Migration nach Europa

 

 

Asyl: Australien als Vorbild für Europa

 

SANDRA KOSTNER im PRAGMATICUS am 10.02.2024

 

Wer es schafft, Europa zu betreten, darf meist bleiben – unser individuelles Asylrecht wird der globalisierten

Welt nicht gerecht. Die EU sollte sich an Australien und Kanada ein Beispiel nehmen und Kontingente für ein Resettlement von Flüchtlingen einführen.

 

Was zeichnet erfolgreiche Einwanderungsländer aus? Allen voran das Vertrauen der Bevölkerung darauf, dass die Regierung Migration zum Nutzen des Landes steuert und gestaltet. Zwei gute Beispiele dafür sind Australien und Kanada. Beide Länder unterziehen Migrationswillige einem Auswahlverfahren, das dazu dient, das Integrations-potenzial und damit auch den gesellschaftlichen Mehrwert der Bewerber zu bewerten. Wem schlechte Arbeits-marktchancen attestiert werden, wer aufgrund von Vorerkrankungen als Belastung für das Gesundheitssystem betrachtet oder wer als potenzielles Sicherheitsrisiko eingestuft wird, dem bleibt die Einwanderung verwehrt.

 

In abgeschwächter Form wird das Integrationspotenzial auch bei der Auswahl von Flüchtlingen berücksichtigt. Möglich ist das, weil beide Länder großen Wert darauf legen, Flüchtlinge über Resettlement-Programme aufzunehmen. Beide haben in den letzten Jahrzehnten in beträchtlichem Umfang Flüchtlinge aus Krisenregionen angesiedelt. Dabei haben sie jedoch nie aus dem Blick verloren, dass zwei Punkte zentral dafür sind, ob Migration in Integration mündet und die Bevölkerung die Aufnahmepolitik mitträgt: Erstens, wie viele Menschen kommen und zweitens, wer kommt.

 

Bleiberecht durch Ankunft

 

Zwar erleichtert diesen Ländern – im Vergleich zu Europa – ihre geographische Lage die Umsetzung einer kontrollierten Flüchtlingspolitik, aber Geographie allein reicht zur Durchsetzung dieses Kontrollanspruchs nicht aus. Grundlegend ist die Überzeugung und ihre Überführung in konkrete Politik, dass es das Vorrecht des Aufnahmelandes ist zu bestimmen, wer Aufnahme findet.

 

In der Praxis ist die Voraussetzung für ein Bleiberecht das Betreten europäischen Bodens.

 

Obgleich viele europäische Regierungen diese Überzeugung teilen, sieht die Realität anders aus. So hat sich in der EU eine Asylpraxis etabliert, die darauf hinausläuft, dass die Voraussetzung für ein Bleiberecht das Betreten europäischen Bodens ist. Das gilt auch für abgelehnte Asylbewerber. Da ihre Abschiebung schwierig ist, erhalten viele aus dieser Gruppe im Lauf der Zeit ebenfalls einen dauerhaften Aufenthaltstitel. De jure liegt die Entscheidung darüber, wer

kommt und bleiben kann, zwar bei den Aufnahmestaaten, de facto wird sie aber maßgeblich von denjenigen be-

stimmt, die es nach Europa geschafft haben.

 

Vertrauensverlust in der Bevölkerung

 

Solange die Zahl der Asylsuchenden überschaubar war, konnten europäische Regierungen die Schattenseiten ihres Asylrechts ignorieren. Mit dem starken Anstieg der Fluchtmigration 2015/16 traten diese offen zutage: überlastete Aufnahmesysteme, strapazierte Sozialsysteme Verschärfung des Wohnungsmangels und soziale Spannungen.

Diese Faktoren sorgen auch für wachsenden Wählerzuspruch für rechte Parteien.

 

Der Zulauf zu den Rechten ist in erster Linie die Folge eines Vertrauensverlustes der Bevölkerung in den Willen und

die Fähigkeit ihrer Regierungen, Fluchtmigration zu steuern und dabei das Wohlergehen der eigenen Gesellschaft an oberste Stelle zu setzen. Das bedeutet zuallererst, dass Migration keine Nachteile für die Bevölkerung nach sich zieht – etwa durch eine überforderte Infrastruktur oder durch hohe Sozialausgaben.

 

Steuerung durch Kontingente

 

Um dies zu vermeiden, legen Australien und Kanada jährlich Resettlement-Kontingente für Asyl- und Fluchtmigration fest. Im Vergleich zu denjenigen, die über das punktebasierte Auswahlverfahren einwandern können, sind die Resettlement-Kontingente klein. Der Hauptgrund dafür ist, dass sich beide Länder dessen bewusst sind, dass die meisten Flüchtlinge einen längeren Integrationsweg vor sich haben als andere Einwanderer, weil sie seltener Qualifi-kationen und Kompetenzen mitbringen, die den Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprechen. Zudem haben Flüchtlinge, im Gegensatz zu Migranten, Anspruch auf Sozialleistungen.

 

Die kontingentierte Aufnahme hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem europäischen Modell: Sie wird von der Bevölkerung akzeptiert – weil sie so ausgestaltet ist, dass die Sozialsysteme nicht übermäßig belastet werden. Die Akzeptanz für Migration zu erhalten, ist Teil der politischen DNA von Staaten, deren Existenz auf Einwanderung zurückzuführen ist. Hierzu gibt es einen parteiübergreifend Konsens, bei allen Unterschieden zwischen linken,

liberalen und konservativen Parteien im Hinblick auf Detailfragen.

 

Enttäuschte Ideale

 

Von einem solchen Konsens ist man in Europa – noch immer – weit entfernt. Gerade Vertreter linker Parteien sprechen sich seit Jahrzehnten mit Nachdruck für die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen aus, während sie die Probleme, die entstehen, wenn viele Menschen zeitgleich davon Gebrauch machen, negieren.

 

Im Herbst 2015 übernahmen viele Wohlmeinende, die das Schicksal der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge bewegte, diese Haltung. Bei vielen ist mittlerweile aber Ernüchterung eingetreten, weil sie realisiert haben, dass sie Flüchtlinge gerufen haben, aber Menschen gekommen sind. Die idealisierte Vorstellung von Flüchtlingen als schon allein deshalb leicht integrierbar, weil sie sich Europa als Zufluchtsort aussuchten, ist der Erkenntnis gewichen, dass Flüchtlinge Menschen sind, die von ihrer Lebenswelt im Herkunftsland geprägt sind: sowohl was ihre Chancen auf dem Arbeits-markt betrifft als auch im Hinblick auf Wertekonflikte.

 

Viele mussten die Erfahrung machen, dass sich die Kombination

aus Sozialleistungenund recht hohen Integrationshürden negativ

auf die Arbeitsmarktbeteiligung der Fluchtmigranten auswirkte.

 

Allzu oft hat sich etwa die Hoffnung von ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern, dass „ihr“ Flüchtling sich schnell und reibungslos integriert, nicht erfüllt. Viele mussten die Erfahrung machen, dass sich die Kombination aus Sozialleistungen und recht hohen Integrationshürden negativ auf die Arbeitsmarktbeteiligung der Fluchtmigranten auswirkte.

 

Nicht wenige Fluchtmigranten merkten schnell, dass sie viel Zeit und Energie investieren müssen, um auf dem Arbeits-markt Fuß zu fassen. Zugleich stellten sie fest, dass Erwerbsarbeit in den unteren Arbeitsmarktsegmenten kaum, wenn überhaupt, mehr Geld einbringt als sie über das Transferleistungssystem erhalten. Dass dies demotivierende Folgen zeitigt, lässt sich in Deutschland am Anteil der Bürgergeldempfänger ablesen, der 2023 bei Syrern immer noch 55 Prozent betrug (zum Vergleich: 5 Prozent der Deutschen bezogen Bürgergeld). In Österreich ist die Erwerbsquote

der Syrer deutlich höher als in Deutschland.

 

Wertekonflikte im Zaum halten

 

Wenngleich es bei Flüchtlingen um Schutzgewährung und nicht um das Arbeitsmarktpotenzial geht, wird die Frage

nach der Integrierbarkeit in den Arbeitsmarkt hochrelevant, wenn sehr viele Menschen über den Asyl- und Fluchtweg einwandern. Das gilt auch für die Frage der Wertekompatibilität: Kommen viele Menschen aus Staaten, in denen von

der Aufnahmegesellschaft abweichende Werte dominieren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es zu wertebasierten Konflikten kommt.

 

Diese führen vor allem dann zu einer abnehmenden Akzeptanz von Asyl- und Fluchtmigration in der Bevölkerung,

wenn in alltäglichen Begegnungen erlebt wird, dass die kulturelle Anpassungsbereitschaft bei einem nennenswerten Teil der Flüchtlinge eher gering ausgeprägt ist. Und genau damit waren die Aufnahmegesellschaften in den letzten Jahren regelmäßig konfrontiert.

 

Australien und Kanada hegen das Potenzial für solche Wertekonflikte mithilfe der Resettlement-Kontingente und des Auswahlprozesses der für die Aufnahme infrage kommenden Personen ein. Dergestalt erhalten sie die Akzeptanz für die Flüchtlingsaufnahme in der Bevölkerung.

 

Ein zukunftsfähiges Asylrecht

 

Seit 2015/16 wird auf EU- und nationalstaatlicher Ebene versucht, die Asyl- und Fluchtmigration einzudämmen. Der begrenzte Erfolg der Reformen liegt daran, dass sie das Individualrecht auf Asyl unangetastet lassen. Auf dem Papier ist dieses in der Tat eine humanitäre Errungenschaft, weshalb nachvollziehbar ist, dass man daran festhalten möchte. Die Realität sieht aber so aus, dass bei weitem nicht nur Menschen Asyl beantragen, die auf Schutz in Europa angewiesen sind, sondern auch Menschen, die bessere Lebensbedingungen suchen. Dieser Wunsch ist absolut verständlich, nur: Das Asylrecht ist dafür nicht gemacht.

 

In der globalisierten Welt wird das Festhalten am individuellen Recht auf Asyl

absehbar zu einer Belastung.

 

In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts wird das Festhalten am individuellen Recht auf Asyl absehbar zu einer dauerhaften Belastung der europäischen Aufnahmegesellschaften führen. Wenn Menschen in weit entfernten Ländern wissen, dass es über das Asylrecht eine Möglichkeit für sie gibt nach Europa zu kommen, werden sie diesen Weg beschreiten. Auch dann, wenn dieser Weg gefährlich ist, wie die vielen Toten im Mittelmeer bezeugen.

 

Die Abschaffung des Individualrechts auf Asyl erlaubte es den Mitgliedsstaaten der EU, Recht, Worte und Taten in Einklang zu bringen. Gegenwärtig wird das individuelle Asylrecht hochgehalten, während man immer mehr zu Abschreckungsmaßnahmen greift, um es nicht umsetzen zu müssen: durch die Verlagerung des Grenzschutzes auf Transitstaaten und durch Pläne, Asylverfahren in „sichere“ Drittstaaten zu verlagern. Ruanda hat sich als das bevor-

zugte Land herauskristallisiert, wobei manche nur die Asylverfahren dorthin verlagern, andere wollen gar, dass

Ruanda diejenigen ansiedelt, die einen Schutzstatus bekommen.

 

Abhängigkeit vermeiden

 

Mit der Umsetzung dieser Pläne würde sich Europa jedoch in die Abhängigkeit von Drittstaaten begeben. Fraglich ist zudem, ob das „Ruanda-Modell“ überhaupt die erhoffte Reduktion der Antragsteller bewirken kann. Inwieweit es rechtssicher ausgestaltet werden kann, ist ebenfalls mehr als fragwürdig, wie Gerichtsurteile zum britischen „Ruanda-Modell“ zeigen. Insofern sind „Freikaufpläne“ aus dem selbst geschaffenen rechtlichen Korsett wenig zukunftsträchtig. Es ist sinnvoller, dass sich die europäischen Staaten aus diesem Korsett lösen, um sich den Handlungsspielraum zu verschaffen, den sie zur Implementierung einer langfristig von den Bevölkerungen akzeptierten Asyl- und Fluchtpolitik brauchen.

 

Die Abschaffung des Individualrechts auf Asyl wäre dazu der wichtigste Schritt. Es sollte durch ein System der Schutz-gewährung ersetzt werden, das sicherstellt, dass Menschen, die aus Nachbarstaaten fliehen und diejenigen, die in keinem Transitland vor Verfolgung sicher wären, in Europa Schutz bekommen. Für alle anderen sollte eine Kontingent-lösung nach australischem und kanadischem Vorbild geschaffen werden. Die Aufnahme-Kontingente sollten sich demnach an der Aufnahme- und Integrationskapazität orientieren und die dafür infrage kommenden Personen sollten in Zusammenarbeit mit dem UNHCR ausgewählt werden.

 

Auf diese Weise könnte Europa vor allem Anrainerstaaten von Krisenregionen entlasten, die selbst instabil sind oder über längere Zeit von großen Fluchtbewegungen betroffen sind. Und es könnte gezielt Menschen aufnehmen, die aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, weil sie dort nicht vor Verfolgung sicher sind. Das wäre kein perfektes System, aber eines, das zielgerichteter den Menschen Schutz gewährt, die diesen von Europa wirklich brauchen.

 

Conclusio

 

Seit 2015 haben Flüchtlingsströme Europas Sozialsysteme belastet. Schwierigkeiten bei der Arbeitsmarktintegration und unterschiedliche Wertevorstellungen mindern die Akzeptanz der Asylpolitik. Die Lage verschärft sich durch Migranten ohne Asylanspruch, die trotzdem bleiben, wegen komplizierter Rückführungsregeln. Das aktuelle System ist unfair, weil es oft die schützt, die es nach Europa schaffen, und nicht die am meisten Bedürftigen. Statt fortwährend über Abschreckung wie die Auslagerung des Asylsystems zu debattieren, könnte ein klarer Ansatz nach dem Vorbild Australiens und Kanadas sinnvoller sein. Hierbei werden individuelle Asylansprüche durch Aufnahmekontingente ersetzt, was sicherstellt, dass wirklich Schutz-bedürftige aufgenommen werden.

 

Auf den Punkt gebracht

 

Akzeptanz. Erfolgreiche Einwanderungsländer gewinnen das Vertrauen ihrer Bevölkerung

durch ein selektives Migrationsmanagement.

 

Kontrollverlust. Europas Asylpraxis, die hauptsächlich auf dem Betreten europäischen Bodens basiert,

führt zu Spannungen in der Gesellschaft.

 

Auswahl. Australien und Kanada setzen auf Resettlement-Kontingente, die die Aufnahme von Flüchtlingen

auf eine Weise regeln, die Integration erleichtert.

 

Umdenken. Eine Reform des europäischen Asylrechts könnte Schutzbedürftigkeit

gerechter adressieren und die Akzeptanz für Flüchtlingsaufnahme erhöhen.

 

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