Politische Aufklärung

 

 

 

 

Deutsche Vereinigung vor dem Reichstag in Berlin 1990
Deutsche Vereinigung vor dem Reichstag in Berlin 1990

 

 

 

 

 

 

 

Corruptissima re publica plurimae leges. Ein Übermass an Gesetzen führt zur Schwäche des Rechts.

 

 

 

Tacitus

 

Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte.

Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich ratlos im Kreise drehen,

um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen die ihr Gemüt ausfüllt, jeder steht in seiner

Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber; seine Kinder und seine persönlichen Freunde

verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht, was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen,

aber er sieht sie nicht, er berührt sie und er fühlt sie nicht, er ist nur in sich und für sich allein vorhanden und,

bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat.

 

Alexis de Tocqueville

 

Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.

Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.

 

Ferdinand Lassalle

 

You can fool some of the people all of the time, and all of the people some of the time,
but you can not fool all of the people all of the time.
Abraham Lincoln (zugeschrieben)

 

Konservatives Bewahren und Erhalten ist eine unerläßliche Bedingung gesunder Gesellschaft, aber wer sich allein

an Tradition, Geschichte und Gewohnheit klammert, macht sich eines Übermaßes schuldig, das zur unterträglichen Erstarrung führt. Liberale Vorliebe für Bewegung und Fortschreiten ist ein ebenso unentbehrliches Gegengewicht,

aber wenn sie sich selber keine Grenzen vor der Achtung vor dem Dauernden und zu Bewahrenden setzt, ist ihr Ende Auflösung und Zerstörung.

 

Wilhelm Röpke

 

Es gibt keine vollkommene Gesellschaft, aber es gibt Grade der Unvollkommenheit. Oft sind die Propheten der voll-kommenen Gesellschaft diejenigen, die die repressive Gesellschaft aufbauen. Um ein Ziel von absolutem Wert zu er-reichen, beanspruchen die Propheten des Absoluten eine unbegrenzte Macht. Sie verfolgen Millionen von Menschen, die schuldig daran sind, im neuen Regime nicht die Erfüllung der menschlichen Berufung zu sehen. Derjenige, der keine andere Absicht hat, als so weit wie möglich die Übel zu mildern, die untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden sind, und der dabei nicht den Anteil der Boshaftigkeit vergisst, wird mehr für das Glück seiner Nächsten tun.

 

Raymond Aron. Im Kampf gegen die modernen Tyranneien

 

Der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht verfügen können soll.

 

Carlo Schmid

 

Die äußere Freiheit der Vielen beruht auf der inneren Freiheit des Einzelnen.

 

Theodor Heuss

 

Die Zukunft war früher auch besser.

 

Karl Valentin

 


 

Nazi theory, indeed, specifically denies that such a thing as "the truth" exists. There is, for instance, no such thing as "Science". There is only "German Science", "Jewish Science", etc. The implied objective of this line of thought is a night-mare world in which the Leader, or some ruling clique, controls not only the future, but the past. If the Leader says of such and such an event, "It never happened"—well, it never happened. If he says that "two and two are five" — well,

two and two are five.

 

George Orwell

 

Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebens­führung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. … Dafür gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen … zehren wir nach wie vor von dieser Substanz.

 

Jürgen Habermas

 

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homo-genität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürger-kriegen herausgeführt hat.

 

Ernst-Wolfgang Böckenförde

 


 

 

Politisches Denken jenseits von Kapitalismus, Sozialismus und Nationalismus

 

 

Politiker haben die Welt immer nur verschieden verändert,

es kommt aber zuerst darauf an, sie zu verstehen.

 

 

Politische Ideologien sind neben den ökonomisch-politischen Entwicklungen wichtige Faktoren in der Gestaltung der politischen Zukunft einer Gesellschaft, eines Landes, einer Nation und einer Föderation. Denn alles politische Planen und Handeln hat auch intellektuelle Voraussetzungen, die das Denken und Handeln mitbestimmen. Gedankenloses und uninformiertes politisches Planen und Handeln "aus dem hohlen Bauch heraus" kann zu verheerenden Resultaten führen, denn spontane Emotionen (Affekte, Empfindungen, Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen) und Intuitionen können genauso inadäquat und irreführend sein wie subjektive Wahrnehmungen und persönliche Interpretationen von Wahrnehmungen.

 

Gerade in ökonomisch-politischen Krisenzeiten nehmen affektive Störungen, nervöse Reizbarkeit und emotionale Äußerungen zu. Das sind dann ungünstige Umstände für die Freunde der Wahrheit, der nüchternen Urteilskraft und der reflektierten Intelligenz. Nicht umsonst werden sie dann häufig von Menschen mit aggressiven Einstellungen und totalitären Ideologien angefeindet. Alle totalitären Regime haben Intellektuelle angefeindet und ausgegrenzt, unterdrückt und umgebracht.

 

In Platons Dialog Phaidon erläutert Sokrates den Zusammenhang zwischen Misologie und Misanthropie. Misologie ist ein Hass auf die Vernunft, auf das Wort, auf die gemeinsame Unterredung, auf den Austausch von Argumenten. Misanthropie ist nicht nur die offensichtliche Menschenfeindlichkeit gegenüber Anderen, sondern auch der verborgene und verzweifelte Selbsthass der Menschen, die sich primär von animalischen Beweggründen bestimmen lassen und sich danach sehnen, in das Reich der sprachlosen, stummen Tiere zurückzukehren, um auf diese regressive Art und Weise allen spezifisch menschlichen, seelisch-geistigen Aporien und Konflikten zu entkommen.

 

Ohne wissenschaftliche Aufklärung über die aktuellen Umstände, ohne fundierte Antizipation von mutmaßlichen Entwicklungen und ohne selbstkritisches Denken über politische Ziele und praktische Prinzipien, Normen und Werte bleibt politisches Planen und Handeln ein von äußeren Umständen und inneren Emotionen getriebenes Vabanquespiel. Strategischer Verstand in der Mobilisierung von neuen Wählergruppen und bloßer Pragmatismus des Machterhaltes und Machtgewinns sind nicht genug, auch wenn sie kurzfristig erfolgreich sein mögen.

 

Sie zerstören langfristig das Ansehen der Politiker und das notwendige Vertrauen in die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung sowie in die parlamentarische Demokratie. Daran ändert auch die Präsentation von sog. "alternativen Fakten" nichts, womit eigentlich nur alternative Interpretationen derselben Fakten gemeint sein können. Alternativen sind an sich noch kein Gewinn. Es kommt nämlich immer auf deren Qualität an, d.h. darauf, ob sie wirklich bessere Optionen zur sachlichen und rationalen Lösung bestehender Probleme darstellen.

 

Philosophisches Nachdenken über Menschen- und Gottesbilder, über ethische, rechtliche und politische Ideale, Prinzipien, Normen und Werte ist ein weiterer wichtiger Bestandteil politischer Aufklärung, denn wissenschaftliche Aufklärung durch empirische Hypothesen über konkrete Fakten, über die aktuellen Umstände und über mutmaßliche Entwicklungen ergeben alleine noch keine klugen Ratschläge darüber, was unter bestimmten Umständen zu tun oder zu unterlassen ist. Insbesondere bedarf es beim philosophischen Nachdenken und in der philosophischen Beratung von Wissenschaftlern, Ökonomen und Politikern eines vertieften Verständnisses der wichtigen Differenz zwischen echter Philosophie und einer seichten Scheinphilosophie, die bloß der intellektuellen Selbstdarstellung (von Managern), dem kommerziellen Erfolg von Autoren, der Unterhaltung eines materiell saturierten Publikums oder der politischen Manipulation der Massen dient. Diese Scheinphilosophie nennen echte Philosophen seit der Antike "Sophistik".

 

Eine solche Scheinphilosophie wird vor allem von flotten, modischen und sprachgewandten Popularphilosophen in den Feuilletons, in Bahnhofsbuchhandlungen, in zahlreichen Journalen und in den modernen Bildmedien präsentiert. Diese Sophistik mag wie schon in der Antike beim großen Publikum das lebhaftere Interesse auf sich ziehen, aber sie verfehlt es dennoch ein angemessenes Verständnis von echter Philosophie zu vermitteln. Echte Philosophie dient weder der seichten Unterhaltung noch bloß der geistigen Anregung durch sog. "Denkanstöße" oder der geistlichen Erbauung, sondern der meistens schmerzlichen Überwindung von Illusionen und Vorurteilen über existenzielle Grundfragen.

 

Zur politischen Aufklärung wie zum philosophischen Nachdenken gehört immer auch die frustrierende Entlarvung

und fundierte Destruktion von weltanschaulichen und politischen Ideologien, die das Denken vieler Zeitgenossen in Beschlag nehmen und die ihr alltägliches Denken und Handeln bestimmen. Oft ist es diesen Menschen gar nicht bewusst, dass sie aufgrund solcher Ideologien von sich selbst entfremdet werden und sich über ihr eigentliches, aufgeklärtes Eigeninteresse täuschen. Vor allem aber ist ihnen nicht bewusst, wie sehr sie von der vorherrschenden ökonomisch-politischen Ideologie ihrer Gesellschaft infiziert wurden.

 

Politische Aufklärung und philosophisches Nachdenken erfordert gegenwärtig die Erinnerung an die großen kulturellen und zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, in deren Schatten die Menschen nicht nur, aber vor allem in Deutschland immer noch leben. Diese kulturellen und zivilisatorischen Katastrophen wurden neben den ökonomischen und politischen Verhältnissen vor allem durch totalitäre ideologische Massenbewegungen bewirkt und führten dann auch durch beschleunigte wissenschaftliche und technische Fortschritte zu zwei Weltkriegen mit massiver Zerstörung von unzähligen Menschen und ihren Lebenswelten, zu geplantem Völkermord und schließlich zur ungeheuren und immer noch vorhandenen atomaren Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit.

 

Die politische Aufklärung und das philosophische Nachdenken nach den großen kulturellen und zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben drei politische Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts obsolet erscheinen lassen: den libertären Kapitalismus, den totalitären Sozialismus und den autoritären Nationalismus. Alle drei politische Ideologien kommen nicht nur in ihren reduktionistischen Menschenbildern und ethischen Zielen zum Ausdruck, sondern auch in bestimmten ökonomisch-politischen Lehren. Aus jüdisch-christlicher Sicht ist der libertäre Kapitalismus ein Götzendienst am altbekannten Mammon, der totalitäre Sozialismus hingegen eine prometheische Rebellion gegen das jüdisch-christliche Ethos und der autoritäre Nationalismus ein verzweifelter Rückfall in archaisches Stammesdenken.

 

Mit dem Aufkommen des globalisierten Neoliberalismus, der schon mit Reagonomics und Thatcherismus begonnen hat, hat die kapitalistische Ideologie und Praxis einen ungeheuren Aufschwung erfahren, da sie sich seit dem Scheitern des realen Sozialismus in der UdSSR kaum noch mit dem utopischen Sozialismus als rivalisierenden Gegenmodell befassen musste. Befeuert durch die anhaltenden ökonomisch-politischen Krisen des weltweiten Kapitalismus geraten nicht nur mitten in Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika ganze Länder und Regionen in so große existenzielle Nöte, dass sich deren Bevölkerung zunehmend radikalisiert. Leider werden sie dann eine leichte Beute für die populistischen Rattenfänger des anti-demokratischen und anti-rechtsstaatlichen Nationalismus.

 

Angesichts der weitgehenden Schwäche von sozialdemokratischen oder konservativen Alternativen, die die sozial Schwächeren vor der existenziellen Bedrohung durch kontinuierliche Einkommensverluste, Arbeitslosigkeit, hohen Mieten und allzu geringen Renten, und schließlich gegen Hunger, Erkrankung und Verarmung bewahren könnte, strömen viele Menschen in ihrer nur allzu verständlichen Angst und Verzweiflung zu den autoritären Nationalisten, die ihnen mehr ökonomische und soziale Sicherheit durch politische Abschottung vor Einwanderern und Flüchtlingen, vor Muslimen und islamistischen Terroristen versprechen und die ihr politisch angeschlagenes Selbstbewusstsein durch kulturelle Identität und künstlichen Nationalstolz stabilisieren. Aber ökonomisch-politisch steigern diese autoritären Nationalisten meistens auch die neoliberale Steuer- und Finanzpolitik zugunsten der global agierenden Banken, Unternehmen und Milliardären auf Kosten der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Demokratien und Rechtsstaaten, der Sozialpolitik,und des sozialen Friedens. Rechte Ideologen schüren zwar die Angst vor dem Verlust kultureller und völkischer Identität, vor dem Verlust rechtsstaatlicher Kontrolle und damit vor der Sicherheit durch law and order. Aber in Wahrheit unterwandern sie den auf Grundrechten basierenden Rechtstaat und die bürgerliche Sicherheit durch die Bewahrung einer rechtstaatlichen Ordnung, indem sie mit rechtsradikalen Kräften paktieren.

 

Ökologische Ideologen hingegen schüren die Angst vor einem ökologischen Kollaps. Vor 35 Jahren drohten sie noch mit dem Waldsterben, das erfolgreich verhindert werden konnte. Heute drohen sie mit einer anthropogenen Heißzeit, mit einem baldigen Abschmelzen der Polarkappen und mit einer bedrohlichen Erhöhung des Meeresspiegels. Auch diese Variante der populistischen Panikmache soll ihnen die verängstigten Wähler in Scharen zutreiben. Auch wenn diese ökologischen Probleme einen realen Kern haben und dringend angemessene Maßnahmen erfordern, ist ihre partei-politische Instrumentalisierung manipulativ und demagogisch. Dazu werden die weniger populären Politiker und etablierten Parteien der Mitte, die unermüdlich Realpolitik treiben und beharrlich "dicke Bretter bohren" als bloße Kompromissler verunglimpft. Dabei sind sie es, die die Komplexität der Probleme und Umstände meistens besser verstehen als die populistischen Vereinfacher mit ihren eindimensionalen Parolen. Hinzu kommen ihre hypermorali-schen Forderungen der individualistischen Identitätspolitik und einer allzu universalistisch gedachten Humanität, die kein demokratischer Rechtsstaat als lebendiges Gemeinwesen unter begrenzten raumzeitlichen Realbedingungen erfüllen kann, ohne entweder die notwendige Durchsetzung von Gesetzen und Maßnahmen zu gefährden oder aber in eine Anarchie oder in einen totalitären Egalitarismus abzudriften.

 

 

1. Kapitalisten, Sozialisten und Nationalisten

 

Libertäre Kapitalisten (im Sinne der Anhänger der libertären kapitalistischen Ideologie und nicht im marxistischen Sinne der Besitzer von Kapital oder Produktionsmitteln) glauben immer noch an den geschichtlich notwendigen Fortschritt zu einer immer größeren individuellen Freiheit der Menschen. Sie meinen fälschlich, dass dies durch eine Verwerfung aller kulturellen Bindungen, Traditionen und Institutionen erreicht werden könne. Diese Feindlichkeit gegenüber kulturellen Bindungen, Traditionen und Institutionen führt jedoch regelmäßig zu einer kontraproduktiven und geradezu totalitären Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse und Kulturbereiche (Bildungs- und Gesundheitswesen, Berufsverbände und Gewerkschaften, religiöse und weltanschauliche Institutionen, etc.). Gerade die offenen Gesellschaften der modernen, rechtsstaatlich verfassten Demokratien sind jedoch auf kulturelle Bindungen, Traditionen und Institutionen angewiesen, weil sie sonst ihren eigenen Untergang herbeiführen. Aber die Ideologen des libertären Kapitalismus verkennen dies, weil sie nun einmal nur Zahlen, Statistiken und Tabellen verstehen, aber kaum dialektisch denken können.

 

Die subjektiv empfundene Wahlfreiheit der Konsumenten zwischen angebotenen Waren oder Dienstleistungen gilt gemeinhin als das Paradigma individueller Freiheit. Die psychologische Bedingtheit des menschlichen Willens, des Verstandes und der Urteilskraft durch unterschwellige Manipulationen in den Medien wird dabei ebenso verdrängt wie die lebensgeschichtlich gewachsene Persönlichkeit (Alter, Geschlecht, Ethnie, Herkunft, Religion, Weltanschauung, etc.). Das aber führt gerade zu einer psychologischen Gleichmacherei durch marktkonforme Anpassung und Individua-lisierung. Die psychologische Abhängigkeit der realen Gegebenheit dieser subjektiv erlebten Wahlfreiheit von den jeweiligen ökonomischen und politischen Bedingungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie von den Bedingungen der Produktion und Vermarktung dieser Waren gerät dabei nur allzu leicht in Vergessenheit.

 

Die Wertschätzung der individuellen Wahlfreiheit der Konsumenten verdrängt die kreatürliche Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen, von lebensdienlichen Gemeinschaften, von florierenden Märkten und funktio-

nierenden Infrastrukturen, von stabilen Rechtsstaaten und Demokratien, von nachhaltigen natürlichen Lebens-bedingungen und von den endlichen Ressourcen auf der Erde. Dadurch vernachlässigen die egozentrischen Anhänger der libertären  kapitalistischen Ideologie die fundamentale politische Bedeutung von menschlichen Grundbedürfnissen, von sozialem Frieden und sozialer Gerechtigkeit, von menschlicher Würde und politischer Verantwortung der Regie-renden. Die Anhänger der libertären kapitalistischen Ideologie glauben fälschlich an die universale Gültigkeit ihrer ökonomischen und politischen Ideen, Prinzipien und Maximen und missachten deswegen die historische und kulturelle Bedingtheit ihrer Entstehung, Erhaltung und Verbreitung.

 

Totalitäre Sozialisten (im Unterschied zu Sozialdemokraten und demokratischen Sozialisten) hingegen glauben an einen geschichtlichen Fortschritt zu einer immer größeren Gleichheit der Menschen und missachten das Grundbedürfnis der Menschen auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde in den Grenzen der Mitmenschlichkeit und unter dem verantwortlichen Schutz eines demokratischen Rechtsstaates, der so weit es unter ökonomisch-politischen Realbedingungen möglich ist, das Leben, die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Würde der Menschen schützt. Totalitäre Sozialisten glaubten an die angebliche Wissenschaftlichkeit ihrer ökonomischen und politischen Ideen, Prinzipien, Normen und Werte und sie missachteten deswegen auch deren historische und kulturelle Bedingungen der Entstehung, Erhaltung und Verbreitung. Aufgrund ihrer szientistischen Einstellung fehlte es ihnen an der Einsicht in den ideologischen Charakters ihrer Gesinnung. Außerdem vernachlässigten sie ebenfalls den pfleglichen und nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Lebensbedingungen und endlichen Ressourcen auf der Erde.

 

Autoritäre Nationalisten (im Unterschied zu demokratischen Patrioten) schließlich glauben nicht nur an die Einzigartig-keit der jeweils eigenen Kultur und Nation, sondern an deren Vorrang von anderen Kulturen und Nationen. Es fehlt ihnen die charakterliche Fähigkeit, die eigene Kultur und Nation als eine gleichberechtigte Kultur und Nation unter anderen anzusehen. Deswegen fehlt es ihnen auch am demokratischen Bewusstsein davon, dass jedes Volk im Interesse an seinem eigenen Wohlergehen eigentlich nur ein Interesse an friedlicher Nachbarschaft, fairem Handel und kulturellen Austausch mit anderen Kulturen und Nationen haben kann, nicht aber an Kriegen der Ausbeutung und der Eroberung. Wie die totalitären Sozialisten missachten autoritären Nationalisten auch das Grundbedürfnis der meisten Menschen und Bürger auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, in Gerechtigkeit und in Würde in den Grenzen der Mitmenschlichkeit und unter dem verantwortlichen Schutz eines intakten Rechtsstaates.

 

 

2. Die Ideologie des Kapitalismus

 

Das Menschenbild des libertären Kapitalismus ist individualistisch, d.h. es geht immer von menschlichen Individuen aus, die sich im Laufe ihres Lebens selbst verwirklichen wollen und dazu permanent miteinander konkurrieren müssen. Diesem kapitalistischen Individualismus wohnt die Tendenz zur Leugnung einer gemeinsamen menschlichen Natur inne, derzufolge es gewisse transgenerative und transkulturelle leibliche, seelische und geistige Gemeinsamkeiten gibt. Menschliche Individuen werden tendenziell als isolierte cartesische Subjekte mit einer bestimmten Ich- oder Selbst-Identität gesehen und nicht als leibliche und lebendige Personen mit einem bestimmten Geschlecht und mit einer lebensgeschichtlichen Entwicklung von der Wiege bis zum Grab. Deswegen geraten sowohl die biologische Abhängig-keit und vitale Bedingtheit der menschlichen Natur aus dem Blick als auch seine lebenslange psychosoziale Abhängig-keit von Anderen in einer gemeinsamen bio-sozio-kulturellen Lebenswelt. Die Relevanz von kulturellen und ökono-mischen Prozessen in einer Gesellschaft für das Zusammenleben der Menschen wird unterschätzt. Der moderne libertäre Individualismus gilt gemeinhin als fortschrittlich, obwohl er durch die mächtige Ausbreitung und Entwicklung der individualisierenden elektronischen Medien (Personal Computer, Handys und Smartphones) systematisch zur Profitmaximierung, Datensammlung und Datenvermarktung gefördert, benutzt und ausgebeutet wird.

 

Das trügerische Ideal individueller Freiheit genießt im modernen Kapitalismus den ethischen Vorrang vor zwischen-menschlichen Bindungen wie Freundschaften, Ehen und Familien, Gemeinschaften und anderen Formen der Verge-sellschaftung. Alle Menschen haben angeblich die gleichen Chancen zur persönlichen Willensfreiheit und Handlungs-freiheit, aber diese Überzeugung kann man nur aufrecht erhalten, solange man von allen einschränkenden mensch-lichen Befindlichkeiten wie Alter und Geschlecht, Herkunft und Zugehörigkeit, Persönlichkeit und Bindungen, Behin-derungen und Krankheiten, Situationen und Umstände absieht.

 

Das ethische Ideal der libertären Kapitalisten ist daher nicht nur das ständige Offenhalten von Optionen zwecks Bewahrung individueller Freiheit der eigenen Wahlmöglichkeiten, sondern auch die ständige egoistische Steigerung von Selbstwert und Marktwert, Geld und Besitz, Waren und Gütern, Lebenschancen und Zukunftsoptionen. Das Leben findet zwar primär in der Gegenwart statt, aber die Vorsorge für die Zukunft dient zumindest der Erhaltung und möglichst auch der Steigerung der eigenen Gewinne. Da moralische und soziale Verbindlichkeiten die eigene Wahlfreiheit ein-schränken, sollten sie ihnen zufolge stets neu ausgehandelt werden wie geschäftliche Verträge.

 

Was von angeblich autonomen erwachsenen Menschen ausgehandelt werden kann, wird prinzipiell für gleichwertig gehalten, auch wenn es sich um entwürdigendes und psychisch schädliches Verhalten wie Ausbeutung oder Menschen-handel, Pornographie oder Prostitution (Armuts- und Zwangsprostitution), Sadomasochismus oder Kannibalismus handelt. Dass solche Bedürfnisse auch pathologisch sein können und aufgrund fehlender Selbsterkenntnis und Selbst-liebe mitnichten immer wirklich ihrem aufgeklärten Selbstinteresse dienen, wird dabei kaum hinreichend bedacht. Feste und potentiell lebenslange Bindungen an Freunde und Ehepartner, Familie und Beruf, Konfessionen und Religionen, Parteien und Verbände stören bei der liberalen Selbstverwirklichung der "flexiblen Menschen" (Richard Sennett).

 

Das rechtliche Grundprinzip des Kapitalismus ist das abstrakte liberale Ideal des gleichen Rechtes vermeintlich freier und erwachsener, autonomer und autarker Individuen mit einem gesunden Menschenverstand. Dabei werden jedoch alle Menschen, die noch nicht rechtsfähig sind (wie z.B. ungeborene und geborene Kinder und unreife Jugendliche) oder die nicht mehr rechtsfähig sind (wie z.B. Geisteskranke, Komapatienten oder Demente) ausgespart. Deren Grundrecht auf Leben und leibliche, seelische und geistige Unversehrtheit sowie auf Wahrung der menschlichen Würde fällt dann aber kaum noch hinreichend ins Gewicht.

 

Das politische Ziel der individuellen Leistungsgerechtigkeit der gesunden und starken "Leistungsträger" verdrängt die Ziele der allgemeinen Chancengleichheit und der allgemeinen Solidarität mit den sozial Schwächeren (Alten, Behin-derten, Kranken, Kindern, Ausländern, Fremden, Flüchtlingen, u.a.). Die Gender-Ideologie mit ihrer illusionären Vor-stellung von einer freien Wahl des eigenen Geschlechtes setzt das cartesianische Ideal einer angeblich möglichen Selbstverfügung über den eigenen Körper voraus, die jedoch zu einer leiblichen Selbstentfremdung und pathologischen Abspaltung von vitalen Instinkten und leiblichen Emotionen führen muss.

 

Das ökonomisch-politische Ideal des modernen libertären Kapitalismus (Neoliberalismus) ist die Idee des freien und möglichst ungeregelten Marktes, auf dem die Menschen als Einzelne oder in vertraglichen Zweckgemeinschaften miteinander um ihre eigenen Gewinne und Vorteile konkurrieren. Das primäre Interesse im Leben der Menschen ist

die egoistische Nutzenmaximierung aller Individuen auf den Märkten (Arbeits-, Heirats-, Wohnungsmarkt, Markt der Produktion und Konsumption von Waren, etc.).

 

Der Homo oeconomicus verfolgt und steigert ausschließlich seinen eigenen Nutzen ohne Rücksicht auf die objektiven Interessen anderer. Deswegen gibt es ihm zufolge angeblich auch keinen selbstlosen Altruismus, keine echte Nächsten-liebe (agape) im Dienste des Wohles anderer Menschen oder Tiere. Hinter jedem altruistischen Verhalten oder Handeln anderer Menschen unterstellt er stets ein verborgenes selbstsüchtiges Motiv und Heuchelei, um damit moralische Selbstkritik abzuwehren. Langfristiges Lebensziel des homo oeconomicus ist die selbstsüchtige Anhäufung von Ansehen, Reichtum, Sicherheit und Wohlergehen und nicht die auf natürlicher Selbstliebe und Selbstkenntnis beruhende Befriedigung von unverfälschten eigenen Bedürfnissen. Aufgrund seiner individualistischen Grundeinstellung fehlt es ihm meistens an der Einsicht, dass der Vorteil des Einen meistens auf dem Nachteil des Anderen basiert. Faire Win-win-Situationen sind in der realen Welt des Handels nicht die Regel, sondern die Ausnahme, die erst durch ethische Gesinnungen, moralische Regeln und rechtliche Institutionen hergestellt werden muss.

 

Das kapitalistische Vertrauen in den sog. "freien Markt" und "Freihandel" hat irrationale Züge und gleicht einer religiösen Heilslehre. Denn man glaubt wider alle Erfahrung und wider besseres Wissen, dass das Marktgeschehen alleine aufgrund natürlicher Konkurrenz und der Korrespondenz von Angebot und Nachfrage sich tendenziell zum besten Nutzen aller Marktteilnehmer auswirken wird. Das klingt so, als ob ein allmächtiger und allwissender, gerechter und barmherziger Gott "mit unsichtbarer Hand" alles lenken und leiten und utilitaristisch zum maximalen Nutzen der Gesellschaft und damit auch schon zum gemeinsamen Guten führen würde. Der freie Markt und der Freihandel sind jedoch oft nur für die Stärkeren von Vorteil und werden deswegen auch meistens nur von von ihnen propagiert. Für schwächere Marktteilnehmer bringt er jedoch meistens Nachteile mit sich, da er nach dem sozialdarwinistischen Prinzip des sog. "Rechtes" des Stärkeren, Schnelleren, Rücksichtsloseren, Gewissenloseren, etc. funktioniert.

 

In Wahrheit werden moderne Gesellschaften, in denen sich die ökonomisch-politische Ideologie des libertären Kapitalismus durchsetzt, in Profiteure und Saboteure, Gewinner und Verlierer, wenige Reiche und viele Arme gespalten. Die gemeinsamen natürlichen Ressourcen werden zum kurzfristigen Profit weniger Banken und Unternehmen aus-gebeutet und die natürlichen Lebensgrundlagen werden zerstört, weil Boden und Pflanzen, Tiere und Landschaften keine Subjekte mit einer eigenen Stimme sind, die für sich selbst sprechen und Verträge zu ihrem eigenen Nutzen aushandeln könnten. Der weltanschauliche Liberalismus ist von daher oft nur die beschönigende politische Ideologie hinter dem modernen Kapitalismus. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat der weltanschauliche Liberalis-mus mit dem politischen Erstarken des Wirtschaftsliberalismus (Neoliberalismus) bei den Profiteuren in Bildungswesen, Gesellschaft, Medien, Staat und Wirtschaft enorm an Boden gewonnen. Dazu hat seit den 90er Jahren sicher auch der welthistorische Niedergang der sozialistischen Gegenmodelle in Russland und Osteuropa beigetragen.

 

Da der libertäre Kapitalismus aufgrund seiner eigenen Steigerungsdynamik eine intrinsische Tendenz hat, ethische Einstellungen, moralische Rücksichten und rechtliche Regulierungen zu lockern oder gar aufzuheben, führt er nicht nur zu einer gesteigerten Individualisierung und Liberalisierung, sondern schafft auch ständig die Voraussetzungen für die Zunahme von sozial-darwinistischen Tendenzen zum Egoismus, zur Deregulierung, zum Konkurrenzverhalten und zur Entsolidarisierung. Dies führt jedoch dazu, dass vormals florierende Nationen, die aufgrund der Trias von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft erfolgreich darin waren, aufgrund eines hohen Maßes an allgemeinem Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und nationaler Solidarität den sozialen Frieden zu wahren, an sozialem Zusammenhalt verlieren und von da an auch ökonomisch und politisch degenerieren.

 

Auf diese Weise ergeben sich auch bei Gesellschaften gewisse Entwicklungsphasen, die an die zyklischen Jahreszeiten erinnern. Wegen des allmählichen Überganges von einer anfänglichen Frühlingszeit des schnellen Wachstums und einer vorübergehenden Sommerzeit der üppigen Blüte können sie in ihrer Herbstzeit eine reiche Ernte einfahren. Aber dann zeigen sich gewisse Tendenzen der Stagnation von wirtschaftlichem Wachstum, der Alterung der Infrastrukturen, der Müdigkeit patriotischer Gesinnungen, der mangelnden Wertschätzung der ehemals erfolgreichen Trias von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft, sodass der allgemeine Wohlstand, die soziale Gerechtigkeit und die nationale Solidarität und damit der soziale Frieden zunehmend gefährdet werden.

 

In dieser kritischen Lage beginnen sich diese ehemals florierenden Gesellschaften zunehmend von ihren liberalen Gesinnungen und konservativen Institutionen zu entfernen und versuchen den sich abzeichnenden Verfall mit dafür ungeeigneten sozialen und politischen Maßnahmen aufzuhalten. Das Selbstvertrauen in die sich selbst regulierenden Kräfte der Freiheit und der Selbstverantwortung schwinden und die sozial normierenden Kräfte der politischen Korrektheit der zwangsweisen Quoten und Sprachregelungen, der inflationären Gesetzgebungen und Verordnungen, der gut gemeinten staatlichen Umverteilung und der staatlichen Bevormundung und übergriffigen Betreuung zu Lasten von Ehen und Familien, überlieferten Religionen und gewachsenen Traditionen führen dann geradezu automatisch in den egalitären Sozialismus. Doch dieser Sozialismus führt zunehmend zum Ende der bürgerlichen Freiheiten und der selbstverantwortlichen Initiativen zur sozialen Regeneration, um die lebensgefährliche Winterzeit zu überstehen und einen neuen Frühling des gesellschaftlichen Wachstums einleiten zu können.

 

 

3. Die Ideologie des Sozialismus

 

Das Menschenbild des totalitären Sozialismus oder Kommunismus hingegen ist kollektivistisch, d.h. es geht gerade umgekehrt nicht von Individuen aus, die sich im Laufe ihres Lebens selbst verwirklichen wollen, sondern von gleich-artigen Menschen mit ähnlichen Grundbedürfnissen als Exemplaren der naturalistisch verstandenen Gattung Mensch (homo sapiens) und als soziologisch verstandenen Vertreter einer bestimmten Klasse, Schicht oder Gruppe. Diesem Kollektivismus wohnt die Tendenz zur Entmündigung der einzelnen Menschen inne und damit die Verleugnung der Tatsache, dass die Menschen trotz ihrer gemeinsamen menschlichen Natur unterschiedliche Begabungen und Talente, Bedürfnisse und Fähigkeiten, Einstellungen und Lebensziele haben.

 

Zum Kollektivismus tendieren jedoch nicht nur die Anhänger des totalitären Sozialismus, sondern auch autoritäre und sektenhafte Bewegungen in den überlieferten Religionen von Judentum, Christentum und Islam. Zum Kollektivismus neigen schließlich auch autoritäre Nationalisten und Rechtsradikale, Faschisten und Rassisten. Ein gemäßigter Patrio-tismus, eine bürgerliche Religionszugehörigkeit und eine moderate Frömmigkeit hingegen können durchaus mit einer demokratischen, rechtsstaatlichen und toleranten Grundeinstellung verbunden sein.

 

Gleichheit hat für totalitäre Sozialisten immer Vorrang vor Verschiedenheit. Was nicht gleichrangig ist, wird gleich gemacht. Einzelmotivation und persönlicher Ehrgeiz, besondere Begabung und Leistungen in Philosophie und Theologie, Wissenschaften und Künsten, Gesellschaft und Politik werden eher skeptisch betrachtet und aufgrund von Neid und Missgunst herabgesetzt oder aber vom Staat für politische Zwecke instrumentalisiert. Soziale Gerechtigkeit in Form von staatlich erzwungener Solidarität hat dann aber den Vorrang vor Leistungsgerechtigkeit. Das Ideal ist die maximale Gleichbehandlung aller einfachen Menschen durch einen maternalistischen Staat, der zwar allen Menschen gleiche Grundbedürfnisse zugesteht und möglichst für ihre umfassende Befriedigung sorgt, der aber fälschlich meint, dass das dann auch schon automatisch zum größten Wohle aller Menschen führen würde. Doch zur staatlichen Organisation einer solchen radikalen Gleichbehandlung bedarf es immer einer staatlichen Elite von Funktionären, die besondere Privilegien und Rechte genießt und paternalistisch über die sozialistische Ideologie und Politik wacht.

 

Das rechtliche Grundprinzip des totalitären Sozialismus ist nicht der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat, der mit großem Aufwand die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit verteidigt, sondern ein sozialistischer Staat, der mit allen verfügbaren Mitteln staatlicher Gewalt die politischen Ziele des Sozialismus und einer sozialistischen Einheitspartei durchsetzt und dazu auch das Wohlergehen einzelner Bürger und Dissidenten dem angeblichen Gemeinwohl opfert. Recht ist angeblich, was - ganz utilitaristisch verstanden - dem vermeintlichen Gemeinwohl dient, und wird ad hoc von ideologisch gleichgesinnten Funktionären einer Einheitspartei entschieden. Dabei kann es aufgrund der jeweiligen Machtverhältnisse leicht zu staatlichen Willkürentscheidungen kommen, die ungerecht und inhuman sind.

 

Das ökonomisch-politische Ideal ist das einer von einer sozialistischen Regierung und Partei gelenkten Planwirtschaft, die zwar möglichst allen Bürgern und Menschen gleiche Chancen auf Bildung und Arbeit zugesteht und tendenziell für die möglichst gleiche Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse sorgt, die aber bürgerliche Freiheiten sowie die unternehmerische Einzelinitiative mit Verantwortung und Risiken gering schätzt. Eine solche Planwirtschaft kann im Dienste des anvisierten Gemeinwohls die berechtigten vitalen Interessen von Einzelnen und von Familien, Gemeinden und ganzen Regionen übergehen, wenn es von der Regierung bzw. Partei beschlossen wurde, die durch ihre Funktionäre den übermächtigen sozialistischen Staat repräsentiert.

 

 

4. Die fünf ideologischen Geburtsfehler des Marxismus

 

Die fünf ideologischen Geburtsfehler des Marxismus basieren auf bestimmten philosophischen Auffassungen von Karl Marx und können nicht erst der folgenreichen Popularisierung und Radikalisierung von Engels und Lenin, Stalin und Mao Dse Dung angelastet werden:

 

1. Materialistischer und mechanistischer Determinismus: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

 

2. Naturalistisches Menschenbild: Das Bewusstsein der Menschen wird durch ihr soziales Sein in Form von Arbeit, Besitz, Geschlecht und Klassenzugehörigkeit bestimmt.

 

3. Historischer Materialismus: Es gibt eine geschichtlich notwendige ökonomisch-politische Entwicklung vom Feudalismus über die bürgerliche Revolution zum Liberalismus und vom Liberalismus über die industrielle Revolution zum Kapitalismus und vom Kapitalismus über die sozialistische Revolution zum Sozialismus und dann durch sozialistische Reformen zum Kommunismus. Dieses kulturgeschichtliche Entwicklung ist angeblich genau so „naturgesetzlich notwendig“ wie Darwins evolutionstheoretische Entwicklung der Arten.

 

4. Naturalisierung der Normativität: Recht und Moral sind nur „bürgerliche Ideologie“ und gehören nur zum ökonomisch-politischen „Überbau“ des liberalen Kapitalismus und sind deswegen zu überwinden.

 

5. Sozialisierung: Der Schlüssel zur revolutionären Überwindung des liberalen Kapitalismus auf dem Weg vom Sozialismus zum Kommunismus besteht in der - notfalls gewalttätigen - politischen Abschaffung des privaten

Eigentums an Produktionsmitteln.

 

Diese fünf ideologischen Geburtsfehler des Marxismus hatten verheerende ökonomische und politische Folgen in

Form von gewaltsamen sozialistischen Revolutionen und Massenbewegungen mit dem katastrophalen Ergebnis von millionenfachem Massenmord im Namen der angeblichen geschichtlichen Notwendigkeit des Überganges zum Sozialismus und Kommunismus.

 

 

5. Die fünf bleibenden Einsichten des Marxismus

 

Es gibt jedoch auch fünf Einsichten des Marxismus, die nach wie vor gültig sind:

 

(1.) In der freien Marktwirtschaft besteht eine Tendenz zur Monopolisierung, d.h. führende große Unternehmen tendieren aufgrund ihrer inhärenten Tendenz zum Wachstum und zur Mehrung ihrer Profite dazu, andere kleinere Unternehmen aufzukaufen, um den Markt für ihre jeweiligen Produkte zunehmend alleine beherrschen zu können. Diese Tendenz muss von staatlichen Kartellbehörden durch Gesetze reguliert und durch Eingriffe kontrolliert werden.

 

(2.) In der freien Marktwirtschaft besteht eine Tendenz zur Globalisierung, d.h. bei Sättigung des Bedarfs in ihrer angestammten Region für seine Produkte und bei Erhöhung der Material- und Lohnkosten für ihre Produktion tendieren große Unternehmen dazu, die Reichweite ihres Vertriebes und die Anzahl ihrer Niederlassungen in neuere und weitere Gebiete mit geringeren Lohnkosten auszudehmen und maximal weltweit zu operieren.

 

(3.) In libertären kapitalistischen Gesellschaften gibt es eine Tendenz zum Warenfetischismus, d.h. die Bürger und Menschen entwickeln eine überwertige Idolatrie von Waren, Produkten und Marken, indem sie ihr Selbstwertgefühl vom Kauf und Besitz einer möglichst großen Menge von ihnen abhängig machen und um dadurch ihren Sozialstatus zu steigern. Das führt jedoch zu einer psychologischen Entfremdung von ihren eigentlichen menschlichen Bedürfnissen und zu einer suchtartigen Selbstentfremdung und unmenschlichen Verdinglichung der Menschen.

 

(4.) In der freien Marktwirtschaft kommt es zu einer Steigerung der politischen Macht der ökonomischen Kräfte von Banken und Börsen, der Finanzwirtschaft und der Unternehmen auf Kosten der effektiven demokratischen Selbstbestimmung der Bürger und Menschen. Die "marktkonforme Demokratie" (Angela Merkel) und die immense  Staatsverschuldung geht langfristig auf Kosten der natürlichen Lebensbedingungen der Pflanzen, Tiere und Menschen für viele weitere Generationen.

 

(5.) Die demokratisch gewählten Repräsentanten und Regierungen der bürgerlichen Rechtsstaaten werden von den vorherrschenden Wachstums- und Profitinteressen der global agierenden Banken und Unternehmen entmachtet. Die von den ökonomischen Zwängen getriebenen Politiker wahren nur noch den schönen Schein einer echten Demokratie aufrecht und verfolgen in Verbindung mit Lobbyisten die strategischen Interessen ihrer eigenen Klientel an lukrativen parlamentarischen Diäten, politischen Karrierechancen und kurzfristigen Wahlerfolgen.

 

 

6. Die Ideologie des Nationalismus

 

Das Menschenbild des autoritären Nationalismus ist ebenso kollektivistisch wie das des Sozialismus, aber nicht aufgrund einer ideologischen Doktrin von geschichtlichen Interessenkonflikten zwischen Klassen, sondern aufgrund des illusionären Wunsches nach einer kulturellen Homogenität der Massen. Deswegen kämpfen beide gegen den individualistischen und kosmopolitischen Liberalismus, wenn auch aufgrund von verschiedenen Motiven und Gründen. Der autoritäre Nationalismus schürt Ängste vor weiterer Zuwanderung, kultureller Vermischung und Überfremdung durch Menschen anderer Ethnien und Mentalitäten, Kulturen und Religionen. Das geht gewöhnlich über faktische Integrationsprobleme, reale Unsicherheitsfaktoren und sozialwissenschaftliche Kriminalitätsstatistiken hinaus.

 

Reale Konflikte und soziale Probleme der Migration und Integration darf man nicht aufgrund von naivem Wunsch-denken oder aus ideologischen Gründen eines ideologischen Multikulturalismus verdrängen, sondern man muss sich ihnen stellen und an politischen Lösungen arbeiten. Faktisch haben alle Nationen und sogar alle Einwanderungsländer (wie USA, Kanada und Australien) eine geschichtlich gewachsene politische Leitkultur, was man nicht zuletzt an ihren offiziellen Amts- und Landessprachen, an ihren Rechtskulturen und rechtsstaatlichen Institutionen, an ihren Kalendern und Feiertagen sowie an ihren philosophischen und religiösen Traditionen erkennen kann. Das gilt auch und gerade für moderne Rechtsstaaten, die in einer solchen Leitkultur geschaffen wurden und von ihr getragen werden.

 

Die ideologische Fiktion einer angeblich kulturell homogen Nation ignoriert die bisherigen geschichtlichen Einflüsse auf die eigene Kultur von Einwanderern und Minderheiten sowie die bereits vorhandene kulturelle Vielfalt auf Kosten von ethnischen, kulturellen, religiösen und sexuellen Minderheiten. Andere Quellen persönlicher und gemeinsamer Identität durch Alter, Arbeit, Beruf, Geschlecht, Glaube, Heimat, Hobby, Mode, Sport oder Vereinszugehörigkeit, etc. werden marginalisiert oder ausgeblendet. Nationalistischen Gruppierungen und Parteien fehlt es oft auch an starken religiösen Bindungen, die zumindest im Falle von Judentum, Christentum und Islam transnationale Identitäten und Zugehörig-keiten schaffen können und dadurch auch anti-rassistisch und anti-nationalistisch wirken können.

 

Das Rechtsverständnis des autoritären Nationalismus basiert auf geschichtlich gewachsenen, kulturellen und parochialen Rechtstraditionen anstelle von stoisch-christlichem Naturrecht, aufgeklärtem Vernunftrecht oder allgemeinen Menschenrechten. Autoritarismus, Dezisionismus und Kulturrelativismus ersetzen aber auch einen liberalen Rechtspositivismus. Konstruiert werden mit emotionalem Pathos aufgeladene kulturelle Wesenheiten, wie z.B. "die deutsche Seele" oder "das deutsche Wesen", die weit über die nüchterne Feststellung kultureller Eigenarten der deutschen Kultur, Geschichte und Mentalität hinausgehen. Eine nationalistische Ideologie wird jedoch auch noch nicht alleine dadurch besser, dass man das bisweilen ungeliebte Deutsche durch das beliebtere Europäische ersetzt. Ein jeder Rechtsstaat – national oder föderal - basiert nämlich auf bestimmten rationalen und universalen Prinzipien der Recht-lichkeit oder er wird degenerieren.

 

Das ökonomisch-politische Ideal des autoritären Nationalismus ist der "geschlossene Handelsstaat" (Fichte), d.h. das Ideal einer möglichst autarken, autonomen und starken Nation, die sich durch ein strenges Grenzregime von fremden Einflüssen abschottet, die Asyl und Einwanderung stärker kontrolliert oder unterbindet, die sich von internationalen Verträgen, Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten befreit, und dazu Einfuhrzölle erhebt, um die eigene Wirtschaft zu schützen. Der Nationalismus unterwandert zwecks Realisierung seines politischen Ideals von Homogenität und Machtfülle die moderne Gewaltenteilung von Legislative, Judikative und Exekutive, die Trennung von säkularem Staat und dominanter Religion und die Unterscheidung von Regierung und Volk, von Rechtsstaat und Militär. Er verabscheut den Multilateralismus und internationale Föderationen und Organisationen.

 

 

7. Die Gefahr eines neuen Nationalismus in Europa

 

Die Gefahr eines neuen autoritären Nationalismus in Europa ist keine bloß von diffuser Angst erzeugte Einbildung. Das zeigen das britische Votum für den Brexit nach einer manipulativen Lügenkampagne der nationalistischen UKIP-Partei, die Rückkehr zu einer anti-kemalistischen Diktatur in der Türkei unter Präsident Erdogan, der anti-liberale Autoritaris-mus unter Viktor Orban in Ungarn, der Kampf der PIS-Partei gegen die pluralistische Demokratie und den Rechtsstaat

in Polen, das Erstarken von autoritären und nationalistischen Parteien in Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich,

in einigen osteuropäischen Ländern sowie in Belgien, in den Niederlanden und Skandinavien. Hinzu kommt, dass die oligarchische und korrupte Regierung Russlands unter Wladimir Putin mit seiner exzessiven Propagandamaschine diese autoritären und nationalistischen Tendenzen unterstützt, um den Zerfall eines demokratischen Europas voranzutreiben und dass der exzentrische und narzisstische Präsident der USA Donald Trump mit seinem autoritären und nationalis-tischen Regierungskurs dasselbe tut, um das in der EU vereinigte Europa zu schwächen.

 

Keine der oben genannten politischen Ideologien ist in der Lage, der realen Gefahr eines wieder aufkommenden auto-ritären Nationalismus in Europa vom weltanschaulichen und ethisch-politischen Denken her Paroli zu bieten. Der libertäre und individualistische Kapitalismus ist dafür in Fragen von Recht und Moral, Ökonomie und Politik zu subjek-tivistisch und zu relativistisch. Außerdem führt der libertäre Kapitalismus, wie uns die Geschichte lehrt, allzu leicht zu einem autoritären Nationalismus, wenn die existenziellen Notlagen in der Gesellschaft zunehmen. Der totalitäre und kollektivistische Sozialismus ist ebenfalls mit dem autoritären Nationalismus vereinbar, wie das geschichtliche Beispiel des deutschen Nationalsozialismus gezeigt hat. Ähnliches gilt für den italienischen und den spanischen Faschismus. Welches politische Denken kann dann aber überhaupt noch das politische Handeln anleiten, um der Entstehung eines neuen autoritären Nationalismus in Europa entgegenzuwirken?

 

"Freiheit ohne Gleichheit ist ein Dschungel. Gleichheit ohne Freiheit ist ein Gefängnis."

 

Von einem amerikanischen Anarchisten stammt das Diktum: "Freiheit ohne Gleichheit ist ein Dschungel. Gleichheit ohne Freiheit ist ein Gefängnis." Dieses Diktum kann sich aber nur auf die paritätischen Beziehungen zwischen Erwachsenen auf derselben Ebene beziehen, wie zwischen Freunden und Eheleuten, Partnern und Kollegen, etc. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Ärzten und Patienten, Richtern und Angeklagten, Polizisten und normalen Bürgern, etc. sind von Hause aus nicht paritätisch. Es handelt sich normalerweise um Beziehungen zwischen Stärkeren und abhängigen Schwächeren, die eines besonderen rechtlichen und sozialen Schutzes bedürfen.

 

Man muss kein Anarchist sein, um zu verstehen, dass es sich bei diesem Diktum um eine klare Absage sowohl an den Liberalismus und an den Sozialismus handelt. Man muss auch kein Anarchist sein, um zu verstehen, dass eine lebens-dienliche und menschenfreundliche, sowohl gerechte als auch dem Gemeinwohl verpflichtete politische Ordnung der freiheitlich-demokratischen Rechtsstaatlichkeit immer schon eine ökonomisch-politische Ordnung jenseits von bloß marktwirtschaftlichem Liberalismus und von planwirtschaftlichem Sozialismus voraussetzt. Eine solche politische Ordnung garantiert nicht nur eine formal gleiche Freiheit vor dem geltenden Gesetz des Rechtsstaates, sondern strebt auch nach der größtmöglichen Realisierung einer lebensdienlichen und freiheitsbewahrenden Chancengleichheit in Bezug auf Ehe und Familie, Bildung und Erziehung, Arbeit und Einkommen, aktive und passive Teilhabe an Prozessen der politischen Willensbildung.

 

 

8. Die Philosophie der Personaltät ist der menschlichen Natur und dem menschlichen Maß angemessener

 

Die Philosophie der Personaltät verbindet anders als der kollektivistische Sozialismus die freiheitsbewahrenden Ideen des rechts-staatlichen Liberalismus mit den gleichheitsbewahrenden Ideen einer sozialstaatlichen Demokratie und knüpft dazu an die politischen Ideale der französischen Revolution an, also an den Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die sozial- und christdemokratische Tradition intendierte ursprünglich einmal eine Synthese aus einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung mit einer modernen Demokratie der größtmöglichen Realisierung der Chancengleichheit in Bezug auf die vitalen Lebenschancen und die selbst gewählten Lebensziele. Es geht um ange-messene Proportionen in einer Welt, die durch den globalisierten ökonomisch-politischen Kapitalismus und durch den schrankenlosen ideologischen Liberalismus aus den Fugen geraten ist, da beide die zukünftigen Lebensgrundlagen der Menschheit aufs Spiel setzen. Umfassende politische Gerechtigkeit besteht nicht nur aus ökonomischer Leistungs- und staatlicher Strafgerechtigkeit, sondern auch aus der Fairness der Chancengleichheit und aus steuerlicher Verteilungs-gerechtigkeit sowie aus sozialer Gerechtigkeit im Sinne der Solidarität.

 

Das Menschenbild einer Philosophie der Personaltä ist weder individualistisch noch kollektivistisch. Individualismus und Kollektivismus sind intellektuelle Ideologien und gehen von einseitigen begrifflichen Abstraktionen über Menschen aus und nicht phänomenologisch von konkreten Menschen, die von Anfang an immer in irgendwelchen familiären oder ander-weitigen Beziehungen stehen, die möglichst in schützenden Familien aufwachsen müssen, die möglichst von Eltern gemeinsam erzogen und von pädagogisch begabten Lehrern ausgebildet werden müssen, die behindert sein und krank werden können, die als Jugendliche einer neuen Generation erwachsen werden und sich jenseits eines patho-logischen, individualistischen Konkurrenzkampfes aller gegen alle einen eigenen und gemeinsamen Weg finden müssen. Individualisten sind auf de rechten Auge blind, weil sie immer nur Differenzen wahrnehmen, aber keine Gemeinsamkeiten. Kollektivisten sind auf den linken Auge blind, weil sie immer nur Gemeinsamkeiten wahrnehmen, aber keine Differenzen. Wir haben jedoch zwei Augen, um perspektivisch und dreidimensional wahrnehmen zu können.

 

Wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut sind weder nur monadische Individuen jenseits aller Abhängigkeiten, Bindungen und Gemeinschaften noch sich selbst verleugnende Mitglieder eines Kollektivs oder selbstlose Vertreter einer Alters- oder Berufsgruppe, Bewegung oder Generation, Klasse oder Schicht, Ethnie oder Nation. Wirkliche Menschen mit Leib, Seele und Geist haben ein Alter und ein Geschlecht, eine Heimat und eine Herkunft, erinnern ihren bisherigen Lebensweg und planen für eine erhoffte Zukunft, haben individualethische Einstellungen und persönliche Präferenzen, folgen nicht nur abstrakten ethisch-moralischen Idealen, Prinzipien, Normen und Werten und beachten geltende rechtliche Gesetze und legitime politische Ordnungen nicht nur, wenn es für sie selbst nützlich ist.

 

 

9. Personalität statt Individualismus und Kollektivismus

 

Die Philosophie der Personalität geht anders als der Individualismus und der Kollektivismus davon aus, dass einzelne Menschen trotz ihrer Individualität an einer gemeinsamen, bedürftigen und verletzbaren menschlichen Natur teilhaben und aufgrund ihrer menschlichen Natur auch immer nur in verschiedenen Beziehungen, Gemeinschaften und anderen geselligen Verhältnissen aufwachsen und leben können. Anders können sie ihr genetisch angelegtes menschliches Potential gar nicht entfalten. Insofern gibt es menschliche Personen immer nur, weil es auch andere menschliche Personen gibt, mit denen sie in vielfältigen Beziehungen stehen. Menschliche Personen sind weder nur abstrakte Individuen noch bloße Exemplare einer Gattung noch bloße Elemente eines Kollektivs noch bloße Teile eines großen Ganzen. Aufgrund dieser gemeinsamen Natur sind sie von der Wiege bis zum Grab bezogen auf ihre Mitmenschen und angewiesen auf eine lebenstaugliche natürliche und lebensdienliche kulturelle Lebenswelt. Daher: Individualität und Sozialität sind keine sich ausschließenden Gegensätze, wozu sie die Ideologien von Liberalismus und Sozialismus machen wollten; es handelt sich vielmehr um reale Aspekte einer gemeinsamen menschlichen Natur.

 

Eine Politik im Lichte einer Philosophie der Personalität wird immer auch die ökologische Dimension des Menschen, d.h. eine ökologische Natur des Menschen einschließen und darf sich von daher im Ökologischen nicht auf Natur-, Umwelt- und Tierschutz beschränken, während sie in Bezug auf die Menschen einer unökologischen Ideologie huldigt, die ihn radikal individualisiert und von seinen vielfältigen Bedingtheiten und Beziehungen abstrahiert. Die Philosophie der Personalität geht deswegen vom fundamentalen gleichen Grundrecht der Bürger und Menschen auf Leben, Freiheit, Gerechtigkeit und Würde des Menschen aus und verabsolutiert weder die Freiheit auf Kosten eines menschlichen Lebens in Würde noch die Gleichheit auf Kosten eines menschlichen Lebens in Freiheit.

 

Anders als der rechtsstaatliche Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der größtmöglichen Unversehrtheit von Pflanzen, Tieren und Menschen können die spontan gelebten und selbst vollzogenen Lebensvollzüge von konkreten Menschen in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde jedoch nicht staatlich gesteuert oder verordnet werden. Nur die sozio-kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen eines menschlichen Lebens in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde können von Staats wegen gefördert, geschaffen und erhalten werden. Dazu gehören die rechts- und sozial-staatliche Förderung von Ehe und Familie, von Ausbildung und Bildung der Kinder und Jugendlichen, der Pflege von Alten und Behinderten, der Versorgung von Pensionären und Rentnern, der Förderung von Kultur- und Glaubens-gemeinschaften, der Medizin und Therapie, der Wissenschaften und Techniken, der kommunalen Daseinsvorsorge und der öffentlichen Infrastrukturen sowie des zivilen Schutzes vor Kriminalität, Epidemien und Katastrophen.

 

Anders als der libertäre Kapitalismus, der jedoch ein ökonomischer Totalitarismus ist, und als der totalitäre Sozialismus wird sich Politik im Lichte einer Philosophie der Personalität primär darum bemühen, die produktiven Voraussetzungen für ein menschliches Leben in Freiheit und Würde, Gerechtigkeit und sozialem Frieden, Gesundheit und Nachhaltigkeit, Individualität und Sozialität zu schaffen. Dabei ist es jedoch immer auf die aktive Mitwirkung der Bürger und Menschen angewiesen. Zu den produktiven Voraussetzungen für ein menschliches Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde gehören nicht nur geeignete anfängliche Bedingungen der Ehen und Familien sowie der Ausbildung und Erziehung, so als ob junge und erwachsene Menschen unter beliebigen soziokulturellen, ökonomischen und politischen Bedingungen ein gelingendes Leben führen könnten. So etwas von gewöhnlichen Bürgern und Menschen zu erwarten, bedeutet einen illusionären Heroismus zu kultivieren, wie er seit dem Aufschwung des Neoliberalismus in den modernen Industriegesellschaften in Mode gekommen war. Die Folge war eine Popkultur der manischen Selbstperfektionierung, des offensiven Hochleistungskultes, des lebensfeindlichen Jugendwahns und des pseudoreligiösen Wellnesskultes.

 

Ein unter Realbedingungen realisierbares, möglichst gesundes Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde bedarf hingegen angemessener soziokultureller, ökonomischer und politischer Umstände, die dem weitgehend konstanten Maßstab der menschlichen Natur proportional angepasst sind und dadurch Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen (Arbeitslosen und Erwerbslosen, Asylsuchenden und Flüchtlingen, Behinderten und Kranken, Alten und Rentnern, Pflegebedürftigen und Sterbenden) realisieren. Das zeigt sich dann nicht zuletzt sowohl an einer dem Menschen gemäßen Architektur, Infrastruktur, Städteplanung und Landschaftsgestaltung als auch an einer demokratischen, föderalen und subsidiären Politik in überschaubaren Gemeinden und Regionen, Ländern und Nationen.

 

 

10. Europa - Föderale Einigung einer Vielfalt von europäischen Nationen

 

Es ist eine Binsenweisheit, dass sich Europa spätestens seit der Krise der Finanzwirtschaft ab 2008 in einer schweren Krise befindet. Seit dem Jahr 2020 ist leider auch noch die Corona-Pandemie hinzugekommen. Es ist wohl die schwerste Krise seit Gründung der Europäischen Union. Die Gründe und Ursachen sind vielfältig. Ich bin nicht Experte genug, um eine brauchbare und umfassende ökonomisch-politische Analyse zu liefern. Als politisch interessierter und halbwegs informierter Bürger denke ich aber, dass eine jede zutreffende Analyse die folgenden fünf grundsätzliche Probleme behandeln müsste:

 

1. Die unüberlegte Einführung der einheitlichen Währung des Euros trotz sehr unterschiedlicher ökonomisch-politischer Ausgangsbedingungen und Potentiale bei den ursprünglichen und hinzu gekommenen Mitgliedsstaaten.

 

2. Eine zu schnelle Erweiterung der EU und übereilte Aufnahme von kostenintensiven und politisch dafür noch nicht reifen neuen Mitgliedsstaaten mit schwerwiegenden Defiziten an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

 

3. Eine schleichende Bürokratisierung und Zentralisierung durch Delegation von unzureichend kontrollierten Beamten trotz ungeklärter Verluste an politischer Souveränität der nationalen Mitgliedsstaaten und trotz dadurch verstärkter ökonomisch-politischer Korruption in einigen Mitgliedstaaten.

 

4. Eine wirtschaftsliberale Ausrichtung der ökonomisch-politischen Verträge von Maastricht und Lissabon trotz erheblicher politischer Bedenken in den informierten Kreisen der Bevölkerung einiger Mitgliedsstaaten. (Ablehnung durch die Franzosen und Niederländer)

 

5. Ein Fehlen von grundsätzlichen Diskussionen über die anvisierte politische Ordnung der Europäischen Union als einer politischen Föderation souveräner Nationalstaaten, d.h. als föderativer Staatenbund auf der Basis von Verträgen und nicht als vereinter Bundesstaat mit einer eigenen Verfassung und einem noch nicht existenten Staatsvolk.

 

Diese politische Ordnung der Europäischen Union als einer politischen Föderation souveräner, demokratischer und rechtsstaatlicher Nationalstaaten (Staatenbund) liegt jenseits des neuen zentralistischen Modells einer neoliberalen Supermacht der "Vereinigten Staaten von Europa" (Bundesstaat), aber auch jenseits des alten nationalistischen Modells vom "Europa der Vaterländer". Irreführend ist sowohl die links-populistische Idee von einer "liquiden Demokratie" ohne die politische Autorität nationaler rechtsstaatlicher Ordnungsmächte mit einem Gewaltmonopol als auch das rechts-populistische Ziel von einer regressiven Rückkehr zu autarken und homogenen Kulturnationen durch Opposition gegen den Prozess einer föderativen Europäischen Einigung.

 

Nationen sind eine demokratische zivilisatorische Errungenschaft des internationalen Völkerrechtes in der Moderne. Nationen werden konstituiert durch ein räumliches Staatsgebiet, durch ein geschichtlich gewachsenes und generatives Staatsvolk, durch eine meistens geschriebene Staatsverfassung und durch staatliche Institutionen mit eigenen identitätsstiftenden staatlichen Symbolen wie einer Flagge, Hymne, etc. Die Souveränität der europäischen Nationen trotz der föderativen Vereinigung Europas zu erhalten, ist kein Nationalismus, sondern eine demokratische, rechts-staatliche und sozialstaatliche Notwendigkeit. Ohne Nationalstaat gibt es keinen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat und ohne einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat gibt es keinen effektiven Sozialstaat. Ohne einen effektiven Sozialstaat gibt es keinen dauerhaften sozialen Frieden mit hinreichender Freiheit und Gerechtigkeit.

 

Die Utopie der Deutschen Idealisten, dass "der Staat verschwinden" müsste, weil er angeblich nur ein "mechanisches Räderwerk" sei, hat sich im 20. Jahrhundert dank des nüchternen politischen Realismus der alliierten Westmächte der Briten, Franzosen und Amerikaner zum Glück nicht durchgesetzt. Leider gibt es solche illusionären Schwärmereien wieder bei allzu euphorischen links-liberalen Populisten, die von einer "liquiden Demokratie" ohne Grenzen, von einer direkten Demokratie ohne Parlamente und Parteien, von einem Rechtsstaat ohne eine politische Leitkultur (ohne Verfassungspatriotismus auf der lebendigen Basis einer christlich-humanistischen Leitkultur) und von einer pazifistischen Gesellschaft ohne Polizei und Militär träumen. Die Illusion vom baldigen Verschwinden nationaler Grenzen und nationaler Institutionen ist politisch naiv und dient nur den Interessen von global agierenden Banken, Börsen, Finanz- und Immobilienspekulanten und von steuerflüchtigen Unternehmen wie Amazon, Apple, Facebook, Google, Starbucks & Co..

 

Nicht weniger gefährlich sind jedoch rechte Populisten, die wieder von einer "konservativen Revolution" (A. Mohler) schwärmen, die sich ebenfalls gegen den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und die pluralistische Demokratie richten. Sie rufen zu einer "Verteidigung des christlichen Abendlandes" gegen eine angebliche amerikanische Welt-herrschaft bzw. gegen eine angebliche zionistische Weltverschwörung auf; sie verklären die politische Oligarchie in Russland, die ohne einen effektiven demokratischen Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz sämtliche Dissidenten, Kritiker und kremlkritische Demokraten unterdrückt. Ganz gleich, ob sie rechtsradikale Atheisten oder militante Christen sind, ob sie fundamentalistische Protestanten oder katholische Traditionalisten sind, gleichen sie in ihrer diffusen Angst und Verzweiflung, in ihrer Furcht vor der Zukunft und in ihrem religiösem Eifer jedoch gerade den militanten Islamisten und fanatischen Salafisten, die sie meinen bekämpfen zu müssen.

 

Die ökonomisch-politische Einigung der europäischen Nationen zu einer kooperativen Föderation souveräner rechts-staatlicher Demokratien setzt die ökonomische Lebendigkeit und politische Stabilität dieser demokratischen Nationen voraus. Sie kann sie nicht neu erschaffen und sie darf sie schon gar nicht abzuschaffen versuchen.

 

 

11. Europas Einheit im Kampf gegen den Subjektivismus und Relativismus

 

Die ökonomisch-politische Einigung der europäischen Nationen zu einer kooperativen Föderation souveräner rechts-staatlicher Demokratien setzt jedoch auch noch etwas ganz Anderes und viel Grundsätzlicheres voraus, nämlich die Überwindung des weltanschaulichen, ethischen und rechtlichen Subjektivismus und Relativismus. Denn moderne Gesellschaften, in denen sich diese Formen des Relativismus und Subjektivismus breit machen, werden früher oder später zerfallen und sich von innen heraus zerstören, weil es in ihnen keinen hinreichend breiten Konsens mehr über evidente Wahrheiten, die Wirklichkeit und die Natur, über die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft und die besten politischen Institutionen mehr geben kann.  Wenn angeblich jeder Mensch "seine eigene Wahrheit" hätte, dann gäbe es keine Wahrheit mehr, sondern nur noch individuelle Vorstellungen und begriffliche Konstrukte. Dann würde jeder Mensch einsam in einer narzisstischen Egoblase leben und wäre nur eine beziehungslose Monade im egozentrischen Kampf ums Dasein.

 

Auch psychische Erkrankungen wären dann ebenso gut wie seelische Gesundheit und gesunder Menschenverstand, aberwitzige und irre Verschwörungtheorien wären dann gerade so zuverlässig wie evidenzbasierte wissenschaftliche Untersuchungen und ihre von Experten anerkannten Resultate, fanatische Selbstmordattentäter und barbarische Terroristen wären dann genau so gut wie Rettungssanitäter und Ärzte, Feuerwehrleute, Katastrophenhelfer und Polizisten, die das Leben von Menschen schützen und retten. Gesellschaften, die auf diese Art und Weise einer grotesken Gleichwertigkeit aller Ideale und Prinzipien, Normen und Werte verfallen, werden irgenwann in einem Chaos versinken und untergehen, zumal es in Wirklichkeit immer genug äußere Feinde und innere Gegner gibt, die sich das nicht nur wünschen, sondern auch tatkräftig daraufhin arbeiten.

 

Wissenschaftliche Forschung könnte dann nicht mehr dazu dienen, mit den geeigneten Methoden herauszufinden, zu erkennen und zu wissen, was wirklich wahr ist und würde zum Karrierestreben nach Geld, Karriere, Positionen, Ruhm und Macht verkommen. Akademische Lehre könnte nicht mehr dazu dienen, den aktuellen Stand der Forschung zu vermitteln. Wozu Wissenschaft, wenn doch jeder glauben kann, was er will, weil es angeblich keine Wahrheit jenseits der bloßen Meinungen mehr gibt? Eine faire und gerechte rechtsstaatliche Rechtsprechung könnte dann nicht mehr dazu dienen, mit den geeigneten Methoden herauszufinden, wer, wann, wo, was getan hat, ob jemand verantwortlich ist und daran schuld hat. So etwas wie eine angemessene und legitime Strafe durch Geldbußen oder Freiheitsentzug hätten dann auch keinen Sinn mehr. Freiheitsstrafen verlören dann ihre abschreckende Wirkung, was den Anreiz erhöhen würde, weitere Verbrechen zu begehen. Wozu dann aber Strafverfolgung und Aufklärung von Verbrechen, wenn es doch angeblich nur verschiedene Meinungen über das Verhalten und Handeln von Menschen gibt, aber keine Wahrheit und keine Wirklichkeit, keine angemessenen Beschreibungen und Bewertungen von guten und keine schlechten Taten?

 

So etwas wie Freundschaften und Partnerschaften, Ehen und Familien könnten dann nur noch vorübergehende und durch verschiedene Zwecke bedingte Zweckgemeinschaften auf Zeit im darwinistischen Kampf ums Dasein sein. Aber alle zwischenmenschlichen Kooperationen, Versprechen und Verträge wären dann höchstens nur noch zweckmäßige und vorübergehende Waffenstillstände, die jederzeit wieder aufgekündigt werden könnten, wenn jemand glaubt, dass seine eigenen Vorteile von den Nachteilen dieser wechselseitigen Absprachen und Zugeständnisse überboten werden. Alles im Leben hätte dann seinen Preis und würde zu einer bloßen Frage des Geldes, am Ende dann auch der Wert der Gesundheit und des Lebens selbst. Die Würde des Menschen würde veräußerlich. Es gäbe dann angeblich keine absolut und allgemein gültigen sittlichen Ideale, Prinzipien, Werte und Normen mehr, sondern nur noch durch egoistische Strategien der Selbsterhaltung. Es hat aber noch nie eine menschliche Gesellschaft oder Kultur gegeben, in denen alle Individuen versuchten, alle existenziell relevanten Konventionen und Institutionen, die das Leben, die Freiheit und die Würde der Menschen und der natürlichen Lebensbedingungen schützen, ständig neu zu erfinden und auszuhandeln. Moderne Gesellschaften, die sich diesem Trend der Verwerfung aller existenziell relevanten Konventionen und Institutionen annähern, überfordern die Menschen und setzen sie einem permanenten Stress der existenziellen Selbstwahl aus, der gegen ihre menschliche Natur als ein soziales und politisches Wesen geht.

 

Was mit vormalig geeinten Nationen geschieht, wenn es angeblich keine allgemeingültige Wahrheit, keine Wirklichkeit und keine Fakten mehr gibt, konnten die US-Amerikaner zwischen 2016 und 2020 täglich in den Medien erleben. Der amerikanische Präsident Donald J. Trump ist nämlich alles andere als wertkonservativ oder gar gläubig. Er glaubt weder, dass es allgemeingültige Wahrheiten noch eine einheitliche Wirklichkeit gibt und verschmäht die Realität von Fakten. Trump ist daher das Paradebeispiel für einen hochgradig narzisstischen Menschen, der glaubt, seine eigene Wahrheit zu besitzen und infolge dessen auf niemand Anderen hören zu müssen, auch wenn er nachweislich bessere Kompetenzen auf einen bestimmten Gebiet besitzt. Daher hatte er keinen Respekt vor seriösen und kompetenten Wissenschaftlern und den gewählten Repräsentanten der Justiz und der rechtstaatlichen und politischen Institutionen, sondern hat immer nur versucht, sie immer nur für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Mitarbeiter, die ihm aus guten Gründen widersprachen, hat er ganz einfach gefeuert. Es sollen 88 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in 4 Jahren Amtszeit ge-wesen sein. Kritische Journalisten hat er regelmäßig beschimpft oder vermieden, wo er nur konnte.

 

Donald Trump ist der Prototyp des homo oeconomicus, des nur an Eigeninteresse und eigenem Profit interessierten Menschen des libertären Kapitalismus, in dem nur das eigene Ego, der eigene Erfolg, der eigene Ruhm, die eigene Macht und der eigene Besitz an Geld, Gold und Immobilien zählen. Auch Frauen zählt er entweder zu seinem Besitz-stand oder aber zur potentiellen Beute. Daher neigt er zu dem Typ Barbie-Puppe und tauscht sie bei Bedarf gegen eine jüngere Puppe aus. Auch war er übrigens lange Zeit ein New Yorker Unterstützer der Demokraten und pflegte sehr gute Beziehungen zu den Clintons. Das zeigt, dass dieser neue Typus von egoistischem Unternehmer-Politiker nichts mit der Zugehörigkeit zu einer demokratischen Partei zu tun hat.

 

Die Republikaner hat er auch nur gekapert, um seine eigenen Ambitionen zu verfolgen und sie haben ihn nur benutzt, um ihre eigenen politischen Ziele, wie z.B. der Steuersenkung für die Superreichen, der Abschaffung der öffentlichen Gesundheitsversicherung, der Unterstützung der Waffenlobby, etc. zu erreichen. Es war ein schmutziges Geschäft auf Gegenseitigkeit, wie es immer schon bei der Mafia üblich war. Die heuchlerischen Fernsehprediger des verlogenen amerikanischen Wohlstandsevangeliums haben ihn auch nur für ihre geschäftlichen Zwecke und politischen Ziele benutzt und er hat sie und die Bibel für seine politischen Ambitionen instrumentalisiert.

 

Donald Trump war jedoch kein zufälliger Betriebsunfall der amerikanischen Demokratie, die jetzt unter der kommenden Regierung von Joe Biden und Kamala Harris schon bald wieder in Ordnung kommen könnte. Das zu glauben wäre ein naiver und oberflächlicher Zweckoptimismus. Aber gerade die Anhänger der Demokraten neigen zu diesem illusionären Fortschrittsoptimismus. Sie glauben auf der richtigen Seite "der Geschiche" zu stehen und hoffen, dass mit ihnen alles besser wird. Wenn dies bei einem demokratischen Präsidenten wie Barrack Obama noch nicht geklappt hat, dann vieleicht beim nächsten. So warten alle auf eine gründliche Besserung der Gesellschaft durch politische Maßnahmen. Aber die Besserung kommt nicht durch demokratischen Wahlen alleine. Donald Trump als Präsident war nämlich auch nur ein Symptom des dysfunktionalen libertären Kapitalismus, der nun schon seit vielen Jahren auf einen kulturellen, ökonomischen und politischen Verfall hintreibt. Dieser libertäre Kapitalismus frisst seine eigenen Kinder.

 

Der libertäre Kapitalismus wird durch einen egoistischen Individualismus und durch einen subjektivistischen und relativistischen Skeptizismus gegenüber objektiven Wahrheiten und einer gemeinsamen Wirklichkeit befeuert. Zwar tarnen sich Subjektivisten und Relativisten nur allzu gerne hinter einer Fassade der politisch korrekten Bekenntnisse zu einem demokratischen Pluralismus. Aber gerade in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft bedarf es eines starken Glaubens an eine unverfügbare Wahrheit, an eine von bloßen Meinungen unabhängige Wirklichkeit und an das gemeinsame Streben nach objektivem Erkennen und Wissen.

 

Wenn nämlich zuverlässige Fakten keine Rolle mehr spielen, sondern nur verschiedene Meinungen und "alternative Fakten", dann ist das ein Freibrief zum hemmungslosen Lügen und Betrügen. Dann geht aber auch die praktische Wertschätzung von nützlichen Mitteln und Zwecken verloren, um das Leben der Menschen vor den lebensbedrohlichen Gefahren einer Epidemie zu schützen oder die Natur vor den lebensbedrohlichen Gefahren der Erderwärmung. Alles zerfällt in eine relativistische Beliebigkeit und auch die Bürger und Menschen werden in unversöhnliche politische Lager gespalten, die mitten durch Familien gehen und an denen Freundschaften zerbrechen.

 

Auch der Umgang mit Leben und Tod, mit Gesundheit und Krankheit, mit Leiden und Sterben, mit Suizid und Sterbehilfe bleibt dann von diesem libertären Verfall unverfügbarer objektiver Wahrheiten, von dieser egozentrischen Verlust von Wirklichkeit, von dieser Relativierung und Subjektivierung von Fakten, von diesem Zerfall der sittlichen Ideale, Prinzipien, Normen und Werte nicht unbeeinflusst. Der besondere Wert des menschlichen Lebens wird entwertet, sodass dann auch das werdende menschliche Leben bei "persönlichem Bedarf" abgetrieben werden kann, wenn es gerade nicht zur eigenen Lebensplanung passt.

 

Aus dem rechtlichen Verbot der Abtreibung (mit den Ausnahmefällen von medizinischen Indikationen) wird dann ein angebliches "Recht auf Abtreibung" oder gar ein vermeintliches Menschenrecht. Die berechtigte Emanzipation der Frauen zur Befreiung von ungerechter Ungleichbehandlung wird entwertet und wird zu einem bloßen Freibrief dafür, selbst lebensfeindlich mit dem werdenden menschlichen Leben umzugehen. Eine solche Verrohung der Sitten kann aber kein Fortschritt mehr sein. Die berechtigte Freiheit der Selbstbestimmung wird dann nämlich zur Willkürfreiheit gegenüber dem schwachen, unschuldigen und wehrlosen Leben der eigenen Kinder. Kinder mit einer etwas anderen genetischen Informationsstruktur (z.B. mit Trysomie 21) dürften dann wieder abgetrieben werden. Das aber erinnert nicht zufällig an die Abwertung des sog. "unwerten Lebens" der Nazis. Solche Vergleiche weisen die Befürworter einer angeblich fortschrittlichen "liberalen Abtreibungspolitik" freilich weit von sich. Aber auch die Nazis galten und hielten sich selbst einmal für die Vorkämpfer des Fortschrittes.

 

Auch die Würde jedes Menschen kann dann nur noch als bloße Illusion gelten. Der Glaube an Gott und die Gotteben-bildlichkeit des Menschen wird als ein bloßer "Wahn" abgetan. Populistische Naturwissenschaftler haben bereits ihre eigenen Kompetenzen überschritten und die ideologischen Schlagwörter geliefert. Damit beruhigt jemand jedoch nur seine tiefsitzende Angst, dass am Glauben an Gott doch etwas dran sein könnte. Und sei es auch nur im Hinblick auf den Glauben an Wahrheiten und Prinzipien der Vernunft jenseits strategischer Raffinesse. Der Glaube führt jedoch zur Wahrheit, die frei macht, frei von Ängsten, frei von Selbstbetrug und Lebenslügen, frei von bequemen Ausreden und faulen Kompromissen. Der unausweichliche Tod der Menschen wird so gut und so lange wie möglich verdrängt, weil er nicht zur libertären, hedonistischen und konsumistischen Lebenseinstellung und zum eigenen Karrierestreben passt. Er ist das große Tabu in unserer Gesellschaft, über das sich ein kollektives Schweigen und Verdrängen ausbreitet.

 

Das Leben wird zur "letzten Gelegenheit" (Marianne Gronemeyer) für alle Formen von sinnlichem Genuss. Gesundheit wird zum höchsten Gut, weil ohne Gesundheit angeblich alles andere nichts mehr wert sein soll und weil der Mensch angeblich doch auch nur ein Tier ist, so ähnlich wie die Affen nur ohne Fell und mit etwas anderen Kommunikations-formen. Krankheit wird dann wieder ganz heidnisch als eigene Schuld verstanden und als eigenes Versagen den Kranken selbst zur Last gelegt, weil sie eben nicht "gesund" genug gelebt haben. Solidarität wird nicht mehr nötig, sondern sinnlos. Menschliches Leiden ist dann eben bloß Pech oder angeblich sogar die eigene Schuld. Sterben wird einsam und grausam und muss von jedem Menschen ganz alleine bewältigt werden.

 

Suizid ist dann auch nur ein bequemer Ausweg oder ein Notausgang, um nicht leiden zu müssen. Beihilfe zum Suizid wird dann angeblich zum humanitären und solidarischen Akt aus Mitgefühl, mit dem sich die Menschen jedoch oft nur selbst vor dem schweren Anblick des Leidens und Sterbens verschonen wollen, weil sie dem Leiden und Mitleiden lieber aus dem Weg gehen. Außerdem brauchte man dann nicht mehr lange zu pflegen, was anstrengend ist, oder pflegen zu lassen, was sehr teuer geworden ist. Das lukrative Geschäft mit dem Tod wird zu einem interessanten Geschäftsmodell insbesondere für Leute, die sonst nichts Gescheites gelernt haben. Für die Eröffnung und Leitung eines Beerdigungs-institutes braucht man inzwischen keine mehrjährige Ausbildung und keinen Meisterbrief mehr. Jeder kann seinen eigenen Laden aufmachen, um dort kunterbunte Särge aus Plastik zu verkaufen und Beerdigung mit 99 bunten Luft-ballons wie beim Kindergeburtstag anzubieten. Es lebe die Infantilisierung! 

 

Mit dem ernsten und gereiften politischen Bekenntnis zu einem demokratischen und riskanten politischen Pluralismus im Sinne von Hannah Arendt hat dieser infantile Pluralismus der kunterbunten Luftballons und der bunt bemalten Kinderhände jedenfalls nichts zu tun! Das ist nur ein billiger Abklatsch und gehört in den Kindergarten, aber nicht in die ernsthafte politische Streitkultur der demokratisch gewählten Parlamentarier und Regierenden, wo es um politische Rahmenbedingungen allgemeiner Lebenschancen und damit um Armut und Reichtum, Gesundheit und Krankheit sowie um Leben und Tod geht. Hannah Arendt war sich in dieser Hinsicht mit ihrem Lehrer Karl Jaspers einig. Um diesem existenziellen Ernst des Politischen gerecht zu werden, bedarf es einer anderen Einstellung, in der die Ehrfurcht vor absoluten und unverfügbaren Wahrheiten, die den jeweils eigenen persönlichen Horizont übersteigen, lebendig gehalten werden. Es gibt keine wahre Freiheit ohne Ehrfurcht vor der Wahrheit, die niemand sein eigen nennen und besitzen kann. Falls es keine solche Wahrheit gibt, ist alles erlaubt.

 

© Ulrich W. Diehl, Heidelberg, Oktober 2018 - 11. Abschnitt ergänzt im Dezember 2020

 


 

Mir gab das zu denken

 

Für Konservative ist schwer zu verstehen, dass manches verändert werden muss, wenn vieles von dem erhalten

werden soll, was sich bewährt hat und einer Gesellschaft im Wandel Halt gibt. Radikalliberale mit einem Hang zur Diskreditierung staatlicher Aktivitäten fremdeln mit der Logik, dass erst ein handlungsfähiger Staat über öffentliche Leistungen und Regelsetzungen die Grundlagen schafft, auf denen sich einzelwirtschaftliche Interessen ohne selbst-zerstörerische Tendenz entfalten können. Ihnen leuchtet auch nur schwerlich ein, dass Freiheit ohne sozialen Ausgleich und intakte staatliche Institutionen gefährdet ist, weil die Zügellosigkeit einiger die Freiheit vieler einschränkt und eine krasse Wettbewerbsgesellschaft ihre Verlierer auf die Barrikaden treiben kann. Sozialdemokraten wiederum vergessen gelegentlich, dass erst erwirtschaftet werden muss, was anschließend verteilt werden kann. Und einigen wohlsituierten Anhängern der Ökologiebewegung leuchtet es nur schwerlich ein, dass erfolgreicher Umwelt- und Klimaschutz technologisches Know-how und industrielle Kapazitäten voraussetzt.

 

Politische Fähigkeit beweist sich einerseits darin, solche Einsichten zusammenzuführen. Sie bestätigt sich andererseits in der Erkenntnis, dass jede Übertreibung und erst recht jeder Exzess die Stabilität einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung wie der parlamentarischen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft ins Wanken bringen kann. So unter-miniert Staatsversessenheit zwar die Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Umgekehrt bedroht aber Staatsver-gessenheit das öffentliche Wohl und versperrt der schwächeren Bürgerschaft den Zugang zu Teilhabe und Teilnahme. Asymmetrien in der Einkommens- und Vermögensverteilung werfen nicht nur Gerechtigkeitsfragen auf, sondern spalten unsere Gesellschaft mit der Folge, dass ein Teil sich deklassiert sieht und sich in seiner Unzufriedenheit politisch, kulturell und lebensweltlich abkapselt. Eine solche soziale Desintegration öffnet Türen für Fliehkräfte und Ressenti-ments, die genau die Basis bedrohen, auf der die Bewohner der oberen Etagen der Gesellschaft sitzen – und von wo aus sie ihren sozialen Status und materiellen Wohlstand oft sehr selbstbezogen als ebenso dauerhaft wie normal unter-stellen.

 

Peer Steinbrück, DIE ZEIT, 30.05.2011

 


 

RECHTSPHILOSOPHIE ALS POLITISCHE AUFKLÄRUNG

 

Die politische Aufklärung des 17. bis 19. Jahrhunderts war weitgehend Rechtsphilosophie, und die Rechtsphilosophie verstand sich als politische Aufklärung. Die Probleme stellen sich heute, in veränderter historischer Situation neu. Die Rechtsphilosophie kann ihre Aufklärungsfunktion nur erfüllen, wenn sie von den juristischen, rechtsdogmatischen und politischen Diskussionen ihrer Zeit ausgeht. Sie muß die im Prozeß der Rechtsentwicklung lebendige Vernunft analy-sieren. Das ist jedoch nicht der Standpunkt des nach wie vor herrschenden Rechtspositivismus. Mit ihm und seiner Trennung von Recht und praktischer Vernunft, von Recht und Moral setzt Martin Kriele sich kritisch auseinander, stellt ihm aber nicht eine Naturrechtslehre gegenüber, sondern die praktischen Erfahrungen des Rechtswissenschaftlers und Richters. Er zeigt, wie und warum Recht und Ethik zusammen gehören, und führt differenziert argumentierend in die rechtsphilosophische Diskussion der Gegenwart ein.

 

Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 1979

 

ders., Einführung in die Staatslehre, Die geschichtlichen Legitimationsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart: Kohlhammer 6. Auflage 2003

 

ders., Grundprobleme der Rechtsphilosophie, Münster: LIT ²2004

 


 

Was hält die Gesellschaft noch zusammen?

 

Otfried Höffe - Frankfurter Rundschau - 29.10.2021

 

Skepsis herrscht vor, aber tatsächlich erfreuen sich moderne Gemeinschaften eines nicht nur wirtschaftlichen Wohlstands.

 

Bekanntlich ist die Philosophie aus dem Thaumazein, dem Staunen, geboren. Gemeint ist aber nicht das bewundernde Staunen über die Ordnung und Schönheit der Welt, sondern das skeptische Staunen: dass sich vieles anders als zu erwarten verhält. Dazu gehört in den Diagnosen unserer Gesellschaft die Vorliebe für die Überdramatisierung. Denn Sozialwissenschaftler ziehen die Frage vor, was die Gesellschaft auseinandertreibt, und das Publikum teilt diese Vorliebe.

In der Tat können unsere Gesellschaften über einen Mangel an Herausforderungen nicht klagen. Man denke an den Terrorismus, die Umweltkrise und den Klimawandel, an die Finanzkrise des Jahres 2008 und an die sogenannte Flücht-lingskrise, ferner an die von Covid-19 verursachte Virokratie und die schon seit längerem zunehmende Gewaltbereit-schaft.

 

Trotzdem haben die freiheitlichen Demokratien des Westens, lehrt deren Wirklichkeit, immer noch einen Ausweg aus den Gefahren, und sei es einen Notausgang gefunden oder erfunden. Obwohl die Kräfte der Auflösung also enorm sind, überleben unsere Gesellschaften und erfreuen sich sogar in wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, medizinischer und kultureller Hinsicht einer trotz berechtigter Feinkritik bewundernswerten Blüte.

 

Eine erfahrungsoffene Sozialtheorie stellt sich daher der Gegenfrage zu den heute vorherrschenden Diagnosen: Was hält die Gesellschaften noch zusammen? Immerhin ist seit dem Zweiten Weltkrieg noch keine der modernen Gesell-schaften zerbrochen. Ohnehin wäre es naiv, ihren Zusammenhalt als reine Harmonie zu verstehen. Wie die schlichte Lebenserfahrung lehrt, wie ein rascher Blick in die Geschichte bekräftigt und wie sowohl die schöne als auch die wissenschaftliche Literatur bestätigen, herrscht schon in vormodernen Familien, Nachbarschaften und Institutionen nicht eitel Liebe und Freundschaft vor. Wieso sollte man es dann von den modernen Gesellschaften erwarten?

 

Der Versuch, die Frage zu beantworten, was unsere Gesellschaften noch zusammenhält, erfolgt am besten in drei Schritten. Als Kontrast beginne man mit der Frage, was denn die früheren, vormodernen Gesellschaften zusammen-gehalten hat. Hier kann man bei der Blutsverwandtschaft anfangen, darf aber die nicht minder wichtige Gemeinsamkeit der Sprache nicht vergessen, ferner Sitte und Recht, häufig die Wertschätzung von Rechtschaffenheit und Gemeinsinn, weiterhin die Religion, nicht zuletzt eine politische Herrschaft „von Gottes Gnaden“.

Daran schließt sich die Frage an, welche Entwicklungen diese Faktoren nach und nach geschwächt, am Ende sogar weithin zum Verschwinden gebracht haben. Diese Entwicklungen, sie mögen Modernisierungen heißen, beginnen in der Renaissance und dem Humanismus. Sie setzen sich in der Reformation und deren Religionskriegen sowie im Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen fort und werden in der Epoche der Aufklärung und in der Amerikanischen und der Französischen Revolution teils bekräftigt, teils weitergeführt und dauern wegen späterer Entwicklungen bis heute an.

Längst herrschen die daraus hervorgegangenen Eigenarten vor: Säkularisierung, Pluralismus und Kapitalismus sowie eine facettenreiche Globalisierung, neuerdings etwa eine veränderte Demografie, die Digitalisierung mit ihren bekann-ten Chancen, aber auch Gefahren.

 

Was also, dritter Überlegungsschritt, hält unsere Gesellschaften noch zusammen? Als Erstes und vermutlich Wichtigstes ist die Legitimation politischer Herrschaft von den Betroffenen her zu nennen, mithin die konstitutionelle Demokratie, die trotz Crouchs populärer Niedergangsdiagnose „Postdemokratie“ zwar nicht ungefährdet ist, sich aber gegen die Populismen immer noch behaupten kann. Auch hat sich, wenn auch erneut nicht ungefährdet, gesellschaftliche Toleranz durchgesetzt, herrscht vielerorts eine interkulturelle Neugier vor und beruft man sich mehrheitlich statt auf fremde Autoritäten auf die allen Menschen gemeinsame Vernunft.

 

Die Zufriedenheit der Bürger ist vermutlich wegen des doch beachtlichen materiellen, politischen und kulturellen Wohl-stands in den letzten Jahrzehnten gewachsen, wenn auch von Rückschlägen nicht frei. Jedenfalls verstehen unsere Ge-sellschaften ihre moralischen Ressourcen, obwohl sie auf säkulare Weise freiheitlich sind, also im Widerspruch zum so gern zitierten Böckenförde-Dilemma immer wieder zu regenerieren. Hier darf man sich unter anderem auf die starke Zivil- bzw. Bürgergesellschaft berufen mit ihrem teils gesellschaftstragenden Engagement – man denke an die vielen ehrenamtlich Tätigen, vergesse aber auch nicht die Fülle von Vereinen, Verbänden, Clubs und Bürgerforen –, teilweise aber auch staatskritischem Einsatz.

 

Infolgedessen ist diese Bilanz erlaubt: Alle Gesellschaften sind Institutionen oder Institutionenkomplexe aus Koopera-tion und Konflikt. Heutige Gesellschaftstheoretiker heben gern, wie erwähnt, jene Faktoren hervor, deretwegen die modernen Gesellschaften auseinanderzudriften, sogar auseinanderzubrechen drohen. Tatsächlich, nimmt der wirk-lichkeitsoffene Blick wahr, halten sie noch immer zusammen und erfreuen sich dabei eines facettenreichen, keineswegs bloß wirtschaftlichen Wohlstands. Der Inbegriff der Ressourcen für diesen Wohlstand in einem weiten Verständnis, das Humankapital, besteht wegen der Natur des Menschen aus sechs Dimensionen: aus einem materiellen, einem sozialen, einem emotionalen Reichtum oder Kapital, ferner aus einem sprachlichen, wissenschaftlichen und kulturellem, einem rechtlichen und einem politischen Wohlstand beziehungsweise Kapital.

 

Mit der Wirtschaft verdient nun die Gesellschaft ihren Lebensunterhalt. Einen tieferen Zusammenhalt gewinnt sie jedoch durch die konstitutionelle Demokratie und die Bürgergesellschaft, dabei durch deren Medium, ihre Sprache (im Singular oder Plural), ferner durch das Gesundheits-, das Schul- und Hochschulwesen, durch Natur- und Geisteswissenschaften, Medizin und Technik, durch Musik, Literatur und Kunst. Auf diese vieldimensionale Weise erwirbt sie sich über den materiellen Wohlstand hinaus einen sozialen und kulturellen Reichtum, der mitlaufend zu so etwas wichtigem wie dem emotionalen Wohlstand, der inneren Zufriedenheit einer Gesellschaft, beiträgt.

 

Schließlich ist auch diese Fähigkeit nicht zu unterschätzen: mit den Nachbarn in Frieden zu leben.

 

Otfried Höffe , geboren 1943, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Tübingen, wo er die Forschungsstelle für politische Philosophie leitet. Seine Forschungsschwerpunkte sind Aristoteles und Kant sowie Moralphilosophie und Politische Philosophie. - Im April 2020 wurde Höffe Mitglied des „Expertenrats Corona“. Das Gremium aus zwölf renommierten Experten aus unterschiedlichen Disziplinen soll mit der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen Strategien für die Zeit nach der Corona-Krise erarbeiten. - Sein neues Buch „Was hält die Gesellschaft noch zusammen?“ erscheint im November im Kröner Verlag .

 

https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/was-haelt-die-gesellschaft-noch-zusammen-91083685.html

 


 

Literatur zur gegenwärtigen Politik

 

Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt.

Essay zur Politik der Freiheit, München: dtv 1994

 

ders., Auf der Suche nach einer neuen Ordnung.

Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert,

München: Beck 2003

 

ders., Versuchungen der Unfreiheit.

Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung,

München: C.H. Beck 2006

 

Udo di Fabio, Die Kultur der Freiheit,

München: C.H. Beck 2005

 

ders., Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss,

München: C.H. Beck 2015

 

Herfried Münkler, Mitte und Maß, Der Kampf um die richtige Ordnung,

Berlin: Rowohlt 2010

 

Helmut Schmidt, Handeln für Deutschland. Wege aus der Krise,

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994

 

ders., Globalisierung. Politische, ökonomische und kulturelle Herausforderungen,

München: DVA 1998

 

ders., Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen.

München: Goldmann 2006

 

ders., Religion in der Verantwortung. Gefährdung des Friedens im Zeitalter der Globalisierung,

Berlin: Propyläen 2011

 

Richard Schröder, Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit, Freiburg i.B.: Herder ²2007

 

ders., Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg i.B.: Herder 2008

 

Gerechte Teilhabe. Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Armut in Deutschland mit einer Kundgebung der 10. Synode der EKD zum Schwerpunktthema "Gerechtigkeit erhöht ein Volk", Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006

 


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Hermann Lübbe, Political Correctness
Über Moral als Mittel der Meinungskontrolle. Vortrag im Bund Freiheit der Wissenschaft vom 01.06.2006
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Julian Nida-Rümelin, Karl Marx: Ethischer Humanist – Politischer Anti-Humanist?
Zum 125. Todestag eines philosophischen Denkers und politischen Programmatikers
Nida-Rümelin, Karl Marx.pdf
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Peer Steinbrück, Mir gab das zu denken
DIE ZEIT vom 30.05.2011
Steinbrück, Arbeitsmarktpolitik.pdf
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