Die vielen Gesichter der Gerechtigkeit

 

Michael Borchard

 

Gerechtigkeit – Nur wenige Begriffe entwickeln eine solche Verheißungskraft bei den Bürgerinnen und Bürgern, sind als programmatische Monstranz oder polemischer Vorwurf politisch so wirkmächtig und damit auch gefährlich – und sind doch bei Lichte betrachtet zugleich so schwer zu fassen, so unklar in ihrer Aussagekraft. Man muss nicht die "berühmte" Herabwürdigung des Begriffs der "sozialen Gerechtigkeit" durch Friedrich August von Hayek als "Wieselwort" heranziehen, um eine merkwürdige Mischung aus Wohlempfinden und Abscheu bei diesem Begriff zu empfinden. [1] Aber wer nach dem Gehalt des Begriffs der Gerechtigkeit sucht, der muss sich die Frage stellen, die Hayek für sich klar beantwortet hat: Ist es mit der sozialen Gerechtigkeit tatsächlich so wie beim Wiesel, das Eier restlos aussaugt und dann nur noch die leere, aber äußerlich intakte Hülle zurücklässt? Noch spannender ist – in einem Wahljahr, in dem beinahe alle Parteien die "soziale Gerechtigkeit" thematisieren und mehr oder weniger intensiv zum Wahlkampfthema machen – die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich auf die ausgesaugten Eier "hereinfallen" und erst spät bemerken, dass hinter der Hülle nichts Substanzielles mehr steckt? Oder haben die Menschen einen differenzierten und vielschichtigen Gerechtigkeitsbegriff?

 

Warum ist zudem der Wert der Gerechtigkeit ein scheinbar lohnendes Thema für die Wahlplakate in einer Zeit, in der es Deutschland nach wie vor – gegen den europäischen Trend – wirtschaftlich vergleichsweise gut geht? Umfragen zeigen, dass bei vielen Menschen die Unsicherheit über die Zukunft trotz Zufriedenheit über die konjunkturelle Situation wächst. Renate Köcher hat das den "entspannten Fatalismus" genannt. [2] Andere Politikwissenschaftler sprechen von einer "stabilen Ambivalenz" und der "sorgenvollen Zufriedenheit". [3] Dabei spielt die Befürchtung eine Rolle, dass Deutschland nicht ewig eine Insel der Seligen bleiben kann und das Vertrauen in ein baldiges Ende der Euro-Krise nicht sehr ausgeprägt ist.

 

Stabile Ambivalenz ist zugleich das richtige Stichwort, wenn es um die Einschätzungen in Sachen Gerechtigkeit geht: Während mehr als zwei Drittel der Deutschen der Auffassung ist, dass die soziale Gerechtigkeit eher abgenommen hat, beurteilen die gleichen Menschen Deutschland im internationalen Vergleich als sehr gerechtes Land. [4] Diese Einschätzung weist nicht nur auf einen hohen Standard des sozialen Ausgleichs hin, sondern auch darauf, dass die Frage nach der Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland historisch eine geradezu konstitutive Wirkung hatte, die auch im Bewusstsein der Menschen fest verankert ist: Eindeutig bestand in der Nachkriegszeit ein Zusammenhang zwischen den sozialstaatlichen Segnungen und einer gewissen Zufriedenheit mit Demokratie und Staatswesen.

 

Der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat den Begriff des "Verfassungspatriotismus" geprägt. [5] Dass der auf einen Verfassungstext gerichtete Patriotismus eine "blutleere" Angelegenheit sei, hat man ihm immer wieder vorgehalten. Vielleicht ist die emotionale Verbundenheit zu Staat und Verfassung eher durch so etwas wie einen "Sozialstaatspatriotismus" hergestellt worden. [6] Dieser Sozialstaatspatriotismus hat für lange Zeit den Stolz auf die Geschichte der deutschen Nation, der durch den Nationalsozialismus diskreditiert war, zumindest in Teilen ersetzt. Die Identifikation mit dem Staatswesen ist nicht alleine durch die Sicherheit des Sozialstaats herbeigeführt worden, sondern auch durch eine politische Logik, die über Jahrzehnte vor allem auf die Verheißungen sozialer Wohltaten gesetzt hat. Nach den Klassenkämpfen in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie nach den Verheerungen des Nationalsozialismus hatten diese Ausgleichsmechanismen eine befriedende und stabilisierende Wirkung: "Nur eine mehrheitlich als sozial gerecht empfundene Gesellschaft wird auf Dauer das notwendige Potenzial zur Konfliktregelung und gewaltlosen Streitschlichtung zur Verfügung stellen können." [7]

 

Politische Steuerung, das hat übrigens alle Bundesregierungen vereint, folgte über Jahrzehnte dem Muster, mehr oder weniger konsequent auf die Zuwendung finanzieller Mittel zu setzen. Schon im Laufe der 1990er Jahre hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Verteilung sozialstaatlicher Wohltaten eine hemmende Wirkung hat, die den notwendigen Wettbewerb zurückdrängt. Die Tatsache, dass in den späten 1960er und 1970er Jahren der Begriff der sozialen Gerechtigkeit vor allem als Umverteilung von Vermögen und Einkommen begriffen wurde, hatte Auswirkungen, die sich nicht zuletzt auf dem deutschen Arbeitsmarkt niederschlugen und seine Dynamik und Aufnahmefähigkeit in den Jahren nach der Wiedervereinigung bremsten. [8]

 

Die notwendigen Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur nach der deutschen Wiedervereinigung sowie die ansteigende Arbeitslosigkeit belastete in den 1990er Jahren die öffentlichen Haushalte derartig, dass kaum noch finanzielle Spielräume für sozialstaatliche Segnungen blieben. Der Sozialstaat deutscher Prägung sei kein Modell mehr, schrieb 1998 der "Spiegel", er sei zum Monstrum geworden, das an seiner eigenen Größe zu ersticken drohe. [9] Vor allem aber sei er zutiefst ungerecht geworden, weil er seine Leistungen willkürlich und nicht selten an den wirklich Bedürftigen vorbei verteile. Diese wachsende Kritik an einem ausufernden Sozialstaat veränderte die bis dahin vorherrschende und auf Umverteilung konzentrierte Interpretation des Gerechtigkeitsbegriffs nachhaltig. Es gehe nun "um eine gerechte Verteilung von Chancen, also den Möglichkeiten, seine eigenen Lebenspläne zu verwirklichen. Dies umfasst nicht nur die materielle Absicherung oder einen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand, sondern vor allem auch den Zugang zu Bildung, Kultur und die Ermöglichung politischer Teilnahme." [10]

 

Mit der Finanzkrise seit 2008 veränderte sich der Blick auf die Gerechtigkeit noch einmal deutlich. Die "schwäbische Hausfrau" scheint kein Mythos zu sein. Offensichtlich besitzen die Bürgerinnen und Bürger inzwischen so etwas wie einen ordnungspolitischen Instinkt, wie die geradezu aufregenden Befunde einer Studie aus dem Jahr 2012 andeuten: [11] 76 Prozent der in Deutschland befragten Menschen stimmen beispielsweise zu, dass die Aussage "Der Staat sorgt dafür, dass es nur geringe Unterschiede bei den Einkommen der Bürger gibt" nicht zu einer Marktwirtschaft gehört. Ebenso deutlich werden Subventionen für angeschlagene Unternehmen abgelehnt. Selbst unter Facharbeitern gibt es eine klare Ablehnung der Aussage "Ich finde es richtig, dass der Staat Betriebe und Wirtschaftszweige, die alleine nicht lebensfähig sind, finanziell unterstützt. Dadurch werden viele Arbeitsplätze erhalten". Für die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht außer Frage, dass Gewinne für die Unternehmen und für ihren Fortbestand außerordentlich wichtig sind und es für diese Unternehmen keinesfalls ausreicht, wenn sie nur ihre Kosten decken. 60 Prozent der Menschen sehen Unternehmer und Bevölkerung in einem Boot.

 

Dieses ordnungspolitische Bewusstsein wirkt sich auch auf die Einschätzung der verschiedenen Ausprägungen der Gerechtigkeit aus: "Die große Mehrheit der Bürger hat einen umfassenden, anspruchsvollen Gerechtigkeitsbegriff, der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit genauso umfasst, wie Familien- und Generationengerechtigkeit sowie Verteilungsgerechtigkeit." [12] Dabei nehmen die Menschen eine klare Priorisierung der verschiedenen Ausprägungen vor: Ganz besonders wichtig ist ihnen die Chancengerechtigkeit. An zweiter Stelle stehen gemeinsam die Familiengerechtigkeit und die Leistungsgerechtigkeit. Erst an letzter Stelle, hinter der Generationengerechtigkeit, steht die Verteilungsgerechtigkeit, die nur noch 21 Prozent der Befragten als ganz besonders wichtig einschätzen.

 

Der Gerechtigkeitsbegriff, vor allem aber die ordnungspolitischen Einschätzungen müssten die Menschen eigentlich in erster Linie mit der Christdemokratie verbinden, die in ihrer Programmatik an vielen Stellen diesem Bild entspricht. Warum aber ist das augenscheinlich nicht der Fall? Zunächst steht auch für die CDU fest: Mit der sozialen Gerechtigkeit werden Wahlen gewonnen und Wahlen verloren. Keine Partei kann es sich leisten, diesen Begriff – im wahrsten Sinne des Wortes – links liegen zu lassen und nicht wenigstens an einer Stelle des eigenen Programms anzusprechen. Und doch gehen die Parteien sehr unterschiedlich mit ihm um. Sie tun dies in dem Wissen, dass die Wählerinnen und Wähler die Kompetenzzuweisungen an die Parteien beinahe schon traditionsbewusst – und nicht immer mit den Inhalten verbunden – vornehmen.

 

Gerade weil die Kenntnisse über Politik deutlich zurückgehen und viele Menschen der Politik distanziert gegenüber stehen, nehmen die relativ fest gefügten Images eine wichtige Rolle ein. So wie bei einem Menschen, den man aus weiter Ferne betrachtet, weniger die Details des Gesichts, sondern eben die äußeren Formen erkennbar sind, überhöhen diese Images einzelne Merkmale. Soziale Gerechtigkeit wird, mit Ausnahme der CSU in Bayern, als Kompetenz immer bei der SPD verortet. Es kann bei Wahlen als ehernes Gesetz betrachtet werden: Wenn die CDU bei einer Landtagswahl bei der Kompetenz der sozialen Gerechtigkeit vergleichsweise gut abschneidet, aber Schwächen bei der Wirtschaftskompetenz zeigt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahl verloren geht, recht hoch. Bei der SPD ist es exakt umgekehrt.

 

Die unbeirrte Zuweisung des "Gerechtigkeitsimages" an die SPD treibt dabei gelegentlich interessante Blüten: Die Leistungsgerechtigkeit, die nicht gerade im Zentrum der sozialdemokratischen Programmatik steht und im aktuellen Regierungsprogramm der CDU neben der "Generationengerechtigkeit" als einzige Teilgerechtigkeit einen prominenten Platz einnimmt, wird von den Bürgerinnen und Bürgern mit deutlicher Mehrheit der SPD zugewiesen, wie eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt. [13] Auch wenn die CDU der SPD die Kompetenz bei der sozialen Gerechtigkeit kaum streitig machen kann, so muss sie dennoch – insbesondere bei den Themen der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit – ihre Anhängerschaft zielgerichtet ansprechen.

 

Der politische Umgang mit der Gerechtigkeit wird noch dadurch erschwert, dass dieses Thema stark in der Gefahr steht, bei Meinungsumfragen verzerrt dargestellt zu werden. Denn es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen der allgemeinen Frage nach Gerechtigkeit, bei der sozial erwünschte Antworten zu Buche schlagen können oder die persönliche Betroffenheit ausgeblendet wird, und der Frage nach der persönlichen Situation, bei der die Menschen direkt betroffen sind. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach dem Spitzensteuersatz, welche die Meinungsforschungs-institute TNS Emnid im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und TNS Infratest kürzlich gestellt haben. [14] 77 Prozent der Befragten sind dafür, dass Personen mit sehr hohem Einkommen und sehr großem Vermögen höhere Steuern zahlen sollen als bisher, damit mehr finanzielle Mittel für öffentliche Aufgaben zur Verfügung stehen. Wenn man hingegen die Menschen mit der Tatsache konfrontiert, dass für Alleinstehende ab einem Jahreseinkommen von 53.000 Euro der Spitzensteuersatz von 42 Prozent gilt, dann finden 14 Prozent diesen Spitzensteuersatz zu niedrig und immerhin 19 Prozent empfinden ihn sogar als zu hoch.

 

Diese Tatsache ist für die Beurteilung wichtig, ob es tatsächlich die vielfach in den Medien und der Politik deklamierte "Gerechtigkeitslücke" gibt. Staat und Politik tun gut daran, in Bezug auf die Gerechtigkeit nicht aufstachelnd, sondern moderierend zu wirken. Denn je moralischer die Interpretation des Begriffs der Gerechtigkeit unterlegt ist, desto größer ist die Gefahr, dass in einem schleichenden Prozess jede Form der Verschiedenheit zunehmend als Ungerechtigkeit interpretiert wird. [15]

 

Verteilungsgerechtigkeit darf die Leistungsgerechtigkeit nicht überragen, denn in einem freiheitlichen Staatswesen darf nicht verlernt werden, Ungleichheit als einen Ansporn zu bewerten, um mit mehr Leistung aufzusteigen und ein höheres Niveau von Bildung, Einkommen zu erreichen. Wenn das Gefühl besteht, dass sich Anstrengung nicht lohnt, wächst die Gefahr, dass der Wille zur Freiheit erlahmt. Verantwortliche und verantwortete Freiheit und Gerechtigkeit müssen von Politik und Gesellschaft gemeinsam immer wieder in eine Balance gebracht werden. Dabei hilft, dass Leistung für die Menschen wieder zu einer Kategorie wird. "Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen als derjenige, der weniger leistet", sagen 77 Prozent der Deutschen. [16] Dass das vielfach mit einer rigorosen und gesellschaftlich schädlichen Abgrenzung nach "unten" zu den Transferempfängern einhergeht, darf dabei nicht verschwiegen werden.

 

Zweifelhafte "Armutsdefinitionen" und Studien, die ein vermeintliches Schrumpfen der Mittelschicht als Gewissheit verkaufen, aber an deren Indikatoren und Methodik Zweifel angebracht sind, schüren allerdings den politischen Vorwurf einer Gerechtigkeitslücke und widersprechen der Tatsache, dass eine Verschlechterung der Einkommens- und Vermögensverteilung gegenwärtig ebenso wenig zu beobachten ist wie das angebliche Massenphänomen der Armut. [17] Das heißt freilich nicht, dass es nicht ganz erhebliche Baustellen in Sachen Gerechtigkeit in Deutschland gibt. Dazu gehört zweifelsohne das Thema der Generationengerechtigkeit. Auch wenn einige Stimmen, wie etwa der Wirtschaftswissenschaftler Axel Börsch-Supan, die Generationengerechtigkeit als Schimäre darstellen, [18] so steht doch unter dem Strich die banale Erkenntnis außer Frage, dass wir vor allem den kommenden Generationen keine untragbaren Belastungen aufbürden dürfen. Haushaltskonsolidierung und Schuldenvermeidung bleiben deswegen wichtige Beiträge zum Generationenausgleich.

 

Wenn die Bürgerinnen und Bürger die Chancengerechtigkeit als wichtigste Dimension einstufen, dann richtet sich der Blick besonders auf die Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen. Hier besteht in Sachen "Gerechtigkeit" vielleicht der höchste und politisch vordringlichste Handlungsbedarf. [19] Eine Mehrheit der Eltern bezweifelt, dass Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft und speziell im Bildungssystem gesichert ist, und die Lehrerinnen und Lehrer teilen diese Skepsis mit deutlicher Mehrheit. [20] Auch wenn sich die ungleichen Startchancen seit der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 in Deutschland deutlich verbessert haben: Es kann uns kaum ruhen lassen, dass der Bildungserfolg und damit auch die beruflichen Chancen hierzulande noch immer stark mit dem Elternhaus und dem jeweiligen sozioökonomischen Hintergrund zusammenhängen.

 

Man mag die Methodik der OECD kritisch sehen, aber es muss ernst genommen werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus sozial schwächerem Umfeld durch Bildung am gesellschaftlichen Wohlstand teilnehmen können, in Deutschland deutlich geringer ausgeprägt ist als in anderen OECD-Staaten. Eine Schlüsselstellung kommt der frühkindlichen Bildung zu, die weit überwiegend – und durchaus mit Hingabe – in den Elternhäusern geleistet wird, aber dazu führt, dass die Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schullaufbahn eintreten. Übertriebenen Leistungsdruck will niemand rechtfertigen, aber wer die Bemühungen um einen international wettbewerbsfähigen Bildungsstandard als "Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse" diskreditiert, der verkennt, dass die Voraussetzung für eine eigenverantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben immer und vor allem gute Bildung ist.

 

Kardinal Reinhard Marx, der "Sozialbischof", bringt es auf den Punkt und betont, dass die ganze Gerechtigkeits-diskussion fehlgeht, wenn sie nicht die Chancen der Jüngsten in unserer Gesellschaft beherzt in den Blick nimmt: "Die Kinder (…) sind die Achillesferse unserer Gesellschaft. Wenn wir ihnen keine lebenswerte Zukunft zugestehen und ermöglichen, ist auch unser Leben gefährdet. Dann aber werden wir uns selbst als freie Menschen nicht gerecht und geben das Streben nach Gerechtigkeit auf. Eine Gesellschaft kann nicht lebensfähig sein ohne Freiheit und Gerechtigkeit." [21] Wie kritisch, wie schizophren auch immer man den Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" empfinden mag, für eine Gesellschaft, welche die Würde des Menschen explizit in den Mittelpunkt stellt, bleibt die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit die leitende Kategorie.

 

Fußnoten

 

1. Vgl. Friedrich August von Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, in: Manfred E. Streit (Hrsg.), Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. A7, Tübingen 2004, S. 61f.

2. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.10.2012.

3. Joachim Raschke/Ralf Tils, Die krummen Wege und der Stolpergang, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, (2013) 1/2, S. 13.

4. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (IfD), Was ist gerecht?, Allensbach 2013, S. 3ff. Nur zwei Prozent gehen davon aus, dass es in Deutschland am wenigsten soziale Gerechtigkeit gibt.

5. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, Frankfurt/M. 1990, S. 26–30.

6. Arnulf Baring, Unsere Schläfrigkeit ist unbegreiflich, in: Der Spiegel, Nr. 45 vom 8.11.1999.

7. Erwin Carigiet (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit, Zürich 2006, S. 396.

8. Vgl. Michael Borchard/Thomas Schrapel, "Gerechtigkeit", in: dies./Bernhard Vogel (Hrsg.), Was ist Gerechtigkeit?, Wien–Köln–Weimar 2012, S. 28.

9. Vgl. Der Spiegel, Nr. 30 vom 20.7.1998.

10. Stefan Liebig/Meike May, Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, in: APuZ, (2009) 47, S. 4.

11. Vgl. IfD, Wirtschaftliches Verständnis und ordnungspolitische Positionen der Bevölkerung, Allensbach 2012, S. 37, S. 46.

12. Dass. (Anm. 4), S. 37. Auch die folgenden Absätze beziehen sich auf diese Studie.

13. Vgl. Viola Neu/Sabine Pokorny, Breiter gesellschaftlicher Wertekonsens, 26.2.2013, http://www.zukunftvolkspartei.de/?p=534« (9.7.2013).

14. Vgl. hier und im Folgenden: INSM, Die Frage entscheidet, online: http://www.insm.de/insm/Themen/Steuern-und-Finanzen/Vergleich-Umfrage-zu-Spitzensteuersatz.html« (9.7.2013); TNS Emnid, Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage zum Spitzensteuersatz, Bielefeld 2013, S. 3ff.

15. Vgl. M. Borchard/T. Schrapel (Anm. 8), S. 24.

16. Vgl. IfD (Anm. 4), S. 6.

17. Vgl. Michael Hüther, Schwache stärken, in: Wirtschaftswoche Global, Nr. 2 vom 24.6.2013, S. 26f.

18. Vgl. Axel Börsch-Supan, Utopie der Gerechtigkeit, in: ebd., S. 74f.

19. Vgl. OECD (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit in der OECD, Gütersloh 2010, S. 6ff.

20. Vgl. Vodafone-Stiftung Deutschland (Hrsg.), Hindernis Herkunft, Düsseldorf 2013.

21. Handelsblatt vom 21.12.2012.

 

Zur Person

Dr. phil. Michael Borchard, geb. 1967; Leiter der Hauptabteilung "Politik und Beratung" der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Klingelhöferstraße 23, 10785 Berlin. michael.borchard@kas.de    12.08.2013

 

http://www.bpb.de/apuz/166657/die-vielen-gesichter-der-gerechtigkeit

 


 

Soziale Gerechtigkeit

 

Stefan Hradil

 

Ob soziale Konflikte entstehen oder der gesellschaftliche Zusammenhalt stabil bleibt, hängt von der Gerechtigkeits-wahrnehmung des sozialen Ungleichheitsgefüges ab. In Deutschland ist die Gesellschaft immer ungleicher geworden. Meist gibt es unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen.

 

Moderne Gesellschaften unterscheiden sich von traditionalen nicht durch das Vorhandensein sozialer Ungleichheit, sondern durch ihren Anspruch, über ein legitimes Gefüge sozialer Ungleichheit zu verfügen. Ob soziale Konflikte entstehen oder der gesellschaftliche Zusammenhalt stabil bleibt, hängt daher entscheidend davon ab, inwieweit die Menschen das Gefüge sozialer Ungleichheit als gerecht ansehen. Dies wird dann umso wichtiger, wenn eine Gesellschaft immer ungleicher wird und wichtige, wahrnehmbare Mobilitätsbarrieren eher höher als niedriger ausfallen, wie das in der deutschen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte der Fall ist.

 

Definition

 

Unter Gerechtigkeit werden moralisch begründete, akzeptierte und wirksame Verhaltens- und Verteilungsregeln verstanden, die Konflikte vermeiden, welche ohne die Anwendung von Gerechtigkeitsregeln bei der Verteilung begehrter Güter oder ungeliebter Lasten auftreten würden [1]. Wie alle moralischen Regeln, so setzen auch Normen sozialer Gerechtigkeit voraus, dass Menschen ihr Verhalten und Verteilungsprozesse gestalten können. Gerechtigkeitsforderungen angesichts von Sachzwängen sind sinnlos.

 

Unter sozialer Gerechtigkeit sind allgemein akzeptierte und wirksame Regeln zu verstehen, die der Verteilung von Gütern und Lasten durch gesellschaftliche Einrichtungen (Unternehmen, Fiskus, Sozialversicherungen, Behörden etc.) an eine Vielzahl von Gesellschaftsmitgliedern zugrunde liegen, nicht aber Verteilungsregeln, die beispielsweise ein Ehepaar unter sich ausmacht [2].

 

Soziale Gerechtigkeit findet sich auf mehreren Ebenen: Erstens ist sie gewissermaßen "eingebaut" in viele gesellschaft-liche Einrichtungen (z. B. in die höheren Steuerklassen für Ledige oder in die gesetzliche Krankenversicherung, in der Familienmitglieder unter Umständen kostenlos mitversichert sind). Zweitens ist soziale Gerechtigkeit in den Einstellungen der Menschen enthalten. Und drittens wird sie deutlich in deren Verhalten, z. B. in der politischen Partizipation.

 

Konzentriert man sich auf die Einstellungen der Menschen, so finden sich in ihren Köpfen – oft gleichzeitig, häufig vage und nicht selten vermischt – meist mehrere unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Wenn von "sozialer Gerechtigkeit" die Rede ist, dann bleibt also festzustellen, um welche Gerechtigkeit es sich im Einzelfall handelt.

 

Arten sozialer Gerechtigkeit

 

Vorstellungen von Leistungsgerechtigkeit fordern, dass Menschen so viel erhalten sollen (Lohn, Schulnoten, Lob etc.), wie ihr persönlicher Beitrag und/oder ihr Aufwand für die jeweilige Gesellschaft ausmachen. Konzepte der Leistungsgerechtigkeit sehen also ungleiche Belohnungen vor, um die Menschen für ungleiche Bemühungen und ungleiche Effektivität zu belohnen, sie zur weiteren Anstrengung zu motivieren und so für alle Menschen bessere Lebensbedingungen zu erreichen.

 

Vorstellungen von (Start-)Chancengerechtigkeit zielen darauf ab, dass alle Menschen, die im Wettbewerb um die Erlangung von Gütern und die Vermeidung von Lasten stehen, die gleichen Chancen haben sollen, Leistungsfähigkeit zu entwickeln und Leistungen hervorzubringen. Das Konzept der Chancengerechtigkeit bezieht sich also nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Ausgestaltung von Leistungswettbewerb. Unterstellt werden durchaus ungleiche Verteilungsergebnisse. Die Vorstellung von Chancengerechtigkeit hat nur dann einen Sinn, wenn Chancen bestehen, mehr oder weniger große Erfolge zu erzielen (zum Beispiel das Abitur statt einen Hauptschulabschluss zu absolvieren). Das Konzept der Chancengerechtigkeit erstreckt sich auf ganz unterschiedliche Startpunkte und Konkurrenzfelder.

 

Als bedarfsgerecht gelten Verteilungen, die dem "objektiven" Bedarf von Menschen entsprechen, insbesondere ihren Mindestbedarf berücksichtigen. Empirisch vorzufinden ist Bedarfsgerechtigkeit zum Beispiel in den unterschiedlichen Steuerklassen des Einkommenssteuerrechts. Hinter diesem Konzept steht die Einsicht, dass Chancen- und Leistungsgerechtigkeit nicht in der Lage sind, dem jeweiligen Bedarf der nicht Leistungsfähigen, das heißt der Kranken, Alten, Kinder etc. gerecht zu werden.

 

Dem Konzept der egalitären Gerechtigkeit zufolge sollen Güter und Lasten möglichst gleich verteilt werden. In einer abgeschwächten Version dieser Gerechtigkeitsvorstellung werden auch Verteilungen von Gütern und Lasten, die gewisse Bandbreiten der Ungleichheit nicht überschreiten, als gerecht angesehen. Empirisch äußern sich egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen zum Beispiel in der Kritik an bestimmten Managergehältern allein aufgrund ihrer enormen Höhe oder an der Erwartung, dass eine "gerechte" Gesundheitsversorgung für alle Menschen gleich gut sein müsse [3].

Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit werden in aller Regel für nationalstaatliche Gesellschaften heute lebender Menschen erhoben. Daran wird immer kritisiert, dass Gerechtigkeitsvorstellungen nicht an Landesgrenzen Halt machen dürfen (z. B. im Rahmen des Welthandels), Altersgruppen unterscheiden sollten (so Rentner und Erwerbstätige) und (etwa im Hinblick auf den Ressourcenverbrauch) auch unsere Nachfahren mit einbeziehen müssen. Konzepte der "Globalen Gerechtigkeit" sind daher auf alle Menschen unseres Planeten gerichtet. Forderungen nach "Generationen-gerechtigkeit" erstrecken sich auf die Güter- und Lastenverteilung der heute lebenden Generationen wie auch der kommenden.

 

Die Konzepte einer globalen und einer intergenerationalen Gerechtigkeit stellen keine neuen Gerechtigkeitsarten, sondern Maßstabsveränderungen bisheriger Gerechtigkeitsverständnisse dar. Wer Generationengerechtigkeit fordert, kann damit auch Leistungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit und/oder Gleichheitsgerechtigkeit meinen. Die vier Grundtypen sozialer Gerechtigkeitsvorstellungen sind nicht alle vereinbar. Wer Leistungsgerechtigkeit und/oder Chancengerechtigkeit fordert, befürwortet die Verteilung von ungleich hohen Belohnungen, also soziale Ungleichheit. Wer sich jedoch für Gleichheitsgerechtigkeit oder Bedarfsgerechtigkeit ausspricht, sieht gleich oder ähnlich hohe Belohnungen als Kern der Gerechtigkeit. Diese Konzeptpaare stehen also im Widerspruch zueinander und können nicht ohne weiteres gleichzeitig gefordert werden. Will man sie vereinbaren, so sind mindestens gegenseitige Begrenzungen erforderlich.

 

Ungeachtet ihrer prinzipiellen Gegensätzlichkeit setzen die genannten Gerechtigkeitsformen einander aber auch ein Stück weit voraus. So dient ein Mindestmaß an Bedarfsbefriedigung und sozialer Gleichheit – Ralf Dahrendorf nannte dies einmal den Fußboden und die Decke, die jede Gesellschaft benötigt – der Realisierung von Chancen- und Leistungsgerechtigkeit. Und die motivierenden und produktiven Kräfte der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit schaffen erst die Ressourcen, um Bedarfs- und Gleichheitsgerechtigkeit realisieren zu können.

 

Auch die Beziehungen innerhalb der beiden Gerechtigkeitspaare sind komplex und erfordern ein gegenseitiges Austarieren. So kann durch die ausschließliche Beachtung von Leistungsgerechtigkeit (z. B. in der Schule) schnell die Chancengerechtigkeit unter die Räder geraten – und umgekehrt.

 

Empirische Befunde

 

Empirische Befunde (Lippl/Wegener 2004) zeigen, dass fast alle Menschen in Deutschland, allerdings leicht sinkende Anteile, Forderungen nach Leistungsgerechtigkeit zustimmen. Forderungen nach Chancengerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit schließen sich die meisten, und zwar steigende Anteile der Menschen an. Forderungen nach gleicher Verteilung stimmt nur eine, allerdings ebenfalls steigende Minderheit der Menschen zu.

 

In vielen Meinungsäußerungen, Parteiprogrammen etc. verschmelzen diese teils widersprüchlichen, teils einander ergänzenden oder voraussetzenden Gerechtigkeitskonzepte häufig bis zur Ununterscheidbarkeit. Selbst wenn die jeweiligen Gerechtigkeitsverständnisse auseinandergehalten werden, so bleibt die operationale Definition (Was gilt als Leistung? Welche Grundbedarfe sollen gedeckt werden?) meist offen. Maßgebend ist daher vielfach eher ein "Gefühl" von Gerechtigkeit als eine exakte Definition.

 

Die empfundene Gerechtigkeit des eigenen Einkommens in Deutschland 2008Die empfundene Gerechtigkeit des eigenen Einkommens in Deutschland 2008 (© Wochenbericht des DIW Berlin. Nr. 31/2008: 437)

 

Fragt man nach dieser gefühlten Gesamtbeurteilung, so ergibt sich, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen der Meinung ist, der Wohlstand in Deutschland sei nicht gerecht verteilt und die soziale Gerechtigkeit habe in den letzten drei, vier Jahren abgenommen (Glatzer 2009: 19). Dieser Gesamteinschätzung widerspricht allerdings die Einschätzung der eigenen Situation: Ihren eigenen Anteil am Wohlstand halten in Westdeutschland zwei Drittel (in Ostdeutschland nur gut ein Drittel) für gerecht (Statistisches Bundesamt 2008: 415).

 

Nur eine mehrheitlich als gerecht empfundene Gesellschaft wird auf Dauer friedlich kooperieren und Konflikte ohne Gewalt regeln können. Dies gilt umso mehr in einer Gesellschaft wie Deutschland, die kulturell, ethnisch, sprachlich, religiös und im Alltagsverhalten immer heterogener wird, deren traditionelle Bindeglieder also immer schwächer werden. Gerechtigkeitsempfindungen als integrierender "Kitt" der Gesellschaft werden auch deshalb immer wichtiger, weil der verfügbare Wohlstand der Bürger in absehbarer Zeit eher stagnieren als zunehmen wird. Gibt es weniger zu verteilen, dann werden die Verteilungskonflikte härter. Vor diesem Hintergrund stimmen die Anzeichen eines wachsenden "Gerechtigkeitsdefizits" bedenklich.

 

 

Fußnoten

 

1. Dieses weite Verständnis von Gerechtigkeit bezieht sich im Sinne der auch heute noch maßgebenden Definitionen des Aristoteles sowohl auf die (öffentlich) austeilende Gerechtigkeit als auch auf die (privat und freiwillig) ausgleichende Tauschgerechtigkeit, nicht aber auf die (unfreiwillig) ausgleichende Strafgerechtigkeit.

2. Soziale Gerechtigkeit betrifft in der Terminologie des Aristoteles öffentlich austeilende, nicht aber privat ausgleichende Gerechtigkeit zwischen Einzelnen.

3. In den gesellschaftlichen und politischen Diskursen der letzten Jahre gerieten neben den vier genannten Grundformen zwei weitere Verständnisse sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund. Sie stellen im Grunde Weiterentwicklungen der Chancen- und der Leistungsgerechtigkeit dar:

 

Teilhabegerechtigkeit gilt als erreicht, wenn Menschen jeder gesellschaftlichen Gruppierung (zum Beispiel Behinderte und nicht Behinderte) die Chance haben, an Aktivitäten aller relevanten gesellschaftlichen Bereiche teilzunehmen und ihre Anliegen in den Prozess der politischen und gesellschaftlichen Willensbildung einzubringen. Teilhabegerechtigkeit ist also eine "dynamisierte", auf die Entstehungsprozesse und nicht auf einen Idealzustand ausgerichtete Version der oben skizzierten Chancengerechtigkeit (Liebig/May 2009).

 

"Produktivistische Gerechtigkeit" gilt dann als verwirklicht, wenn Menschen für ihren Beitrag zur Erhaltung des Gemeinschaftslebens insgesamt (zum Beispiel durch die Erziehung von Kindern) entsprechend belohnt werden. Die Vorstellung produktivistischer Gerechtigkeit erweist sich damit als eine erweiterte Version der oben angeführten Vorstellung von Leistungsgerechtigkeit. Diese konzentriert sich in der Regel auf Leistungen im (Aus-)Bildungswesen und in der Erwerbstätigkeit und blendet so nicht bezahlte bürgerschaftliche Leistungen in Ehrenämtern, in der Nachbarschaft sowie Leistungen in der Familie aus. Dies will das Konzept der "produktivistischen Gerechtigkeit" verhindern.   31.05.2012

 

 

zur Person

 

Prof. Dr. Stefan Hradil, geb. 1946 in Frankenthal (Pfalz), von 1991 bis 2011 Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium der Soziologie, Politologie und Slavischen Philologie an der Universität München (1968 – 1973) war er von 1974 bis 1989 wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität München. Promotion 1979 und Habilitation 1985 an der Universität München. Von 1989 bis 1990 Professur für Sozialstruktur-analyse an der Universität Bamberg. Stefan Hradil wurde 1994 Ehrendoktor der Universität für Wirtschaftswissen-schaften Budapest, war 1995 bis 1998 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, ist seit 2001 Vorstands-vorsitzender der Schader-Stiftung, Darmstadt und seit 2006 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialstrukturanalyse, auch im internationalen Vergleich, Soziale Ungleichheit, Soziale Milieus und Lebensstile, Sozialer Wandel.

 

http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138445/soziale-gerechtigkeit?p=all

 


 

Soziale Gerechtigkeit in neuen Spannungslinien

 

Paul Nolte

 

Materielle Umverteilung und kulturelle Anerkennung greifen bei veränderten sozialen Konfliktlagen gleicher-maßen zu kurz. Gerechtigkeit muss im Spannungsfeld neuer Verteilungsfragen und kultureller Teilhabe neu positioniert werden.

 

 

Einleitung

 

Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist Gerechtigkeit wieder zu einem großen Thema, zu einem Leitbegriff der Politik, der öffentlichen Auseinandersetzung, der gesellschaftlichen Konflikte geworden. In Deutschland ist diese "Renaissance der Gerechtigkeit" besonders deutlich spürbar - was mindestens zweierlei bedeutet.

 

Erstens spitzt sich hier die Krise der klassischen Wohlfahrts- und Wohlstandsgesellschaften des nordatlantischen Raumes schärfer zu als bei vielen unserer Nachbarn. Das liegt auch an der deutschen Verspätung bei der Bearbeitung dieser Probleme, und dieser Verspätung wiederum liegt ein ganzes Bündel von historischen Ursachen zugrunde. Es reicht von einer obrigkeitlichen, auf staatliche Versorgung fixierten Sozialmentalität über das Erbe der Diktaturen des 20. Jahrhunderts (vor allem des Nationalsozialismus, sekundär auch des DDR-Regimes) bis zu den Folgen der Wiedervereinigung vor anderthalb Jahrzehnten.

 

Zweitens bedeutet die Renaissance der Gerechtigkeit "in Deutschland" aber auch, dass sich der Fokus der Debatte in bemerkenswerter Weise auf den nationalen Raum zurückverschoben hat. In den achtziger Jahren spielten globale Disparitäten, vor allem das Nord-Süd-Gefälle im weltweiten Wohlstand, eine viel wichtigere Rolle, obwohl dieses Gefälle in vieler Hinsicht, jedenfalls gegenüber großen Teilen Afrikas, seither größer und nicht kleiner geworden ist. Doch das politische Interesse und nicht zuletzt die subjektive Betroffenheit der Bürgerinnen und Bürger selbst richtet sich (im vermeintlich postnationalen Zeitalter) primär wieder auf den nationalen Binnenraum, was die Verteilung von Vermögen, Einkommen, Bildung und allgemeinen Lebenschancen betrifft. Das Gefühl ist weit verbreitet (und hat vermutlich sogar einen neuen historischen Höhepunkt erreicht), dass die neue Dynamik des Kapitalismus diese Lebenschancen weniger gerecht als zuvor verteilt, und mehr noch: dass die Reformen, die durch ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel erzwungen werden, zusätzlich Ungerechtigkeit verstärken, statt auf Ausgleich, Balance und Fairness hinzuwirken. Es dürfte inzwischen unbestritten sein, dass die erfolgsverwöhnten westlichen Nachkriegsgesellschaften, unter ihnen die Bundesrepublik, in eine neue und schwierigere Epoche eingetreten sind. Umstritten ist dagegen, welche Konsequenzen diese Entwicklung für jenes Ziel der "Gerechtigkeit" hat, das die großen Volksparteien in Deutschland seit langem gleichermaßen zum Kanon ihrer programmatischen Grundwerte zählen.

 

Auf der einen Seite führt die sozialökonomische Krise zu einer Wiederbelebung älterer Spannungslinien wie der zwischen "Arm" und "Reich". Auf der anderen Seite ist die neue Konstellation gerade dadurch gekennzeichnet, dass Konflikte ganz anderer Art auftauchen und zu einem Problem der Gerechtigkeit werden: ethnische Spannungen etwa oder ein neues Gefälle zwischen Generationen. Die Folge ist paradox: Gerechtigkeit wird gegenwärtig einerseits eindimensionaler, konventioneller verstanden - nämlich als Verteilungsgerechtigkeit in einem sozialökonomischen Klassensystem von "oben" und "unten"; andererseits ist sie vielschichtiger, komplizierter geworden und durch postklassische Konflikte geprägt. Steht auf diese Weise schon der Begriff der Gerechtigkeit selbst im Kreuzfeuer unterschiedlicher Definitionen, ist erst recht strittig, wie eine Politik der Gerechtigkeit aussehen kann, welche politischen Gestaltungsräume es für eine "gerechte" Gesellschaft überhaupt gibt, und vor allem, was die Instrumente einer zeitgemäßen Gerechtigkeitspolitik sein können.

 

Neue Klassengesellschaft

 

Wer seit den achtziger Jahren die angelsächsischen Gesellschaften, vor allem die USA, beobachtet hat, der konnte kaum von den Debatten über eine "neue Klassengesellschaft" überrascht werden, die seit einigen Jahren nach Deutschland geschwappt sind. In England hatte man sich ohnehin nie der Illusion hingegeben, eine stratifizierte Gesellschaft werde in langfristigem und unaufhaltsamem Trend durch eine relativ homogene Mittelklassengesellschaft abgelöst - die working class war nicht mehr die klassische Arbeiterklasse der hochindustriellen Phase, aber sie bewahrte ihre Eigenständigkeit bis in Lebensstil, Habitus und Sprache hinein. Die Vereinigten Staaten dagegen sind, Deutschland gar nicht so unähnlich, gemäß ihrem Selbstentwurf als Pionier- und Aufsteigergesellschaft ein Land der universalisierten Mittelklasse gewesen. Ein ganzes Stück weit waren sie dies auch in der sozialen Realität nach dem Zweiten Weltkrieg, als die (weiße) Arbeiterschaft auf dem Wege von Massenkonsum und Mobilität den Anschluss an die Mittelklassen-gesellschaft fand. Aber seit den späten siebziger Jahren kehrte sich dieser Angleichungstrend in vielerlei Hinsicht wieder um.

 

Seitdem wuchsen die Abstände zwischen Oben und Unten in Einkommen und Vermögen; die Selbständigen und die gebildeten professional classes erzielten Gewinne, mit denen sie sich von dem stagnierenden Status der normalen abhängig Beschäftigten abkoppelten. Außerdem bildete sich in den großen Städten, die immer schärfer rassisch und sozial getrennt waren, eine neue Armutsschicht außerhalb der Erwerbsarbeit heraus, eine urban underclass, in der soziale Probleme sich kumulierten: Arbeitslosigkeit und Gewalt, materielle Armut und Mangel an Bildung, Migration und die Erosion von Familienstrukturen. Diese Realität fand spätestens in den neunziger Jahren ihren Weg auch auf die politische Agenda - vor allem während der Präsidentschaft Bill Clintons -, doch nicht primär, wie im deutschen Fall, als ein Diskurs über Gerechtigkeit.

 

Etwas später als in England und Amerika, und fraglos schwächer als dort, wurde auch die Bundesrepublik Deutschland von diesem Trend zu einer neuen Polarisierung der Gesellschaft erfasst. Die Phänomene sind jedoch bis heute diffuser, nicht zuletzt deshalb, weil sozialstaatliche Kompensationsleistungen bis in das vergangene Jahrzehnt hinein ausgebaut wurden. Das gilt für den Westteil des Landes, in besonderer Weise aber auch für die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung: Große Teile der Bevölkerung - am erfolgreichsten wohl die Rentnerinnen und Rentner - wurden binnen kurzer Zeit durch massive Transferleistungen auf das Konsum- und Lebensniveau der westlichen unteren Mittelschicht gehoben. Andererseits waren jedoch die Zeichen der neuen Trennlinien kaum mehr übersehbar. Die Schere zwischen Einkommen aus selbständiger und aus abhängiger Arbeit vergrößerte sich.

 

Dauerhafte Erwerbslosigkeit und verfestigte Sozialhilfebedürftigkeit begründeten Zonen der neuen Armut, nachdem die "alte Armut" (vor allem Armut im Alter, Armut auf dem Land, proletarische Armut) besiegt war. Die Vision von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" und ihren relativ homogenen sozialen Verhältnissen erodierte schnell. Soziale Unterschiede manifestierten sich aber nicht nur in materiellen Verhältnissen, sondern zunehmend auch in Lebensstil und Konsum. Das Ideal einer auch räumlich integrierten Gesellschaft rückte in weite Ferne, die soziale Segregation des Wohnens nahm seit den achtziger Jahren zu, auch wenn sie nicht die Dimension der "Ghettobildung" anderer Länder annahm. Der Konsum spaltete sich in "Discount"- und "Premium"-Segmente. Und auch die Mediennutzung entwickelte sich sozial höchst unterschiedlich, seit sich nicht mehr ein einheitliches Volk vor den Programmen von ARD und ZDF versammelte. Daraus entstand eine lebhafte Debatte über eine neue Klassengesellschaft und "neue Unterschichten".

 

Gerade im Hinblick auf die Frage nach der Gerechtigkeit muss man an dieser Stelle zwei Dimensionen unterscheiden: Die erste ist die reale Entwicklung von sozialen Strukturen, seien es Vermögensverhältnisse oder Bildungschancen, Siedlungsstrukturen oder kulturelle Stilisierungen. Diese Entwicklung vollzog sich ein bis zwei Jahrzehnte lang, ohne dass sie zum Anlass für Gerechtigkeitsdebatten geworden wäre; vielfach blieb sie überhaupt (jedenfalls für eine breitere Öffentlichkeit) unbemerkt und wurde noch nicht zu einem politisch-moralischen Problem. In dieser Dimension kann man zum Beispiel nach den Strukturbedingungen für die Entstehung und Verfestigung der neuen Unterschichten fragen und dann Faktoren diskutieren wie Wandel der Erwerbsgesellschaft und Deindustrialisierung, Auflösung klassischer Familien (Stichwort: alleinerziehende Mütter), Zuwanderung und Integration, Bildung, Konsum und Mediennutzung.

 

Die zweite Dimension besteht in der Wahrnehmung, Analyse und Politisierung dieser Prozesse. Veränderungen müssen buchstäblich "zur Sprache" und "auf den Begriff" gebracht werden. Von einer Klassengesellschaft, von Ober-, Mittel- und Unterschichten zu sprechen galt vielen zunächst als unangemessen, ja als obszön. Das änderte sich relativ schnell. Parallel dazu verbreitete sich in den letzten Jahren das Empfinden, dass solche Unterschiede die Grenzen des Akzeptablen oder Gebotenen überschreiten - dass es, mit anderen Worten, in unserer Gesellschaft nicht gerecht zugeht. Jedoch ist dieser Schritt der Politisierung und Moralisierung von Ungleichheit nicht zwangsläufig, sondern in großem Umfang historisch und kulturell bedingt. In Deutschland liegt die Schwelle dafür, Ungleichheit - zumal materielle Ungleichheit - auch als ungerecht zu empfinden, niedriger als in vielen anderen Ländern. Auch ist die Neigung größer, die Milderung von Ungerechtigkeit als eine kollektive Maßnahme von der Politik, von staatlichen Institutionen zu erwarten. Insofern das eine strukturelle Überforderung des Staates unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft und einer Marktökonomie darstellt, führen enttäuschte Erwartungen wiederum zu politischer Frustration und Demokratieverdrossenheit. Das kennzeichnet die Situation Deutschlands im Jahre 2005.

 

Zwischenbetrachtung: Begriffe von Gerechtigkeit

 

Es gibt unendlich viele Versuche, Gerechtigkeit zu definieren und verschiedene Dimensionen der Gerechtigkeit zu unterscheiden. Gerechtigkeit ist ein Leitbegriff der abendländischen Tradition seit mehreren tausend Jahren, vielleicht sogar eine Kategorie menschlicher Existenz überhaupt. Zu unterschiedlichen Zeiten und Kulturen hat dieser Begriff ein breites Spektrum von Bedeutungen erschlossen, und bis heute wird kaum Einigkeit über ihn zu erzielen sein. Schon innerhalb des "Westens", der entwickelten euroatlantischen Demokratien, sind erhebliche Unterschiede feststellbar. Sie betreffen nicht nur verschiedene Aspekte der Gerechtigkeit oder Strategien der Gerechtigkeitspolitik, sondern auch den Stellenwert des Grundwerts Gerechtigkeit im Vergleich. So ist es zwar ein Gemeinplatz, aber dennoch zutreffend und folgenreich, dass in den USA die Freiheit unzweifelhaft den ersten Platz in der Werteskala einnimmt, während in Deutschland Gerechtigkeit bzw. Gleichheit oft ebenso wichtig sind. Oder man kann sagen (auch dies ist oft festgestellt worden), dass Gerechtigkeit sich in den angelsächsischen Gesellschaften eher auf die Gleichheit bzw. Fairness der Ausgangsbedingungen bezieht und deshalb in der Rechtsstellung des Invididuums begründet ist, während sie in Kontinentaleuropa mehr auf die Gleichheit der Resultate gerichtet ist und deshalb zum einen der "sozialen" Gerechtigkeit den Vorrang gibt und zum anderen dem Staat eine maßgebliche Rolle für die Erreichung des Ziels der Gerechtigkeit zuweist.

 

Man könnte sagen, dass Gerechtigkeit auf dreierlei zielt: auf Identität, auf Fairness und auf Gleichheit. Gerechtigkeit als Identität, das bedeutet den fundamentalen Anspruch, man selbst sein zu können, seine soziale und kulturelle Identität verwirklichen und ein Leben ohne Zwang und Entfremdung führen zu können. Ungerecht wäre es dann, einen wesentlichen Teil seines Lebens - zum Beispiel seine religiöse Identität - aufgeben zu müssen. Dieser Aspekt lässt sich auch als eine Dimension von Freiheit deuten. Aber er hat tatsächlich in der jüngeren Debatte über Gerechtigkeit eine zentrale Rolle gespielt, nämlich unter dem Stichwort der (kulturellen) "Anerkennung". In einer vielfältigen und pluralistischen Gesellschaft dürfen unterschiedliche Identitäten gerade nicht dem Zwang zur Gleichförmigkeit unterworfen werden, sondern sie haben ein Recht darauf, von der Gemeinschaft Anerkennung (und Respekt) zu erfahren und damit so bleiben zu dürfen, wie sie sind. [1]

 

Gerechtigkeit als Fairness bedeutet, so behandelt zu werden, wie man es verdient hat: gemessen an ethischen Maßstäben oder politischen Übereinkünften, die gleichermaßen aushandlungsbedürftig sind. Während es bei der Identität darum geht, verschiedene Fälle auch verschieden sein zu lassen, lautet das Minimalkriterium bei der Fairness, gleiche (bzw. vergleichbare) Fälle auch gleich zu behandeln. Die Gleichheit von Staatsbürgern vor dem Gesetz und der Grundsatz, "ohne Ansehen der Person" beurteilt, nötigenfalls auch gerichtet zu werden, ist ein wichtiger Teil davon. Diese Dimension der Gerechtigkeit wird in westlichen Demokratien inzwischen für so selbstverständlich gehalten, dass wir wenig über ihre Grundlagen und historische Bedingtheit nachdenken. Aktuell ist sie gleichwohl noch, wie das Beispiel der "Wehrgerechtigkeit" zeigt: Angesichts eines geschrumpften Personalbedarfs wird die allgemeine Wehrpflicht möglicherweise nicht mehr nach fairen Kriterien gehandhabt. Davon sind die Lebenschancen junger Menschen nicht unwesentlich betroffen. Doch illustriert dieses Beispiel zugleich, dass dieser Aspekt der Gerechtigkeit nur über ein vergleichsweise geringes Mobilisierungs- und Politisierungspotenzial verfügt.

 

Schließlich richtet sich die Frage der Gerechtigkeit, drittens, auf den Maßstab der Gleichheit. Damit kann eine Gleichheit der Chancen ebenso gemeint sein wie eine Gleichheit der materiellen Ausstattung, wobeidieser Maßstab in der Regel nicht absolut, sondern nur als ein gedanklicher Fluchtpunkt in Anschlag gebracht wird. Die mindestens implizite Grundannahme dabei ist jedoch in der Tat eine Art fiktiver Naturzustand, wie man ihn aus vielen Vertragstheorien der bürgerlichen Gesellschaft kennt; namentlich ein Naturzustand vor Privateigentum und Arbeitsteilung. Wenn wir in einer arbeitsteilig differenzierten, das Privateigentum schützenden Gesellschaft unterschiedlichen Wohlstand und Status haben (und vererben), dann ist doch unverdiente oder ungerechtfertigte Ungleichheit auch (moralisch) ungerecht. Daran schließt sich heute meistens eine funktionale Rechtfertigung von Ungleichheit an: Aufgrund einer bestimmten Position, die Qualifikation und Verantwortung einschließt, ist zum Beispiel ein höheres Einkommen gerechtfertigt. In diesem Koordinatensystem bewegt sich letztlich auch die berühmteste sozialphilosophische Gerechtigkeitstheorie der letzten Jahrzehnte, die von John Rawls. [2] Ihr Hauptkriterium lautet bekanntlich, dass jede faktische Ungleichheit auch den weniger Privilegierten mehr Vorteile bieten müsse als strikte Gleichheit. Sehr simplifiziert könnte man sagen: Eine kapitalistische Gesellschaft ist dann gerecht, wenn in ihr der Arbeiter mehr verdient als in einer kommunistischen. Solange dieses Kriterium nicht erfüllt ist, kommt als Strategie der Gerechtigkeitspolitik vor allem die materielle Umverteilung in Frage, die in den meisten Nationen des Westens, einschließlich der USA, seit gut einem Jahrhundert durch den Steuerstaat (vor allem mit der progressiven Einkommensteuer) undden Wohlfahrtsstaat (mit seinen direkten und indirekten Transferzahlungen) geleistet wird.

 

Diese drei Aspekte - Identität, Fairness und Gleichheit - lassen sich auch als Stufen der Gerechtigkeit verstehen, die aufeinander aufbauen und auf zunehmend komplexen Voraussetzungen beruhen. Zumal die Vorstellung von Gerechtigkeit als Gleichheit im Sinne einer (materiellen) Verteilungsgerechtigkeit eine Norm ist, die sich keineswegs universell durchgesetzt und auch in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreicht hat. Man könnte sogar die These vertreten, dass das Ideal der Verteilungsgerechtigkeit gerade im historischen Moment der Krise des klassischen Sozialstaates und seiner Verteilungsspielräume am schärfsten formuliert und politisch-moralisch eingefordert werden kann - was die gegenwärtige Renaissance der Verteilungsdebatte erklärt, aber auch die Spannungen, die sich zwischen öffentlicher Wahrnehmung und gesellschaftlicher Realität auftun. In der Hochphase der "alten Bundesrepublik" verstand sich Umverteilung von selbst, und derFluchtpunkt der Gerechtigkeitspolitik konnte diffus bleiben. So verfolgte die gewerkschaftliche Tarifpolitik jahrzehntelang das Ziel einer Angleichung von Lohn- und Gehaltsgruppen - Niedriglohngruppen entfielen, untere Lohngruppen erhielten stärkere Zuwächse -, ohne sich festlegen zu müssen, ob der Arbeiter und der Ingenieur am Ende gleich viel verdienen sollten. Erst die Krise des expansiven Wohlfahrtsstaates zwingt zu einer genaueren Bestimmung der politischen und moralischen Maßstäbe, die dem Ideal der Verteilungsgerechtigkeit zugrunde liegen. [3]

 

Gleichzeitig jedoch wird immer klarer erkennbar, dass die klassischen Strategien der Gerechtigkeitspolitik, auch angesichts neuartiger gesellschaftlicher Probleme, insgesamt an Überzeugungs- und politischer Durchschlagskraft verlieren. Die multikulturelle "Politik der Anerkennung" in den achtziger und neunziger Jahren war bereits eine Antwort auf die Grenzen einer Verteilungspolitik, die implizit immer von dem Ideal einer ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft ausgegangen war. Inzwischen sind auch die Grenzen der Anerkennung ins Bewusstsein getreten - aus mindestens zwei Richtungen: Zum einen endet die Plausibilität der Anerkennung dort, wo grundlegende Werte des zivilen Zusammenlebens, des Rechtsstaates, der Freiheit und der Gleichberechtigung der Geschlechter in Frage gestellt werden. Zum anderen hört sie dort auf, wo kulturelle Verschiedenheit nicht in die offene Pluralität von Lebensstilen mündet, sondern Zonen der Benachteiligung, der Minderung von Lebenschancen zumal von Kindern etabliert und verfestigt. Insofern hat, in beiden Aspekten, das Prinzip universeller Normen zuletzt wieder verlorenes Terrain zurückgewonnen.

 

Dieser Befund einer doppelten Krise der Umverteilung und der Anerkennung steht am Beginn der Karriere eines neuen Begriffes: der Teilhabegerechtigkeit. Damit ist die Fähigkeit gemeint, an den allgemeinen Chancen der Gesellschaft teilnehmen zu können - nicht so sehr im Sinne einer materiellen Ausstattung etwa von sozialen Transferzahlungen derart, dass sie den Erwerb einer Theater- oder Kinokarte einschließen, sondern im Sinne der grundlegenden Lebenschancen in den Bereichen Bildung, Erwerbsarbeit und Gesundheit. Teilhabegerechtigkeit zielt auf die Stärkung von Ressourcen der selbständigen Lebensführung und damit wesentlich auf kulturelle Kompetenzen, die den Anschluss an die jeweils besten Möglichkeiten einer Gesellschaft sichern soll. Mit dieser Akzentverschiebung ist vor allem die Bildung in denMittelpunkt der Gerechtigkeitspolitik gerückt. Wenn Jugendliche etwa aus Migrantenfamilien ohne Schulabschluss bleiben und so auf Jahrzehnte Lebenschancen einbüßen, ist mit einer Politik der Umverteilung wenig geholfen; sie lindert höchstens noch die Symptome, ohne die Ursachen bekämpfen und den Kern der Ungerechtigkeit treffen zu können. Ob sich dieses Verständnis von Gerechtigkeit auch gesellschaftlich durchsetzt und politisch folgenreich wird, ist allerdings noch eine offene Frage. Sie wird nicht zuletzt an jenenneuen sozialen Spannungslinien zu entscheiden sein, die den klassischen Arm-Reich-Konflikt der industriellen Gesellschaft sprengen.

Neue Spannungslinien, neue Gerechtigkeit?

 

Mit der skizzierten Renaissance der Klassengesellschaft ist die Problemdiagnose unvollständig. Wohl hat sich die öffentliche Wahrnehmung und zumal die Moralisierung sozialer Spannungslinien seit 2003/04 in erheblichem Maße auf die traditionellen Verteilungsfragen, auf das "Arm-Reich-Problem" konzentriert. Doch die Geschichte entwickelt sich nicht rückwärts, und die Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts ist keine der Wiederauferstehung der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vielmehr sind neue Spannungslinien entstanden, die sich mit den alten, aber auch gegenseitig auf komplizierte Weise überkreuzen. Insofern führt die Konzentration auf die Klassenfrage in die Irre, zumal wenn an dieser Stelle der einzige oder auch nur vorrangige Hebel der Gerechtigkeitspolitik angesetzt werden soll. Man könnte bei diesen neuen Spannungslinien zuerst an die Ungleichheit der Geschlechter denken - natürlich ein uraltes Problem, das gleichwohl immer noch offener ist, als man es vor wenigen Jahrzehnten erwarten konnte. Es ist "neu" und aktuell insofern, als Deutschland mittlerweile in vieler Hinsicht einen Rückstand gegenüber anderen westlichen Nationen aufweist: bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder bei der Präsenz von Frauen in Führungspositionen. Diese Ungleichheit wird jedoch inzwischen weniger scharf (und: weniger als "ungerecht") empfunden als zu den Hochzeiten der Frauenbewegung in den siebziger oder achtziger Jahren.

 

Bei den neuen Ungleichheiten, die zugleich als ungerecht thematisiert werden, steht der Konflikt der Generationen wohl an erster Stelle. Jede Gesellschaft beruht auf einem impliziten Generationenvertrag: Man sorgt für die Kinder, weil diese als Erwachsene für ihre eigenen Eltern, die dann Alten, sorgen, aber auch deshalb, weil die Kinder wiederum für ihre Kinder sorgen werden. Die mittleren Generationen (zugleich in der Regel der erwerbstätige Bevölkerungsteil) tragen oft eine doppelte Verantwortung gegenüber Kindern und Eltern, doch tun sie das vor dem Hintergrund, selbst versorgt worden zu sein (als Kinder), und in der Erwartung, später - im Alter, im Ruhestand, bei Krankheit - versorgt zu werden. Der deutsche Wohlfahrtsstaat hat bekanntlich, vor allem in den Sozialversicherungen mit ihrem Umlageverfahren, in erster Linie auf dieses Generationenprinzip gesetzt. Doch funktioniert es nur, und ist nur gerecht, unter mindestens konstanten Bedingungen, besser noch (und das war lange Zeit der Normalfall) unter Bedingungen der Expansion: der demografischen wie der ökonomischen.

 

Diese Situation existiert nicht mehr, und damit entstehen neue Disparitäten und Verteilungskonflikte. Die mittlere Generation kann selbst nicht mehr mit jenem Niveau der Absicherung rechnen, das sie gegenwärtig ihren Eltern finanziert. Aber auch die Bildungs- und Aufstiegschancen haben sich verändert, häufig verringert - quer durch die sozialen Schichten und Klassen: Der Sohn des lebenslang quasi unkündbar beschäftigten Facharbeiters kann nicht mehr mit einer ähnlich sicheren, und gut dotierten, Position rechnen, die Tochter des Studiendirektors oder Richters hat erhebliche Schwierigkeiten, eine vergleichbare Stellung im höheren Staatsdienst zu finden. Ungleiche Generationenchancen sind kein neues Phänomen. Doch bestand die Ungleichheit in den letzten hundert oder sogar zweihundert Jahren vor allem darin, dass es den Nachgeborenen besser ging als ihren Eltern, und an diese Erfahrung hatten wir uns gewöhnt. Von den Expansions- und Wohlstandsjahrzehnten der Bundesrepublik hat insbesondere eine Generation profitiert - die der um 1940 Geborenen -, die man als die "goldenen Kohorten" der Nachkriegszeit bezeichnen könnte. Ihr Leben war von stetigem Aufstieg und Wohlstandszuwachs gekennzeichnet, sie haben vom historisch größten Umfang der sozialen Sicherungssysteme und anderer öffentlicher Infrastruktur profitiert.

 

Aber diese Konstellation hat noch nicht zu einem offenen Generationenkampf geführt und wird es wohl auch nicht. Denn nur ein kleiner Teil dieses Konfliktpotenzials wird politisch bearbeitet - etwa durch die Rentenversicherung -, der größere Teil verbleibt im privaten Raum. Die Lösung besteht dann darin, dass die Eltern ihre längst erwachsenen Kinder materiell unterstützen (wie das inzwischen häufig der Fall ist), statt umgekehrt in der Altersknappheit von den Kindern unterstützt zu werden. Als "ungerecht" wird diese ungleiche generationelle Lagerung übrigens auch deshalb nicht empfunden, weil sie nicht so leicht kausal zurechenbar ist - anders gesagt: weil sich ein Schuldiger, dem die moralische Last der Ungerechtigkeitsfeststellung aufgebürdet würde, nur schwer finden lässt. Bei den Klassenunterschieden, also der klassischen Verteilungsungleichheit, ist diese Zurechnung leichter und seit langem etabliert: Sie geschieht auf "die Reichen" selbst, auf den Kapitalismus sowie auf den Staat, der vermeintlich unfähig ist, den Kapitalismus sozial zu bändigen. Damit aus Ungleichheit ein Gerechtigkeitsproblem wird, bedarf es also zum einen dieser moralisch aufgeladenen Kausalzurechnung, zum anderen der Definition eines Problems als öffentlich und gesellschaftlich statt bloß privat.

 

Auf ganz ähnliche Problemlagen stößt man bei einer weiteren "neuen Ungleichheit", die sich in den letzten Jahren vehement in den Vordergrund öffentlicher Debatten geschoben hat - und aus guten Gründen in Deutschland mehr als anderswo: nämlich bei der Differenz zwischen Eltern bzw. Familien und (dauerhaft) Kinderlosen. Hier steht ein gesellschaftlicher Strukturwandel von historischer Dimension am Anfang. Die Normalität der Familienbiografie löste sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts rapide auf; es wurde möglich, legitim und weit verbreitet, ein Leben (bewusst) ohne Kinder zu führen. Natürlich hat es biologisch oder kulturell-religiös bedingte Kinderlosigkeit immer schon gegeben, doch spielte sie erstens quantitativ eine marginale Rolle, und zweitens führte sie typischerweise auch in soziokulturelle Marginalität bzw. war deren Ausdruck: Man war zu arm, um zu heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen; man fand keinen Partner und stand damit außerhalb des familienzentrierten bürgerlichen Mainstreams. Die neue Kinderlosigkeit dagegen etablierte sich selbstbewusst - mitunter sogar ausdrücklich als Entscheidung für eine "Befreiung" der eigenen Lebensführung - in der Mitte der Gesellschaft.

 

Damit war zunächst nur eine Differenz gegeben, die erst mit einer gewissen Verzögerung auch als Ungleichheit thematisiert wurde. Obwohl der staatliche "Familienlastenausgleich", vor allem durch das Steuersystem und durch direkte Transferleistungen wie das Kindergeld, seit den achtziger Jahren sogar ausgebaut wurde, verfestigte sich ein Eindruck der ungleichen Lebenschancen. Eltern übernehmen die - nicht nur private, sondern auch gesellschaftliche - Verantwortung für die Erziehung der nächsten Generation und nehmen dafür zugleich Einschränkungen ihrer Lebensgestaltung in Kauf: kulturelle Einschränkungen, soweit spontane Entscheidungsfreiheiten und der Wunsch nach individueller "Selbstverwirklichung" betroffen sind, aber eben auch materielle Einschränkungen durch ein signifikant niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen, zumal in Verbindung mit dem häufig entgangenen Erwerbseinkommen von Frauen in der Familienphase (mit Rückwirkungen bis in die Alterssicherung). In Deutschland als einem der Länder mit der weltweit niedrigsten Geburtenrate, und zugleich einer niedrigen Frauenerwerbsquote, ist diese Ungleichheit schärfer ausgeprägt als in den USA oder Frankreich. Zusätzlich verstärkt wird sie durch eine charakteristische Überschneidung mit sozialökonomischer Ungleichheit, weil viele Gebildete und Gutverdiendende, besonders Akademiker, viel eher auf Kinder verzichten als Angehörige ärmerer, zum Teil ohnehin schon transferbedürftiger Bevölkerungsschichten.

 

Ob in einem zweiten Schritt aus der (objektiven) Ungleichheit auch eine (intersubjektive, gesellschaftlich festgestellte) Ungerechtigkeit wird, ist gegenwärtig eine offene Frage. Die Transformation der beschriebenen Situation in eine Ungerechtigkeit setzt voraus, dass sie als ein politisches Problem, als ein Problem des Gemeinwesens (und nicht nur von privaten Individuen) empfunden wird und dass Strategien zu ihrem Abbau, also zu einer Politik für mehr Gerechtigkeit, mindestens diskutiert werden. Eine Zeitlang sah es so aus, als geschähe dies tatsächlich, doch der Politisierung des (vermeintlich?) Privaten scheinen enge Grenzen gezogen zu sein. Die Veränderung des kulturellen Klimas zugunsten von Familien ist jedenfalls politisch, und bisher auch demographisch, folgenlos geblieben. Und wie bei den meisten der "neuen" Ungleichheiten erweist sich auch hier: Die verschiedenen Interessen sind kaum organisierbar, obwohl durchaus handfeste materielle Interessen und Verteilungsfragen auf dem Spiel stehen. Ein Klassenkampf zwischen Eltern und Kinderlosen findet allenfalls gelegentlich in den Feuilletons statt. In der Steuerreformdiskussion zum Beispiel haben sich Vorschläge wie das Familiensplitting oder eine stärkere Spreizung der Steuerklassen nie wirklich durchgesetzt. Im Bundestagswahlkampf des Sommers 2005 spielten Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen eine erhebliche Rolle, doch die familien-, generations- und geschlechterpolitischen Aspekte traten fast vollkommen in den Hintergrund.

 

Die Liste der neuen Spannungslinien ließe sich fortsetzen und in ähnlicher Weise weiter erörtern. Einen prominenten Platz nimmt dabei die Unterscheidung von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung ein. Auch hier hat sich, ähnlich wie im Falle der Generationen und der Familien, ein Blickwechsel vollzogen, der soziale und kulturelle Differenz zugleich als Ungerechtigkeit erfahrbar macht. In einer ersten Stufe waren Migranten "Gastarbeiter". Sie hatten als solche entweder ohnehin keinen Anspruch auf die Gerechtigkeitskriterien der Mainstream-Gesellschaft, oder ihr Status war als bloß transitorisch gedacht: Mit der vollständigen Integration in der viel zitierten "dritten Generation" entfiele dann auch die Ungerechtigkeit begründende Differenz als solche. In einer zweiten Stufe - das alles natürlich holzschnittartig vereinfacht - wurde die Differenz nicht nur anerkannt, sondern unter dem Stichwort der "multikulturellen Gesellschaft" als gerecht und fortbestehenswürdig legitimiert, weil die Identität und Integrität von Lebensweisen nicht in Frage gestellt werden dürfe. Erst in einem dritten Schritt, der in der deutschen Debatte erst vor ganz wenigen Jahren vollzogen worden ist, wurde die Lebenssituation von Migranten primär als eine der Benachteiligung und des Ausschlusses begriffen, und damit als eine Situation der Ungerechtigkeit, der durch politische Intervention abgeholfen werden müsse. Dabei steht jedoch nicht die materielle Umverteilung im Vordergrund, sondern Sprach- und Bildungsförderung und andere Instrumente der Unterstützung soziokultureller Teilhabe.

 

Hier erweist sich erneut, was wir schon festgestellt haben: Erstens sind die entlang der neuen Spannungslinien verlaufenden Interessen nur äußerst schwer organisierbar - eine schlagkräftige Stimme türkischer oder russischer Einwanderer in Deutschland gibt es trotz der jahrelangen intensiven Diskussion über Bildungsrückstände, Sprachprobleme, Ghettobildung oder auch über den Stellenwert der islamischen Kultur im Alltag immer noch nicht. Zweitens fällt eine Gerechtigkeitspolitik, die auf andere Instrumente als das der materiellen Umverteilung setzt und wegen der spezifischen Ursachen von Benachteiligung, die sich mit Geld nicht kompensieren lassen, auch setzen muss, immer noch sehr schwer - erneut muss man sagen: trotz der jahrelangen Debatten über neue Ungleichheit und neue Gerechtigkeitspolitik.

 

So ist die Situation der Gerechtigkeit wahrhaftig paradox. Auf der einen Seite ist die Erkenntnis allgemein, dass die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts durch eine komplizierte Überlagerung von Spannungslinien und Ungleichheiten gekennzeichnet sind. Ungleichheit entsteht häufiger und krasser außerhalb der sozialökonomischen Leitdifferenz der klassischen industriellen Gesellschaft: jenseits von Reich und Arm, von Bürgertum und Proletariat, von Kapital und Arbeit. Und sie ist in diesen neuen Zonen nur teilweise, wenn überhaupt, mit den Mitteln der materiellen Umverteilung auszugleichen. Gerechtigkeitspolitik braucht deshalb andere, mindestens zusätzliche Instrumente wie das der Förderung von Bildung, von sprachlicher und kultureller Teilhabe, auch: von Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit als Schlüssel der sozialen Integration. Auf der anderen Seite verengt sich die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit in Krisensituationen immer wieder auf die Differenz von Arm und Reich, und Gerechtigkeitspolitik nimmt allzu rasch - angesichts immer neuer Ansprüche auf Kompensation - Zuflucht bei neuen Angeboten der Umverteilung, weil damit eine rasche, sofort wirksame Befriedigung von Interessen möglich scheint. Wer will schon Jahre, möglicherweise Jahrzehnte - bis in die Lebensgestaltung der nächsten Generation hinein - warten, bis sich die Resultate nachhaltiger Gerechtigkeitspolitik zum Beispiel in der Bildungsförderung erweisen können? Erst wenn es wenigstens in Ansätzen gelingt, diese Paradoxie aufzulösen, werden Fortschritte der Gerechtigkeit wieder möglich sein.    05.09.2005

 

Fußnoten

 

1. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt 1992; Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1993; sowie, auch zum Folgenden: Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt/M. 2003.

2. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994(8).

3. Vgl. Wolfgang Kersting, Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist 2002.

 

Zur Person

 

Dr. phil. Paul Nolte, geb. 1963; Professor an der Freien Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, 14195 Berlin. E-Mail: pnolte@zedat.fu-berlin.de

 

http://www.bpb.de/apuz/28840/soziale-gerechtigkeit-in-neuen-spannungslinien?p=all