Eigentum. Viele zeitgenössische islamische Gelehrte, wie Tariq Ramadan und Abdal-Hakim Murad, benutzen Maslaha als Synonym für Gemeinwohl.

 

Ich habe nicht die Zeit, diese nicht-westlichen Traditionen weiter auszuführen, aber es ist wichtig sowohl auf die Existenz dieser Debatten, als auch die Tatsache, dass Unterschiede zwischen westlichen und nicht-westlichen Debatten, obwohl wichtig, übertrieben werden, hinzuweisen.

 

Umbrüche der Moderne

 

Die Entstehung der modernen Welt brachte wichtige Veränderungen mit sich, die auch die Sprache der Moral beein-flussten. In Europa ereigneten sich diese Umbrüche ab dem 16.Jahrhundert. Eine wesentliche Veränderung war die Auflösung traditioneller Gemeinschaften und sozialer Beziehungen. Die Entstehung des Marktes, der aufkeimende Kapitalismus, spaltete feudale Gemeinschaften. Privateigentum bekam eine neue Bedeutung und übernahm zuneh-mend die Vorherrschaft über das Gemeinwohl. Die Allmende – Land, das gemeinschaftlich zum Wohle aller genutzt wurde – beispielsweise wurde eingehegt und in privates Eigentum umgewandelt.

 

Gleichzeitig wurden soziale Strukturen nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern wurden Gegenstand politischer Debatten und in der Praxis auf die Probe gestellt. Liberale und Sozialisten, Konservative und Kommunisten, Monarchis-ten und Republikaner – alle stritten um die Idee der besten Verfassung für eine gute Gesellschaft. Als die Menschen die Idee der gegebenen sozialen Ordnung zurückwiesen, wurde das Sollen – was wir tun sollten, wie wir Dinge tun sollten – eher eine politische Forderung, denn bloße Moral: Wie Gesellschaft sein sollte, wurde durch die politischen Möglich-keiten des sozialen Wandels bestimmt. Und das Denkbild des Gemeinwohls wurde in Frage gestellt. In der Vergangen-heit hatte das Gemeinwohl als unabdingbar gegolten. Nun nicht mehr.

 

Eine zweite wesentliche Veränderung betraf das Verständnis des Individuums und seiner Beziehung zur Gemeinschaft oder Gesellschaft. In der vormodernen Welt waren die Identität und die Interessen des Individuums fast vollkommen an die Gemeinschaft, in der er oder sie lebte, gebunden. Bis zum 17. Jahrhundert entwickelte sich das Individuum zu einer neuen Form des sozialen Akteurs; zu einem, der losgelöst war von den Besonderheiten einer Gemeinschaft.

 

Für Aristoteles war die Polis oder die Gemeinschaft ein Naturphänomen. Ebenso wie es in der Natur des Menschen lag, glücklich zu sein, so lag es in der Natur des Menschen, sich zu Gruppen zusammenzuschließen, die die Unterstützung und den Erhalt des Glücks ermöglichten. Für die antiken Griechen war die „Polis“ fast spirituell oder heilig behaftet. Diese Bedeutung umfasste die moderne Tradition des „Stadtstaats“ nicht mehr. Polis beschrieb „Heimat“ und verkör-perte ein Gefühl der Zugehörigkeit. Der Begriff beinhaltete auch das Verständnis, nur durch Mitgliedschaft in einer Polis würde die Menschheit den Zustand der Barbarei überwinden. Diese Konnotationen wurden zu großen Teilen in den nachfolgenden Diskussionen der antiken Römer sowie im christlichen Gedankengut aufrechterhalten.

 

In der frühen Moderne, und vor allem während der Aufklärung, verblasste diese Auffassung von Gemeinschaft. Jedoch begann ein neuer Begriff nahezu heilige Qualität zu erlangen: der der unveräußerlichen Individualrechte. Ich zitiere die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden sind …“ Rechte wurden als unveräußerlich angesehen, da sie als von Gesetzen oder Bräuchen bestimmter Gemeinschaften oder Staaten unabhängig erachtet wurden. Rechte galten als natürlich und universal, sodass sie nicht durch menschliche Gesetze aufgehoben oder eingeschränkt werden konnten.

 

Der Begriff der Naturrechte und des Naturrechts hat eine lange Entwicklungsgeschichte hinter sich. Elemente der Idee finden sich in griechischen Gedanken, in der römischen Philosophie wird darauf Bezug genommen und auch im christ-lichen Denken, vor allem bei Aquin, wurden sie weiterentwickelt. Die Aufklärung aber war der Grund für den Erfolg der Vorstellung von Individualrechten. Und der Begriff des Rechts wurde zum zentralen Bestandteil moderner liberaler Gesellschaften.

 

Liberalismus und Gemeinwohl

 

Seit Anbeginn der Moderne bestand eine Art Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Unweigerlich beeinflusste diese Spannung die Debatte um Gemeinwohl. Ein großer Teil der Debatte hat sich zu einer Debatte über den Liberalismus und Kritik an diesem gewandelt. Darauf will ich mich konzentrieren. Mit dem Aufstieg des Individuums, erfuhr auch der Liberalismus als Philosophie Aufwind. Der Liberalismus ist eine breite und komplexe politische Sicht-weise, die viele, oftmals gegenläufige, Stränge beinhaltet. Was ich sagen werde, wird sich für viele zwangsläufig so anhören, als ignoriere ich den Reichtum und die Komplexität dieser Debatte. Leider ist das unvermeidbar in einer kurzen Rede, aber ich hoffe, dass nicht zu viele Nuancen verloren gehen.

 

Im Zentrum des Liberalismus steht das Individuum. Liberale betrachten die Gesellschaft als ein Aggregat moralisch autonomer Individuen, die frei(willig) zusammenkommen, um Gesellschaften zu bilden und einer Regierung die Zustimmung zu erteilen. John Locke, von vielen als der wegweisende liberale Philosoph angesehen, formulierte es in seiner 1690 verfassten Arbeit „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ wie folgt: „So ist das, was der Anfang jeder politischen Gesellschaft ist und sie in Wirklichkeit konstituiert, nichts anderes als die Übereinkunft einer zur Mehrheit fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu einer solchen Gesellschaft zu vereinigen und zu einem einzigen Körper zu verbinden.“

 

Dies ist die Auffassung des „Gesellschaftsvertrags“, dessen moderne Form auf Thomas Hobbes, einem Philosophen des 17. Jahrhunderts (und Zeitgenossen Lockes), zurückzuführen ist. Frühe Liberale (später brachten Liberale abweichende Argumente hervor) übernahmen von Hobbes die Idee des Individuums, das begrifflich, wenn nicht gar historisch, vor jeglicher Gesellschaft existiert, sowie der Gesellschaft als Produkt einer freiwilligen, rationalen Übereinkunft seiner Mitglieder. Diese liberale Sichtweise begreift das Individuum im Stadium vollkommen ausgebildeter psychologischer Dispositionen und gegebener moralischer und sozialer Ziele.

 

Kritiker des Liberalismus haben schon früh auf die – begriffliche wie historische – Sinnlosigkeit der Existenz des Indi-viduums vor der Gesellschaft hingewiesen. Menschen sind keine Individuen, die sozial werden. Sie sind soziale Wesen, deren Individualität aus den Beziehungen, die sie miteinander knüpfen, entsteht.

 

Wird eine Gesellschaft erst einmal als Ansammlung von Individuen gesehen, wird auch die Frage, woraus Gemeinwohl entsteht, problematisch. Aus der liberalen Perspektive: Was definiert das Gemeinwohl in einer Gesellschaft, außer, dass jeder bestimmte unveräußerliche Rechte besitzt und, dass jedes Individuum frei sein sollte, den eigenen Präferenzen auf vielfältige Weise Ausdruck zu verleihen?

 

Natürlich sind das keine kleinen Verdienste. Gleichheit aller Menschen ist der Grundstein der modernen Welt. Sie hat das Leben von Millionen transformiert und nur wenige der stärksten Kritiker des Liberalismus würden das abstreiten. Und die Fähigkeit der Individuen, frei zu sein, ihre Vorlieben auszudrücken und ihr Leben danach zu gestalten, wird von den meisten dieser Kritiker akzeptiert – zumindest zu einem gewissen Grad. Aus ebendiesen zwei Ansätzen ging die Religionsfreiheit hervor und die Ansicht, der Staat solle nicht in Übereinkünfte eingreifen, die Erwachsene privat eingehen. Viele Kritiker beanstanden die dadurch entstehende soziale Kälte, das Gefühl der Unsicherheit und den Verlust gesellschaftlichen Sinn. Auch verdrießliche Debatten über die gleichgeschlechtliche Ehe oder Immigration entspringen der Gleichheit. Den Kritikern zufolge macht eine Ansammlung von Individuen noch keine Gesellschaft. Und auch die Bündelung individueller Anliegen und Bedürfnisse stellt keine Basis dar, auf der Gemeinwohl definiert werden könnte.

 

Pluralismus und Exklusion

 

Derartige Differenzen scheinen sich die letzten Jahrzehnte durch die plurale Gestaltung der zeitgenössischen Gesell-schaft verschärft zu haben. Die Begrifflichkeit des Gemeinwohls impliziert die Existenz einer Gemeinschaft, die mora-lische Werte teilt. In einer pluralen Gesellschaft, die sich als eine „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ begreift, wie es der einflussreiche Parekh-Report über Multikulturalismus in Britannien behauptete, haben gemeinsame moralische Werte weniger Antriebskraft. So fragt der Jesuitenpater und Moraltheologe David Hollenbach rhetorisch in seinem Buch „The Common Good and the Christian Ethics“ (Das Gemeinwohl und die Christlichen Werte) fragt: „Ergibt es dort, wo keine allgemein gültige Vision des guten Lebens besteht, überhaupt Sinn, von einer Gemeinschaft zu sprechen?“

 

Die Ironie ist dennoch, dass genau dies schon immer der Fall war. Gesellschaften waren schon immer plural, auch wenn zeitgenössische Auffassungen von Pluralismus deutlich von denen der Vergangenheit abweichen. Und die Gemein-schaft, aus der heraus das Gemeinwohl definiert wurde, war zu keiner Zeit in der Lage, die Gesamtheit der Pluralität ihrer Gesellschaft abzubilden. Als Aristoteles über das Gemeinwohl schrieb, meinte er ausschließlich das Gemeinwohl derer, die als Bürger definiert waren. Das Wohl der Nicht-Bürger – Frauen, Sklaven, Handwerker – kümmerte ihn wenig, außer in Bezug auf das Wohl der Bürger. Arbeiter und Bauern konnten keine Bürger sein, weil ein Arbeiterleben nicht „vornehm ist und gegen Tugendhaftigkeit spricht“. Die Masse reagiert nicht auf rationale „Argumente und vortreffliche Ideale“, sondern auf „Angst“, „Zwang und Bestrafung“.

 

Diese Vorstellungen prägten den Begriff des Gemeinwohls im mittelalterlichen Europa. Sklaven und Leibeigene, Bauern und Nichtadelige, Juden und Muslime waren nie Teil der Gemeinschaft. Von der ging aber die Definition des Gemein-wohls aus. Im England der frühen Neuzeit wurden Katholiken als außerhalb der moralischen Gemeinschaft stehend betrachtet. Locke verlangte religiöse Toleranz – aber nicht für Katholiken: „Es darf keine Meinung gegensätzlich der menschlichen Gesellschaft oder den moralischen Regeln, die zur Wahrung der Zivilgesellschaft nötig sind, toleriert werden.“

 

Juden wurden noch viel stärker aus der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Seit der Schaffung des ersten Ghettos in Venedig (vor 500 Jahren) über Martin Luthers schwere Drohungen, der französischen Dreyfus-Affäre oder dem ersten Einwanderungsgesetz Großbritanniens, dem Aliens Act von 1905, das hauptsächlich verabschiedet wurde, um den Strom osteuropäischer Juden einzudämmen, bis hin zum Holocaust war die Darstellung der Juden als von Natur aus „anders“ ein roter Faden in Europas Geschichte.

 

Heute bilden wir uns immer ein, Europa sei vor der Entstehung massenhafter Einwanderung rassisch und ethnisch homogen gewesen. Die Europäer anderer Zeiten haben ihre Gesellschaft aber mit einem anderen Blick betrachtet.

Mitte des 19. Jahrhunderts war London eine gespaltene Stadt. Nicht wegen der Gegenwart von Fremden. Arme und die Arbeiterklasse wurden eher als das rassisch Andere angesehen.

 

Eine Charakterskizze über das Leben der Arbeiterklasse in Bethnal Green, einem Arbeiterviertel im Osten Londons, die 1864 in einer Ausgabe des „The Saturday Review“, einem bewanderten liberalen Magazin der Ära, erschien, veranschau-licht die Einstellung der viktorianischen Mittelklasse: „Die Armen aus Bethnal Green“ bilden „eine Rasse, von der wir wissen, dass deren Leben von ganz anderer Beschaffenheit ist als unseres; Personen, mit denen wir keinen einzigen Berührungspunkt haben,“ wie der Artikel erklärt. „Unterscheidung und Unterteilung, wie die der englischen Klassen“, schließt der Artikel, „die immer fortdauern, die von der Wiege bis zum Grab gelten […], entsprechen der sehr gerechten Trennung der Sklaven von den Weißen.“ Und als das rassisch Andere waren sie nicht Teil der moralischen Gemeinschaft, von der die Definition des Gemeinwohls ausging.

 

Mit anderen Worten: Das Gemeinwohl war immer das Gemeinwohl einiger weniger, nicht der Masse. Vor diesem Hinter-grund spielten liberale Ideen von universalen, individuellen Rechten eine wichtige Rolle, indem sie das Verständnis des Begriffs Gemeinschaft, auf die das Wohl angewendet wird, ausweiteten. Genau darin liegt das Paradoxon: Liberaler Individualismus trug sowohl dazu bei, die Idee der Gemeinschaft und dadurch des Gemeinwohls zu zersetzen, als auch unser Verständnis der moralischen Gemeinschaft, von der die Definition des Gemeinwohls ausgeht, auszuweiten.

 

Die liberale Philosophie wird seit jeher von Scheinheiligkeit und Doppelstandards durchsetzt, von Lockes Intoleranz gegenüber Katholiken über die US-amerikanischen Gründerväter, die unveräußerliche Rechte für alle erklärten und gleichzeitig Sklaven hielten und Afroamerikaner nur als zu drei Fünftel menschlich ansahen, bis hin zu der zeitgenös-sischen Islamfeindlichkeit, die von vielen Liberalen geäußert wird. Dennoch sind die Prinzipien, die im Begriff der Gleichheit und der allgemeinen Rechte verkörpert werden, unabdingbar im Streben nach einer wahrhaftigen, inklusiven moralischen Gemeinschaft.

 

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

 

Also: Wohin führt uns das jetzt? Nehmen wir einfach hin, dass der Begriff des Gemeinwohls rudimentär und unde-finierbar ist? Andernfalls: Müssen wir, in dem Versuch das Gemeinwohl doch zu definieren, die moralische Gemeinschaft als exklusiver definieren? Beide Ansätze finden gegenwärtig Anklang. Manchen zufolge ist es in einer pluralen Gesell-schaft nicht möglich, Gemeinwohl anders als in einer Minimalvariante zu definieren. Andere versuchen, gemeinsame Werte zu definieren, indem sie Konzepte entwickeln, die auf Visionen exklusiver Gemeinschaft wie Nation, Ethnizität oder Glauben zurückgreifen.

 

Ich lehne beide Ansätze ab. Unser Ausgangspunkt sollte die Erkenntnis sein, dass Werte in jeder Gesellschaft immer umstritten sind. Und nur durch diese Auseinandersetzungen können wir, paradoxerweise, anfangen, die Werte zu definieren, an denen wir als Kollektiv festhalten wollen.

 

Denken Sie daran, dass vor 200 Jahren das Konzept der Sklaverei deutlich heftiger diskutiert wurde als heute die gleich-geschlechtliche Ehe oder Immigration. Aber nur durch diese Auseinandersetzung entstand eine gemeinschaft-liche, die Sklaverei ablehnende Sichtweise. Zu Grunde liegt dieser Akzeptanz die Auffassung, dass kein Begriff des Guten die Existenz von Sklaverei beinhalten kann. Das war nicht nur eine Auseinandersetzung im Kleide einer intellektuellen Debatte. Diese Auseinandersetzung brachte gesellschaftliche Bewegungen hervor, die sowohl die Idee als auch die Praxis der Sklaverei angefochten haben – von der großen haitianischen Revolution des 18. Jahrhunderts – dem ersten und einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand in der Geschichte – bis hin zu den britischen Bewegungen, die gegen Sklaverei kämpften.

 

Eine weitere wesentliche Veränderung der letzten drei Dekaden war, dass sich Ernüchterung eingestellt hat, was die Idee der sozialen Transformation betrifft, und sich die Anzahl von Organisationen, die für kollektiven sozialen Wandel eintreten, verringert hat. Die alte Unterscheidung von „links“ und „rechts“ verlor desto stärker an Bedeutung, je mehr sich die Gesellschaft fragmentierte. Die Schwächung von Arbeiterorganisationen, die Ausbreitung des Marktes bis in den kleinsten Winkel des Soziallebens, die Erosion der Zivilgesellschaft, der Schwund von Institutionen von der Gewerkschaft bis zur Kirche, die traditionell die Sozialisation der Individuen unterstützten: All das hat zur Fragmentierung der Gesellschaft beigetragen.

 

Im Ergebnis betrachten die Leute sich selbst und ihre soziale Zugehörigkeit nun anders. Soziale Solidarität – die Frage danach, wer meiner moralischen Gemeinschaft angehört – wird zunehmend nicht mehr politisch definiert, sondern über Ethnie, Kultur oder Glauben. Die Leute fragen sich nicht mehr „In welcher Gesellschaft will ich leben?“, sondern „Wer sind wir?“.

 

Die beiden Fragen sind natürlich eng verbunden und jedes Verständnis sozialer Identität sollte eine Antwort auf beide beinhalten. Weil das politische Spektrum aber schmaler wurde und die Mechanismen des politischen Wandels ero-dierten, wird die Frage: „In welcher Gesellschaft will ich leben?“ immer seltener von den Werten oder Institutionen geprägt, für deren Erlangung man kämpft, sondern zunehmend von der Art Mensch, der zu sein sie sich einbilden. Und die Frage „Wer sind wir?“ wird immer weniger durch die angestrebte Gesellschaftsform, sondern die Geschichte und das Erbe definiert, dem man vermeintlich zugehört. Der Rahmen, durch den wir uns ein Bild von der Welt machen, wird weniger definiert als „liberal“, „konservativ“ oder „sozialistisch“, sondern viel mehr als „muslimisch“, „weiß“, „englisch“ oder „europäisch“.

 

Durch diese Veränderungen hat sich die Vorstellung, dass sich Werte aus Debatten und Auseinandersetzungen ent-wickeln, nahezu aufgelöst. Stattdessen leben wir allzu oft in unseren kleinen Schubladen oder Echokammern, unwillig Anderen zuzuhören oder unsere eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Dabei lehnen wir es ab, anderen Platz zu bieten oder uns zu ändern. Der Historiker Daniel T. Roger weist darauf hin, dass „schon der bloße Gedanke von Politik als Akt der Abwägung, während der Menschen mit grundsätzlich unterschiedlichen Bedürfnissen und Ausgangspunkten etwas aushandeln müssen, Wege finden müssen Ziele zu erreichen, die sich jeglicher Vorstellung entziehen, vollkom-men entwertet worden ist“.

 

Heute stehen wir vor einem Problem, das grundsätzlicher ist, als Gemeinwohl zu definieren. Unser Problem ist die Bereitschaft miteinander zu reden, auch andere Ansichten als die eigenen ernst zu nehmen und sich mit diesen zu beschäftigen. Offen gegenüber eigener Veränderung zu sein, zählt genauso dazu wie die Erkenntnis, dass wir nur durch diesen Prozess anfangen können, die Werte festzulegen, von denen wir uns wahrhaft, sie gemeinsam zu teilen. Wenn wir uns nicht mit diesen Fragen auseinandersetzen, werden die Möglichkeiten, darüber zu diskutieren, welche Werte wir anstreben, oder eine moralische Gemeinschaft aufzubauen, verschwinden.

 

Kenan Malik, Das Unbehagen in den Kulturen: Eine Kritik des Multikulturalismus und seiner Gegner,

Novo Argumente Verlag 2017.

 

Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog des Autors als Manuskript eines Vortrags vom 14.11.2017.

 

https://www.novo-argumente.com/artikel/auf_der_suche_nach_dem_gemeinwohl

 


 

Karl Polanyi. Sammelband zu einem Wirtschaftshistoriker: https://www.prozukunft.org/v1/karl-polanyi/