2. Allgemeine Ontologie

 

 

 

Aspasia, Alkibiades und Sokrates
Aspasia, Alkibiades und Sokrates

 

 

O Sokrates, das andere dünkt mich alles gar schön gesagt, nur das von der Seele findet großen Unglauben bei den Menschen, ob sie nicht, wenn sie vom Leibe getrennt sind, nirgends mehr ist, sondern an jenem Tage umkommt und untergeht, an welchem der Mensch stirbt, und sobald sie von dem Leibe sich trennt und ausfährt wie ein Hauch oder Rauch, auch zerstoben ist und verflogen.

 

Kebes in Platons Phaidon

 

Ihr aber, wenn ihr mir folgen wollt, kümmert Euch wenig um den Sokrates, sondern weit mehr um die Wahrheit; und wenn ich Euch dünke etwas Richtiges zu sagen, so stimmt mir bei, wenn aber nicht, so widerstrebt mir auf alle Weise, damit ich nicht im Eifer mich und Euch zugleich betrügend, wie eine Biene den Stachel zurücklassend davongehe. 

 

Sokrates in Platons Phaidon

 

Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.

 

G. W. F. Hegel

 

Ich bitte Sie nicht zu vergessen, dass auch der Materialismus eine metaphysische Hypothese ist, eine Hypothese,

die sich im Gebiet der Naturwissenschaften allerdings als sehr fruchtbar erwiesen hat, aber doch immer eine Hypothese. Und wenn man diese seine Natur vergisst, so wird er ein Dogma und kann dem Fortschritt der Wissenschaft ebenso hinderlich werden und zu leidenschaftlicher Intoleranz treiben wie andere Dogmen. Diese Gefahr tritt ein, sobald man Tatsachen zu leugnen, oder zu verdecken sucht.

 

Hermann von Helmholtz

 

Ein jedes Ding ist, was es ist, und kein anderes.

 

Joseph Butler

 

Es gibt Materie ohne Geist, aber nicht Geist ohne Materie.

 

Hans Jonas

 


 

 

 

Was ist Allgemeine Ontologie?

 

 

Allgemeine Ontologie ist der philosophische Versuch, anhand von hypothetischen Verallgemeinerungen spekulativer Art zu bestimmen, was das Ganze des Seins ausmacht und aus welchen Arten, Formen oder Kategorien des Seienden das Ganze des Seins besteht. Wie könnte und müsste eine solche Allgemeine Ontologie beschaffen sein, wenn sie - wie Kant es forderte - in Zukunft als eine respektable Wissenschaft wird auftreten können? Klar scheint nach einer langen Tradition allgemeiner Ontologie von großen philosophischen Antipoden wie Platon und Aristoteles, Descartes und Leibniz, Kant und Hegel bis hin zu Franz Brentano und Nicolai Hartmann nur das Eine zu sein: Es kann sich weder um eine monistische noch um eine reduktionistische Ontologie handeln. Die Versuche einer monistischen Ontologie, wie sie noch von verschiedenen Philosophen der Neuzeit versucht wurden, wie z.B. von Baruch de Spinoza, scheinen kein überzeugendes Modell des ontologischen Denkens mehr zu bieten, bei dem es sich lohnen könnte, es neu zu beleben.

 

Eine monistische Ontologie behauptet, dass es nur eine bestimmte Art oder Form von Seienden gibt, auf die das ganze Sein zurückführbar sei. Deswegen muss eine monistische Ontologie alle verschiedenen Seinsarten und Seinsweisen auf eine einzige Seinsart oder Seinsweise zurückführen bzw. reduzieren. So haben die Materialisten immer wieder aufs Neue versucht, das Lebendige, die Psyche und den Geist auf die elementaren Bestandteile der anorganischen Materie zurückzuführen. Die wissenschaftlichen Auffassungen über die letzten Bestandteile der Materie haben sich jedoch über die Jahrhunderte verändert und sie befinden sich auch heute noch in den modernen Naturwissenschaften in einem steten Wandel. Nach dem endgültigen Ende des Materialismus im 20. Jahrhundert haben dann die sog. Naturalisten versucht, zumindest die menschliche Psyche und den Geist auf das Lebendige oder Organische zurückzuführen. Der Materialismus ist jedoch nicht die einzige Art einer monistischen Ontologie, denn auch der Idealismus, wie z.B. der dogmatische Idealismus oder Spiritualismus von Bishop Berkeley, oder auch der Panpsychismus, wie z.B. die sensualistische Prozessphilosophie von Alfred North Whitehead, sind Spielarten einer monistischen Ontologie bzw. Metaphysik, allerdings einer Ontologie, die sowohl aufgrund der beachtlichen Erfolge der Naturwissenschaften und der kritischen Selbstreflexion der Philosophen nur noch sehr selten ernsthaft erwogen wird und kaum noch glaubhaft vertreten werden kann. Diese beiden Formen einer allgemeinen Ontologie oder auch Metaphysik stellen gewisser-maßen die Sache auf den Kopf, denn sie interpretieren gerade anders als die monistischen Ontologien des Materia-lismus und Naturalismus die niedrigeren Seinsarten und -weisen im Lichte der Begriffe, Kategorien oder Prinzipien dieser höheren Seinsarten.

 

So interpretieren der Vitalismus und der Panpsychismus die leblose Materie (Steine, Mineralien, Kristalle, etc.) im Lichte des Organischen oder des Psychischen, indem sie das ganze Universum als einen Organismus oder als etwas Psychisches zu verstehen versucht. Steine haben jedoch keine Empfindungen, denn dazu fehlen ihnen die neuronalen Reizleiter. Mineralien haben keine Wahrnehmungen von ihrer Umwelt, weil sie über keine Wahrnehmungsorgane verfügen. Kristalle können nicht sprechen und denken, weil sie keine Denk- und Sprachorgane haben. Das klingt selbstverständlich und es ist fast schon peinlich, es aussprechen zu müssen, aber in der Allgemeinen Ontologie wurden in philosophischen Gedankenexperimenten schon alle möglichen Modelle entworfen. Denkbar ist eben Vieles, aber Vieles von dem, was sich Menschen ausdenken, kann ganz einfach nicht wahr sein, weil es in sich widersprüchlich ist, oder aber ist nicht wahr, weil es nicht mit den Tatsachen übereinstimmt. Allgemeine Ontologie sollte jedoch kein spekulatives Produkt der menschlichen Phantasie sein, sondern wahrheitsgemäß sagen, woraus das Ganze des Seins besteht.

 

Ein anderes Beispiel für eine allgemeine Ontologie oder Metaphysik ist der Idealismus, für den es gar nichts Anderes gibt als das eigene Bewusstsein und den eigenen Geist es swie denn wie bei Bishop Berkeley noch das Bewusstsein bzw. den Geist Gottes. Idealisten nehmen sozusagen eine rein betrachtende Einstellung zur Welt und zu den Dingen, Ereignissen, Prozessen und Personen in der Welt ein und betrachten sie gewissermaßen als bloße Erscheinungen in ihrem Bewusstsein. Damit leugnen sie, dass den Dingen, Ereignissen, Prozessen und Personen in der Welt eine Realität zukommt, die von ihrem eigenen Bewusstsein (und dem Bewusstsein Gottes) unabhängig ist. Schon David Hume hatte erkennt, dass sie diese Einstellung oder Auffassung im Alltag nicht wirklich durchhalten können, sondern vielmehr in ihrem Alltagsleben am Common-Sense-Realismus des gesunden Menschenverstandes teilhaben. Kants theoretischer Philosophie wurde von einigen seiner frühen Gegner immer wieder ein solcher Idealismus unterstellt, aber aus seinen Prolegomena wissen wir, dass er sich missverstanden fühlte und heftig dagegen gewehrt hat. In der zeitgenössischen Kantforschung ist es jedoch nicht mehr umstritten, dass Kant sich zurecht von Berkeleys dogmatischem und Descartes‘ problematischen Idealismus abgegrenzt hatte. Trotzdem gibt es immer wieder unsachliche und polemische Versuche, Kants philosophische Position als einen Idealismus oder auch Subjektivismus zu kritisieren. (Siehe dazu: Was ist Erkenntnistheorie?).

 

Monistische und reduktionistische Ontologien neigen zu einer übertriebenen Simplifikation und zur mangelnden Differenziertheit und Komplexität in der Aufstellung von metaphysischen Hypothesen über das Ganze des Seins und sind von daher weder der komplexen Vielfalt des Seienden noch der teils offensichtlichen, teils verborgenen Vielschichtigkeit der Welt angemessen. Sie sind deswegen sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch fragwürdig geworden.

 

Die Probleme der allgemeinen Ontologie kann man nicht angemessen verstehen und behandeln, solange man noch nicht verstanden hat, was es im Grunde alles bedeutet, ein Mensch bzw. eine menschliche Person zu sein. Dazu muss man verstehen, was den seit unzähligen Generationen sich entwickelnden geschichtlichen und kulturellen Menschen von leblosen Steinen, unbewussten Pflanzen und sprachlosen Tieren unterscheidet. Deswegen ist eine allgemeine Ontologie oder Metaphysik, die nur von den ontologischen Annahmen und Voraussetzungen der Naturwissenschaften (Kosmologie, Geologie, Physik, Chemie und Biologie) ausgeht und nur von da aus versucht, das Ganze des Seins zu verstehen, eine Verfehlte und unzulängliche Metaphysik. Denn eine rein naturwissenschaftliche Weltanschauung und eine von ihr abgeleitete oder an sie angepasste Metaphysik klammert immer noch das komplexeste Wesen, das wir kennen, nämlich uns selbst, den Menschen. Der Mensch selbst kann jedoch nicht rein naturwissenschaftlich und ohne die Hilfe der ganzen Bandbreite der Sozial-, Kultur, Human- und Geisteswissenschaften und deswegen sicher auch nicht ohne die Philosophie angemessen verstanden werden kann.

 

Das größte Problem der Philosophie des 20. Jahrhunderts war vor allem diese Neigung zu einer bloß reduktionis-tischen Deutung der Situation des Menschen in der Welt im Banne der modernen Naturwissenschaften. Die Natur-wissenschaften können jedoch nur sehr beschränkt zu einem angemessenen Selbstverständnis des Menschen in der Welt beitragen. Dabei wurde übersehen, dass keine der großen und leitenden Naturwissenschaften (Physik, Chemie und Biologie) uns erklären können, was Logik und Mathematik sind, obwohl sie sich doch gerade rühmen, sich ihrer ständig zu bedienen, und eben dies für ein klares Zeichen von Wissenschaftlichkeit halten und sich deswegen gegenüber den Geisteswissenschaften und der Philosophie für überlegen halten. 

 

Aber auch noch so gute Physiker, die alle gängigen mathematischen und logischen Methoden ihres Faches glänzend beherrschen, können uns deswegen noch lange nicht angemessen erklären, was denn die mathematischen Mengen, Zahlen und Funktionen eigentlich sind, die sie tagtäglich anwenden und bei jedem gültigen Schritt in ihren Berech-nungen voraussetzen müssen. Auch wird es ihnen oft schwer fallen, zu erklären und verständlich zu machen, woher die starke epistemologische Evidenz stammt, die diese mathematischen und logischen Methoden anscheinend besitzen und den mehr oder weniger großen Erfolg ihrer Arbeit garantieren. Deswegen kann sich die Philosophie seit einigen Jahren und Jahrzehnten auch nicht mehr, wie einige hartnäckige Materialisten und Naturalisten, Positivisten und Szientisten fälschlich meinen, primär an den Naturwissenschaften orientieren, sondern Naturwissenschaftler müssten sich vielmehr an der Philosophie und der Humanpsychologie orientieren, wenn sie verstehen wollen, was sie eigentlich tagtäglich tun.

 

Wenn Physiker jedoch wirklich verstehen wollen, was sie selbst als Menschen von den einfachsten experimentellen Handgriffen in einem Labor bis hin zur hochkomplexen Konstruktion einer Atombombe eigentlich tun, dann müssen sie versuchen zu verstehen, was ihr eigene Tätigkeit als eine komplizierte Form menschlicher Praxis ausmacht und eben dadurch auch von dem an Instinkte gebundenen Verhalten anderer intelligenter Lebewesen unterscheidet. Zu Aufklärung dieser schwierigen Fragen nach ihrem eigenen Tun und Lassen sind alle Naturwissenschaftler nicht nur implizit oder explizit von bestimmten philosophischen Voraussetzungen abhängig, die sie bewusst oder unbewusst machen, sondern auch auf die logische, epistemologische und ontologische Aufklärung ihres eigenen Handelns durch und mit Hilfe philosophischen Denkens angewiesen.

 

Naturwissenschaftler, die sich noch niemals gefragt haben, was sie in logischer und mathematischer, epistemo-logischer und ontologischer Hinsicht berechtigt, irgendwelche komplizierten Theorien über die Dinge in der Natur aufzustellen, sind bestenfalls versierte Handwerker oder Techniker, die noch lange nicht wissen, was sie eigentlich tun. Die meisten großen Physiker des 20. Jahrhunderts, wie Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli oder Carl Friedrich von Weizsäcker waren jedoch zugleich Philosophen in Personalunion.

 

 

 

 

 

 

Die Unzulänglichkeit des Materialismus

 

Der Materialismus sagt im Grunde nichts anderes als: Alles Seiende ist Materie und ausschließlich materieller Art oder es lässt sich restlos auf die Bewegung von materiellen Teilchen zurückführen. Alles, was es gibt, ist nichts anderes als Materie und Bewegung von Materie. Die wichtigsten Repräsentanten waren in der Antike Demokrit und Lukrez, in der Neuzeit Thomas Hobbes und Julien Offray de la Mettrie sowie im 19. Jahrhundert Karl Marx und Ernst Haeckel. Der Materialismus war schon immer die eher gedankenarme und geistlose Weltanschauung derjenigen, deren Denken in den handgreiflichen Realitäten befangen war und sich nicht über sie erheben konnte.

 

Schon Platon hatte erkannt, dass manche Menschen nichts mit der Geometrie anfangen konnten, die man nur verstehen und reflektieren kann, wenn man logisches und mathematisches Denken nicht nur auf reale anschauliche Gegebenheiten, sondern auch auf ideale Gestalten der Einbildungskraft beziehen konnte. Obwohl es auch heute noch Materialisten gibt, wurde der Materialismus im 20. Jahrhundert von der Entwicklung der modernen Naturwissen-schaften selbst eingeholt und weitgehend überwunden. Nicht erst die moderne Biologie lässt den Materialismus veraltet erscheinen, sondern auch schon die Physik selbst als Paradigma einer exakten Naturwissenschaft. Die moderne Physik akzeptiert nämlich, dass es neben der Materie zumindest auch noch Energie und elektro-magnetische Felder, die Raum-Zeit und die Gravitation sowie vor allem das Licht gibt. Nicht nur die Philosophie, sondern auch die moderne Physik selbst hat also dem Materialismus den Garaus gemacht.

 

Außerdem taugt der Materialismus aus ähnlichen Gründen nur bedingt zum Verständnis der modernen Chemie und schon gar nicht zum Verständnis der modernen Biologie. Das komplexe Verhalten aller Lebewesen auf der Erde, die wir kennen, sowohl von Pflanzen als auch von einfachen Tieren und erst recht von höheren Säugetieren lassen sich nicht rein physikalisch und chemisch als bloße Bewegung von Partikeln von Materie erklären. Die großen Biologen des 19. Jahrhunderts Georg Mendel und Charles Darwin haben diesen naiven Vorstellungen der Materialisten das Ende bereitet. Die kleinsten Einheiten oder Elemente, die die Molekularbiologen interessieren und untersuchen, verstehen und erklären wollen, sind allesamt schon organischer Natur und also keine tote Materie. Die DNA enthält in ihren Markern sogar Informationen für organische Funktionen von komplexen Systemen.

 

Biologen untersuchen die komplexen Organe von Lebewesen, komplexe Lebewesen selbst oder die von verschiedenen Pflanzen- und Tierarten bevölkerten komplexen Ökosysteme, die sich aus der Interaktion und Interdependenz lebendiger Organismen zusammen setzen. Das komplexe Ganze einer einzelnen, künstlich isolierten Zelle, eines ganzen, künstlich isolierten Organs oder eines ganzen Organismus, der aus seiner Umwelt isoliert wurde, ist jedoch ontologisch immer mehr als die jeweils kleineren Bestandteile oder Teilsysteme, aus denen sie bestehen. Das Organische ist immer etwas Lebendiges und von daher viel Komplizierteres als die bloße leblose Materie, die nach seinem Verfall übrig bleibt. Weder die Genetik noch die Molekularbiologie, weder die Ökologie noch die Evolutionstheorie lassen sich mit ihren begrifflichen und ontologischen Voraussetzungen sowie mit ihren naturgesetzlichen Prinzipien auf Materie und Energie, d.h. die Grundkräfte und Gesetze der Physik und Chemie reduzieren. Schon alleine in der fundamentalen Molekular-biologie muss man, um Zellsysteme und ihr Verhalten zu verstehen und zu erklären, annehmen, dass in ihnen komplexe Informationen ausgetauscht werden. Die jeweiligen Botenstoffe brauchen dazu selbstverständlich materieller Träger und kausaler Mechanismen, aber sie transportieren funktionale Informationen, wie sie in der anorganischen Materie (z.B. in Steinen, Mineralien und Kristallen) nicht vorkommen. Zur bloßen Materie mit kausalen Wechselwirkungen müssen wir uns in der modernen Molekularbiologie nicht nur - wie schon in der Physik und Chemie - Energien und energetische Prozesse hinzudenken, sondern auch noch systemische Funktionen und funktionale Informationen. Der Materialismus einer angeblich möglichen Reduktion des Organischen, Psychischen und Geistigen auf bloße Kausalmechanismen zwischen materiellen Partikeln ist immer ein falsches Versprechen geblieben.

 

Der Materialismus war also der vergebliche Versuch, alles, was es überhaupt gibt, also auch das komplexe Lebendige der Pflanzen und Tiere, das Verhalten der Tiere und Menschen auf einfache Portionen von Materie in Raum und Zeit zurückzuführen: nämlich Belebtes auf Unbelebtes, Seelisches auf Seelenloses und Geist auf Geistloses. Man hoffte, dass sich alle komplexeren Formen des Seienden, nicht nur die wachsenden und belebten Pflanzen, sondern auch die empfindsamen und sich selbst bewegenden und fortpflanzenden Tiere und sogar die mit Sprache und Denken, Handeln und Vernunft, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung begabten Menschen sich auf diese Weise verstehen und erklären ließen. Eine fragwürdige Hoffnung, die sich seit dem 20. Jahrhundert endgültig zerschlagen hat.

 

Heute dürfen und müssen wir ganz im Gegenteil annehmen, dass man ein komplexeres und höheres Seiendes niemals ganz und restlos auf ein einfacheres und niedrigeres Seiendes zurückführen kann. Das Ganze eines komplexen Systems ist eben immer mehr als die Summe seiner einzelnen stofflichen Bestandteile. Das gilt nicht nur für natürliche Organismen, wie für einen Frosch, der im Labor getötet und in seine Elemente zerlegt wird, sondern analog auch für technische Artefakte, wie ein Computerterminal, das abgeschaltet, auseinander genommen und in seine Bauteile zerlegt wird. An die Stelle des kruden Materialismus, der angesichts der ganzen Entwicklung der modernen Naturwissenschaften hoffnungslos gescheitert war, trat dann zunächst der Vitalismus bzw. Organizismus.

 

 

 

 

 

 

Die Beschränktheit der Vitalismus

 

Der Vitalismus (manchmal auch: Organizismus oder Biologismus) besteht im Wesentlichen in der These: Alles Seiende ist Organisches oder Lebendiges bzw. ausschließlich organischer Art oder lässt sich restlos auf organische Phänomene, Ereignisse und Prozesse zurückführen. Alles, was es gibt, ist nichts anderes als Organisches oder Lebendiges. Damit hier kein Missverständnis aufkommt: als 'Vitalismus' bezeichnete man im 19. Jahrhundert auch die Auffassung, dass es eine irreduzible Lebenskraft in den Menschen und Tieren gibt, die in etwa dem Verständnis des CHI in der traditionellen asiatischen Heilkunde, wie z.B. in der Lehre der Akupunktur entspricht.

 

Die vitalistische These, dass alles Seiende organischer Natur ist, stimmt jedoch nicht in Bezug auf die leblose Materie und damit wohl für das weitaus Meiste, was es in diesem Universum gibt. Schon alleine in unserem Planetensystem ist die Erde die einzige große Ausnahme, weil es auf ihr nicht nur Leben und Lebendiges überhaupt, sondern auch intelligente Lebewesen gibt. Deswegen muss der Vitalismus die untere Seinsart bzw. weise der leblosen Materie aufwerten und ihr fälschlich organische Qualitäten und vitale Potentialitäten zuschreiben, die sie jedoch nicht besitzt. Man kann einen Stein oder ein Kristall, so lange gießen, wie man will; er beginnt dadurch nicht zu wachsen und zu gedeihen. Bei einem Samen oder einer vertrockneten Flechte kann das jedoch unter günstigen Bedingungen gelingen.

 

Der Vitalismus muss gelegentlich auch als Reduktionismus herhalten, wenn man z.B. die psychischen Qualitäten, instinktiven Potentialitäten und intelligenten Kompetenzen nicht nur von Tieren, sondern auch von Menschen als bloße Funktionen oder Mechanismen der Selbsterhaltung und des Überlebenswillens zu interpretieren versucht. Aber schon bei den höheren Säugetieren stößt man dabei trotz der Erkenntnisse der Darwin‘schen und der modernen Synthe-tischen Evolutionstheorie an gewisse Grenzen der Erklärbarkeit von einigen überschüssigen Verhaltensmustern, die keine direkte Selbsterhaltungsfunktion haben, sondern relativ instinktfreies Probeverhalten sind, obwohl es bei den Tieren im Großen und Ganzen weitgehend zutreffend ist.

 

Beim Menschen ist es jedoch ab einer gewissen Entwicklungsstufe erst recht verkehrt, alles Verhalten und Handeln anhand von biologistischen und vitalistischen Erklärungsschemata auf das instinktive Streben nach Selbsterhaltung und Überlebenswillen reduzieren zu wollen. Man vergisst dabei nicht nur den relativ freien Willen des Menschen, sondern auch seine relative Instinktoffenheit. Relativ frei ist der menschliche Wille, weil er immer schon an zuvor erworbene Fähigkeiten, an die emotionalen, motivationalen und kognitiven Zustände der menschlichen Psyche und an die konkrete Situation, in der sich jemand befindet, der gerade etwas will, gebunden ist und also nicht absolut frei sein kann. Vor allem aber übersieht man dabei seine angeborene Sprachfähigkeit als der höherstufigen Fähigkeit, komplexe semantische Kriterien und grammatikalische Regeln zu erlernen und zu beherrschen und dadurch zumindest unter günstigen Lernbedingungen eine Offenheit für das Geistige als einem komplexen und hierarchischen System von Idealen und Prinzipien, Normen und Werten zu verstehen zu lernen.

 

Der weltanschauliche Vitalismus ist im Wesentlichen ein Nebenprodukt der neuzeitlichen Biologie. Der bekannteste Vitalist des 20. Jahrhunderts war Henri Bergson. Auch seine vitalistische Philosophie enthält eine starke Tendenz zur Reduktion des Geistes. Überspitzt könnte man sagen, dass er ein "geköpfter Aristoteliker" ist, der den Menschen zum einem animal emotionale ohne Geist macht, weil er die geistige Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis zeitlos wahrer Propositionen und evidenter Prinzipien leugnet. Er mag dem Menschen einen gewissen Verstand zubilligen, aber eigentlich keinen Geist. Anders als sein Antipode Edmund Husserl, der maßgebende Kritiker des Psychologismus - vor allem in der Logik und Mathematik - zu Beginn des 20. Jahrhunderts, kennt Bergson kein geistiges Erfassen (Noesis) von apriorischen Gedankeninhalten (Noema). Für ihn sind Gedankeninhalte wie für alle Psychologisten nur Epiphänomene oder bloße Funktionen in einer leibgebundenen und durch vitale Funktionen gesteuerten Psyche.

 

 

 

 

 

Die Stärken und Schwächen des Naturalismus

 

Der Naturalismus besteht in der metaphysischen Auffassung: Alles Seiende ist Natur und ausschließlich natürlicher Art oder lässt sich restlos auf natürliche Phänomene, Gegenstände, Ereignisse und Prozesse zurückführen. Alles, was es gibt, ist nichts anderes als Natur. Auf diese Weise hat bereits 1911 Edmund Husserl den Naturalismus in seiner programmatischen Schrift Philosophie als strenge Wissenschaft inhaltlich bestimmt.

 

Der Naturalismus scheint prima facie den Grundlagen der modernen Naturwissenschaften adäquater zu sein als der Materialismus und der Vitalismus. Er wird nicht nur von vielen Naturwissenschaftlern als überzeugende Weltanschau-ung oder wissenschaftliche Philosophie akzeptiert. Das hat vor allem mit den beeindruckenden Erfolgen der modernen Wissenschaften und Technologien zu tun. Dabei vergisst man jedoch oft, dass es im 20. Jahrhundert auch die Wissen-schaften und Technologien waren, die in Politik und Militär, Wissenschaft und Technik dazu missbraucht wurden, Millionen von Menschen zu vernichten und die ganze Menschheit mit ABC-Waffen zu gefährden. Aufgeklärte Zeit-genossen sollten daher nüchtern bleiben und sich ein kritisches Verständnis vom offensichtlichen Nutzen und Nachteil der Naturwissenschaften in der Neuzeit und Moderne bewahren. Der unreflektierte Fortschrittsglaube an die Macht der Wissenschaft und Technik ist eher eine Sache des 19. und 20. Jahrhunderts als des 21. Jahrhunderts.

 

Die meisten Naturalisten neigen zwar heute nicht mehr zum Vitalismus, wohl aber immer noch zu einem gewissen Biologismus, sei es auch nur in Abgrenzung zu dem vor allem in den USA verbreiteten religiösen Fundamentalismus der Kreationisten, die die biblische Schöpfungslehre allzu wörtlich nehmen und als eine wissenschaftliche Theorie bzw. als einen Rivalen zur Evolutionstheorie missverstehen. Doch der Naturalismus wird aufgrund einer solchen Gegnerschaft kaum überzeugender. Gleichwohl ist er gerade aufgrund seiner inhärenten Vagheit nur schwer anzufechten und zu widerlegen. Denn die wichtigste Frage ist: Was heißt eigentlich "Natur" bzw. "natürlich"? Gleichwohl wird man dem Naturalismus zubilligen müssen, dass er zunächst angesichts der Grundlagen der Naturwissenschaften prima facie überzeugender ist als der Materialismus und der Vitalismus. Das scheint seine rhetorische Stärke und sein diskursiver Vorteil zu sein. Deswegen profitiert er ungemein von der allgemeinen Verbreitung und den Erfolgen von Naturwissen-schaft und Technik, von der allgemein verbreiteten Wissenschaftsgläubigkeit der Menschen sowie vom wissenschaftlich geprägten Weltbild in der Moderne.

 

Vorläufer der modernen Naturalisten in der Antike waren vor allem die Vorsokratiker, die eine einfache naturphilo-sophische Spekulation betrieben haben, dann aber von Sokrates, Platon und Aristoteles überwunden wurden. Die Metaphysik des ganzen Mittelalters in den religiösen Traditionen des Judentums, Christentums und Islams war jedoch niemals naturalistisch. Denn die Menschen haben in den vorwissenschaftlichen Weltbildern dieser Religionen meistens zwischen Erde und Himmel, zwischen dem menschlichen Leben und den göttlichen Dasein, zwischen Leib und Seele zwischen dem endlichen Geist des Menschen und dem ewigen Geist Gottes unterschieden. Erst im 18. Jahrhundert hat der Naturalismus über den Empirismus der Aufklärung an Boden gewonnen, wie z.B. bei David Hume, Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond D'Alembert, Paul Thiry D'Holbach und Claude Adrien Helvetius. Die wichtigsten und einfluss-reichsten philosophischen Naturalisten des 20. Jahrhunderts nach Sigmund Freud waren Wilfrid Sellars und Willard V. O. Quine, Richard Rorty und Daniel Dennett, David Armstrong und David Lewis.

 

Zum Naturalismus neigen zwar eher Atheisten und Agnostiker (siehe dazu: Religionsphilosophie), die sich mit starken Argumenten gegen Theisten und Fideisten ausrüsten wollen und die offensichtlichen Erfolge der Naturwissenschaften gegen manche Auffassungen in den Religionen und Konfessionen ausspielen wollen. Das kommt vor allem daher, dass Atheisten und Agnostiker, Materialisten und Naturalisten meinen, dass der Glaube an Gott und der Glaube an die moderne Wissenschaft grundsätzlich nicht miteinander vereinbar wären. Dies ist jedoch genauso fragwürdig, wie wenn Neurowissenschaftler vorschnell behaupten, dass das moderne Strafrecht nicht mit den methodischen Voraus-setzungen und empirischen Entdeckungen ihrer Wissenschaft vereinbar seien, weil sie meinen bereits nachgewiesen zu haben, dass es keinen freien Willen gibt. Strafrechtler tun jedoch gut daran, bis zum endgültigen Erweis des Gegenteils von der Möglichkeit eines freien Willens auszugehen, bei allen Angeklagten die Unschuldsvermutung gelten zu lassen und weiterhin an den tradierten normativen Rechtsprinzipien festzuhalten, dass es keine Strafe ohne Schuld geben darf (nulla poena sine culpa) und keine Strafe ohne das dazu passende Gesetz (nulla culpa sine lege). (siehe dazu: Theoretische Philosophie: - Diese unmittelbar einleuchtenden Rechtsprinzipien sind übrigens synthetisch apriori und können von daher weder empirisch nachgewiesen werden noch analytisch aus dem Begriff der Schuld gewonnen werden!) Es sind oftmals nicht die Wissenschaften selbst, die mit Glaube, Moral und Recht in Konflikte geraten, sondern nur bestimmte Interpretation von wissenschaftlichen Theorien, durchgeführten Experimenten und ihren empirischen Befunden. Nicht selten sind es weltanschauliche Folgerungen aus reduktionistischen Missverständnissen von den Methoden der Wissen-schaften oder ein unkritischer Glaube an die Macht der Wissenschaften, der zu einer Weltanschauung oder gar zu einem Religionsersatz geworden ist. 

 

Der Naturalismus ist zwar auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch recht verbreitet. Aber er muss sich gegenwärtig anders als noch im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend mit der kognitiven Psychologie und der Psycho-linguistik sowie mit der Soziologie und den Kulturwissenschaften auseinandersetzen. Die große Verbreitung des Naturalismus stammt vor allem aus den USA und Australien, also aus Einwanderungskulturen mit einem eklatanten Traditionsbruch, wo die unkritische Bewunderung für Wissenschaft und Technik schon immer größer gewesen ist als im älteren Europa. An den Anfängen der Amerikanischen Demokratie standen nicht nur die Gründerväter der Federalists und der Quäker, sondern auch der große Einfluß des Empirismus von John Locke und Thomas Paine, David Hume und Adam Smith. Ihnen folgten zwar im 20. Jahrhundert die amerikanischen Pragmatisten (William James, F.C.S. Schiller, John Dewey) und Transzendentalisten (Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und Margaret Fuller), aber nur die Pragmatisten genießen bis heute noch großes Ansehen, während die Transzendentalisten weitgehend in Vergessenheit geraten sind.

 

Das hat dazu geführt, dass dort bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Kants Philosophie mit ihren starken Argumenten gegen den Empirismus und Naturalismus kaum Gehör und Zustimmung fanden, obwohl sie offensichtlich Fragen zu beantworten versuchte, die schon Platon in seinen beiden Dialogen Theätet und Menon aufgeworfen hatte. (Siehe dazu: Was ist Erkenntnistheorie?) Geändert hat sich die mangelnde Beachtung Kants eigentlich erst mit dem erstaunlichen Erfolg der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, der sich gegen den sprachanalytischen Mainstream in der Philo-sophie weitgehend an Kant orientiert hat und teilweise auch Hegels Konzeption des objektiven Geistes übernommen hat. Nicht nur Kants Kritik an Humes skeptischen Empirismus und Naturalismus, sondern auch Hegels Konzeption des objektiven Geistes wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts für den Naturalismus zum Problem.

 

Zur Illustration ein einfaches und allgemein verständliches Beispiel: Wenn jemand für seinen Computer ein neues Programm kauft, dann kauft er nicht nur die Hardware, also z.B. eine CD aus Kunststoff, die als physischer Träger von Informationen dient, sondern er kauft auch eine bestimmte Software, also bestimmte Informationsstrukturen. Diese sind in einem alltäglichen Sinn durchaus etwas Reales und sie lassen sich auf verschiedene Arten von Hardware übertragen. Ihre spezifischen Qualitäten werden nicht vom jeweiligen physischen Träger bestimmt, sondern sind durchaus etwas Eigenständiges. Warum sollte jemand auch relativ viel Geld für die Software ausgeben, wenn sie keine Realität hätte und sie nicht sogar das ist, was man haben und nutzen möchte, während die austauschbare Hardware des physischen Trägers nur ein Mittel zum Zweck des Konservierens und des Transportes ist?

 

Ähnlich verhält es auch mit dem Geld, mit dem jemand für die Hardware und die Software bezahlt. Auch bei einem Geldschein kommt es eigentlich nicht auf das physische Stück Papier an, sondern auf den Geldwert an, der durch soziale und semantische Konventionen, ökonomische Infrastrukturen und staatliche Institutionen festgelegt wird. Ein bestimmter Geldwert kann auch auf dem Chip einer Geldkarte aus Kunststoff gespeichert werden oder auch in Münzen ausgezahlt werden. Das Papier des Geldes als Träger für die Information des Geldwertes ist also gegen andere materielle Träger dieser Information austauschbar. Damit ist natürlich noch lange nicht beantwortet, was Geld als Tauschmittel oder auch als Spekulationsobjekt eigentlich ist. Klar ist nur, dass es ähnlich wie die Software etwas Anderes ist als sein physischer bzw. materieller Träger.

 

Die Software, die wir zum Informationsaustausch benutzen, und das Geld, das uns als ein Tauschmittel oder Spekulationsobjekt dient, kann unter bestimmten Umständen auch eine moralische und rechtliche Bedeutung bekommen, wenn man deren konventionelle Realität nicht angemessen versteht und beachtet. Jedenfalls kann man auch nicht sagen, dass es sich um bloße Illusionen handelt. Soziale Konventionen sind keine Illusionen, aber man kann sich Illusionen über soziale Konventionen machen. Mit solchen sozialen Konventionen stehen dann auch moralische, rechtliche und politische Institutionen in Verbindung, die wir naturwissenschaftlich weder verstehen noch erklären können. Es gibt also zumindest solche kulturelle Objekte wie soziale Konventionen und Institutionen, die rein natur-wissenschaftlich nicht zu verstehen sind, weder auf der Basis der modernen Physik und Chemie noch auf der Basis der modernen Biologie. Auf diese ontologischen Tatsachen hat vor allem John Searle hingewiesen.

 

Das Gleiche gilt für Kunstwerke, wie z.B. für ein Gedicht, ein Gemälde oder eine Sinfonie. Keines dieser Kunstwerke lässt sich bloß als physikalisches Objekt oder als ein Aggregat chemischer Substanzen und Prozesse verstehen, d.h. als eine Portion von Druckerschwärze, als eine Ansammlung von Molekülen auf einer Leinwand oder als eine Ansammlung von Schallwellen. Solche Kunstwerke sind Träger von komplexen semiotischen und semantischen Zeichenstrukturen, die in einem alltäglichen Sinn ebenfalls real sind und die in der vom Menschen unberührten Natur einfach nicht vorkommen und auch von relativ intelligenten Tieren, wie z.B. von Schimpansen oder Bonobos weder geschaffen noch reproduziert, weder verstanden noch interpretiert, geschweige denn angemessen ethisch oder ästhetisch bewertet werden können.

 

Komplexe Regelsysteme, wie sie allen menschlichen Sprachen der Welt zugrunde liegen, können die der biologischen Gattung Menschen phylogenetisch und genetisch nahe stehenden Schimpansen und Bonobos einfach nicht bewältigen. Das hat vor allem schon alleine mit der biologischen Tatsache zu tun, dass ihnen die zum Spracherwerb notwendigen organischen Sprachwerkzeuge und Gehirnstrukturen fehlen, die für den menschlichen Spracherwerb notwendig sind. Deswegen können sie auch weder durch sprachliche Konventionen gesteuerte noch durch bewusste Vereinbarungen etablierte Regelsysteme für bewusste Handlungen, wie z.B. die Spielregeln für Brettspiele (Schach, Mühle, Dame, etc.) verstehen. Hierzu fehlt ihnen nicht nur die Fähigkeit, die sprachliche Beschreibung der Spielregeln zu lernen, weil sie keine komplexe semantische Bedeutungen verstehen, keinen grammatikalischen Regeln folgen können und keine Urteile mit einem propositionalen Gehalt fällen können, sondern dazu fehlt ihnen auch das Abstraktionsvermögen, um zwei gleichen Figuren trotz ihrer farblichen Differenz alleine aufgrund ihrer gleichen Formen bestimmten Bewegungs-regeln und funktionalen Rollen im System der Spielregeln und des Spielgeschehens, das diesen Spielregeln folgen soll, zuordnen zu können.

 

Der Hinweis auf die Realität von kulturellen Objekten, wie z.B. von Software, Geld und Kunstwerken sind ein starkes Argument gegen den Naturalismus, denn er kann sich nicht mehr auf die reduktionistische These berufen, dass alle wesentlichen Elemente der menschlichen Kultur, die auf sprachlicher Kommunikation beruhen oder doch wenigstens darauf angewiesen sind, nichts Anderes als ein Stück Natur sind, nur weil sie einmal irgendwie aus der natürlichen Evolution hervorgegangen sein müssen. Der Naturalismus scheitert also nicht nur an der ontologischen Tatsache, dass komplexe Regelsysteme und das bewusste Befolgen von Regeln selbst unter den intelligentesten Tieren in der irdischen Natur nun einmal nicht vorkommen, denn sie setzen allesamt das Sprach- und Denkvermögen von Menschen oder anderen mit Regelverstehen begabten intelligente Lebewesen voraus.

 

Der Naturalismus scheitert auch an dem epistemologischen Problem, nicht auf der Basis der Naturwissenschaften alleine erklären und verstehen zu können, was es überhaupt heißt, bewusst einer Regel in einem komplexen Regel-system zu folgen. Nicht nur alle Sozial- und Kulturwissenschaften setzen solche kulturellen Objekte voraus, die man nicht rein naturwissenschaftlich erklären und verstehen kann. Auch die praktischen Wissenschaften der Medizin und Psychiatrie sowie die Jurisprudenz und Ökonomie basieren unter anderem auch auf dem Verstehen und Erklären von kulturellen Objekten wie semantischen Bedeutungen und grammatikalischen Regeln, Kunstwerken aller Art, Geld-werten, Informationsstrukturen, etc.

 

Aber nicht nur Kants und Hegels Philosophie, sondern auch Brentanos Konzeption der Intentionalität als Merkmal der psychischen Phänomene wurde zuerst nur von wenigen Philosophen, wie z.B. von Castañeda, Chisholm und Searle aufgenommen. Es bedurfte in unserer wissenschaftsgläubigen Kultur erst der Wende vom Behaviorismus und Funktionalismus zum Kognitivismus und der Phänomenologie in der Humanpsychologie, bis sich die Erkenntnis durchzusetzen konnte, dass es irreduzible psychische Phänomene wie die Intentionalität  im Sinne der Bezogenheit auf einen geistigen Gehalt oder auf ein Objekt, Sinnesqualitäten wie Freude oder Trauer, Lust oder Schmerz, Liebe oder Hass (Qualia), Gestaltwahrnehmung im Sinne der Wahrnehmung von etwas als etwas und Informationsgehalte wie bivalente Propositionen gibt, die sich aus prinzipiellen Gründen weder auf bloße Verhaltensdispositionen noch auf Funktionen von Prozessen im Gehirn und Nervensystem von Menschen reduzieren lassen.

 

Gehirnprozesse beziehen sich nicht wie Gedanken oder Aussagen auf Gegenstände, sie fühlen sich nicht auf eine bestimmte Weise an, haben keine Farbe und Intensität, werden nicht als etwas Bestimmtes wahrgenommen und sind weder wahr oder falsch. Das menschliche Bewusstsein und die menschliche Kognition mit ihren zahlreichen psychischen Phänomenen lässt sich deswegen in seinen wesentlichen Eigenschaften nicht auf Materielles oder Behaviorales, rein Biologisches oder Neurowissenschaftliches reduzieren. Das schließt nicht aus, dass es Prozesse in Gehirn und Nervensystem gibt, die als physische Trägerstrukturen zumindest eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für die psychische Realisierung des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Kognition darstellen. Aber Dependenz ist nicht dasselbe wie Identität! Gehirnprozesse sind an und für sich keine psychischen Phänomene, wie z.B. keine Gedanken, keine Urteile, keine Überlegungen, keine Folgerungen, keine Empfindungen, keine Gefühle, keine Wahrnehmungsgehalte, keine Affekte, keine Stimmungen, etc.

 

Husserls Kritik des Psychologismus in der Logik - und im Übrigen auch des Naturalismus in der Philosophie - wurde zumindest in der analytischen Philosophie der Logik sehr zögerlich aufgenommen und man Verstand in der empiris-tisch-naturalistischen Tradition formale Logik als eine Form konventionalistischer Logistik auf der konstruierten Basis verschiedener Axiomensysteme ohne eine erkenntnistheoretische oder transzendentalphilosophische Reflexion auf die notwendigen Grundprinzipien des Logischen überhaupt. (siehe dazu: Was ist Logik?)

 

Deswegen entwickelte sich auch kaum ein Gespür dafür, dass es zumindest in der Logik und Mathematik apriorische Prinzipien des gültigen Denkens und Schließens gibt, die nicht von uns Menschen willkürlich konstruiert oder frei erfunden werden, sondern die notwendige Bedingungen der Möglichkeit von logischen und mathematischen Denken und Schließen sind, d.h. die wir anwenden müssen, um überhaupt logisch denken und schließen und mathematisch rechnen und beweisen zu können. Damit eröffnet sich dann überhaupt erst das Bewusstsein von gewissen eigen-ständigen und kognitiv erfassbaren Strukturen des Geistes, die weder bloß stoffliche oder materielle Zeichen sind, wie z.B. arabische oder römische Ziffern für die in beiden verschiedenen Zeichensystemen gemeinten Zahlen, noch psychische Erlebnisse oder Gedanken sind, wie das, was uns beim Lesen als Lauten (gestalthafte Serien von Vokalen und Konsonanten) „durch den Kopf geht“.

 

Es gibt also, wie vor allem Gottlob Frege, Bertrand Russell und Karl Popper gegen die naturalistischen Philosophen im Gefolge von Quine und Sellars behauptet haben, noch etwas anderes Drittes, das weder bloß Materielles, Physisches oder Natürliches (also auch kein Prozess im Gehirn und Nervensystem) noch bloß ein psychisches Phänomen des Wahrnehmens, Erlebens oder Denkens im menschlichen Bewusstsein ist (obwohl es dort beim Denken und Urteilen, Rechnen und Schließen wahrgenommen werden kann), sondern im Prinzip auch von anderen intelligenten Wesen mit einer anderen physischen und psychischen Struktur erfasst werden könnte. Es handelt sich um die Phänomene des Geistes jenseits vom objektivierbaren physischen Körper und vom subjektiv erlebtem Leib, aber auch jenseits von den intentionalen psychischen Phänomenen. Letzteres bedeutet natürlich nicht, dass geistige Phänomene nicht immer auch auf irgendeinen Träger in uns Menschen mit kognitiven Fähigkeiten und außerhalb von uns Menschen auf Pergament-rollen, Papierseiten, Tafeln oder Bildschirmen angewiesen wären. Sie sind zwar notwendigerweise immer schon von irgendwelchen Trägern abhängig, aber sie werden nicht von ihnen strukturell determiniert.

 

Wie bereits festgestellt: Dependenz ist nicht dasselbe wie Identität. Jede auch noch so einfache Rechenoperation wie ‚8 + 4 = 12‘ (mit arabischen Ziffern) kann ich sowohl der Schreibweise nach ändern, also z.B. auch (mit römischen Ziffern) als ‚VIII + IV = XII‘ oder mit einfachen Zahlenstrichen als ‚||||| ||| & |||| > ||||| ||||| ||‘ schreiben (oder, wenn man es kann, auch mit chinesischen oder anderen Zahlzeichen) und ich kann jede dieser Zeichenfolgen mit derselben Bedeutung der Zeichen für bestimmte Mengen und Operatoren auf Pergament oder auf Papier oder auf eine Tafel oder auf einen Bildschirm schreiben. Der Sinn einer solchen Zeichenfolge bleibt davon unabhängig, weil er sich nicht mit einem Trägermedium ändert. In diesem Sinne ist er nichts Materielles wie die jeweiligen Trägermedien.

 

Aber man muss deswegen nicht wie Bernard Bolzano postulieren, dass solche platonischen Entitäten (z.B. Mengen, Zahlen, Funktionen, etc.) auch unabhängig vom menschlichen Bewusstsein im Geist Gottes existieren und deswegen angeblich schon vor der Entstehung der Menschheit existiert haben und nach dem Ende der Menschheit weiter existieren. Wie in der Physik und Naturphilosophie, so braucht man auch weder in der Mathematik noch in der Philosophie der Mathematik einen solchen Alibi-Gott als Lückenbüßer für das (noch) nicht Erklärbare oder (noch) nicht Verstandene einzuführen. Denn hier dient ein spekulative Gedanke der Religionsphilosophie der Erklärung eines ontologischen Sachverhaltes, der sicher etwas Verblüffendes hat, aber auf keine solche theologische Erklärung angewiesen ist.

 

Allerdings denke ich schon, dass extra-terrestrische intelligente Lebewesen in ihren andersartigen Sprachen und mit ihren anders strukturierten Gehirnen bei solchen Rechnungen auf kein anderes Ergebnis kommen könnten. Warum das so ist, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden, denn das gehört dann endgültig in das schwierige Gebiet der Philosophie der (modernen) Mathematik, das sich zwar auch mit logischen, semantischen und semiotischen, epistemologischen und ontologischen Fragen befassen muss, aber dies nicht kann ohne eine ganze Reihe von schwierigen Beispielen aus der einfachen und höheren Mathematik heranzuziehen, die nicht mehr für alle leicht verständlich nachvollziehbar sind.

 

So wie der Materialismus bereits am ganz einfachen organischen Leben scheitert, das er weder erklären noch verstehen kann, und so wie der Vitalismus bereits an der instinktiven Intelligenz der Tiere scheitert, die er ebenfalls weder ganz erklären und verstehen kann, so scheitert der Naturalismus zwar nicht an der instinktiven Intelligenz der Tiere, der Verhaltensbiologie, der Evolutionstheorie und der Genetik, wohl aber an der intentionalen und personalen sprachlichen Intelligenz des Menschen und all der kulturellen Objekte, Kunstwerke, Regelsysteme, Normen und Institutionen, die auf der Basis seiner Sprachbegabung erfunden oder entdeckt hat. Die sprachliche Intelligenz des Menschen basiert nämlich nicht nur auf natürlichen Phänomenen und ist nicht nur als ein Stück biologischer Natur verstehbar. Sie ist immer schon ein intentionales und geistiges Phänomen, das auf Ideale und Prinzipien, Normen und Werte ausgerichtet ist, die in der pflanzlichen und tierischen Natur einfach nicht vorkommen. Außerdem ist sie immer auch ein soziales und kulturelles Phänomen.

 

Aber der Naturalismus scheitert auch nicht nur an den Sozial- und Kulturwissenschaften, mit deren Hilfe wir alle soziokulturellen Objekte verstehen und erklären, sondern vor allem an der Tatsache, dass es zumindest in den beiden Formalwissenschaften der Logik und Mathematik dann auch noch geistige Objekte und Phänomene gibt, die die Naturwissenschaften und die praktischen Wissenschaften immer schon bei ihrer Arbeit voraussetzen, verwenden und anwenden, die sie jedoch mit ihren eigenen beschränkten Ontologien und Methoden weder verstehen noch erklären können.

 

Da Logik und Mathematik in allen Naturwissenschaften vorausgesetzt werden müssen, sie aber nicht erklären können, denn es gibt keine physikalische, chemische oder biologische Erklärung der geistigen Inhalte der Logik und Mathematik, können die Naturwissenschaften niemals vollständig die Welt beschreiben und erklären. Deswegen ist der Naturalismus ein falsches Weltbild bzw. eine irreführende Ideologie.

 

Platon hatte also ganz Recht, als er auf das besondere Phänomen der Mathematik und insbesondere der Geometrie aufmerksam wurde. Aber er versuchte, das prima facie Unerklärliche unter Zuhilfenahme von esoterischen bzw. mytho-logischen Annahmen wie der Wiedererinnerung an ein vorgeburtliches Leben und ähnlichen Ad-Hoc-Hypothesen zu erklären. Am Phänomen der Strukturen des Geistes scheiterte schon die ganze Naturspekulation der Vorsokratiker einschließlich der Logos-Reflexionen des "dunklen Heraklit".

 

Einer tragfähigen Lösung des Rätsels der mathematischen Erkenntnis sollte erst einige Jahrhunderte später Immanuel Kant näher kommen. Auch nach Kant mussten noch im 20. Jahrhundert die beiden Logiker Russell und Whitehead erkennen, dass Kant wohl doch recht gehabt hatte, als er den rein analytischen Charakter der Mathematik infrage gestellt und den synthetisch-apriorischen Charakter der mathematischen Prinzipien behauptet hatte. Nach Russells Entdeckung der nach ihm benannten Paradoxe und nach dem Scheitern des von Freges Begriffsschrift inspirierten logizistischen Programms einer Reduktion der Mathematik auf die formale Logik, das in den berühmten Principia Mathematica schon alleine bei der Analysis scheiterte und deswegen bei der Geometrie erst gar nicht mehr weiter versucht wurde, brach dann die ganze programmatische Hoffnung der analytischen Philosophie des logischen Empirismus zusammen, Logik, Mathematik und die ganze Philosophie als bloße logisch-semantische Analyse betreiben und verstehen zu können.

 

Kant hatte deswegen auch in seiner praktischen Philosophie die richtigen Fragen gestellt, als er untersuchte, wie es möglich ist, dass die (reine) praktische Vernunft des Menschen in der Lage ist, jenseits der bloßen Zweckrationalität sittlichen Gründen zu folgen, die sich aus dem Verstehen von sittlichen Normen als apriorischer Handlungsregeln ergeben und nicht durch die Bezugnahme auf sinnlich gegebene Objekte im zweckrationalen Zusammenhang der geschickten und klugen Verfolgung eigener menschlicher Interessen bestimmt werden. Damit hatte Kant intuitiv angenommen, dass das apriorische Reich des Geistes (mundus intelligibilis) wohl nicht auf die Prinzipien der Logik und Mathematik beschränkt ist, sondern vermutlich auch die Prinzipien des Moralischen und des Rechtlichen umfasst. Kant hatte diese neue Linie vor allem gegen den skeptischen Empiristen und Naturalisten David Hume verfolgt, weil er der scharfsinnigste Philosoph unter den damals einflussreichen Aufklärungsphilosophen gewesen ist. Leider krankt jedoch fast die ganze analytische Philosophie bzw. der logische Empirismus bis heute an diesem empiristischen und natura-listischen Erbe.

 

Überall, wo es um sittliche Ideale, Prinzipien, Normen und Werte geht, bleibt der Naturalismus auf der Strecke. Er kann anhand seiner auf die Entitäten der Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, etc.) beschränkten onto-logischen Annahmen weder verstehen noch erklären, was unser kulturelles und soziales Zusammenleben ausmacht, er kann weiterhin weder das logische noch das quantifizierende Denken in seiner universalen Anwendbarkeit auf alle möglichen Gegenstände nicht erklären und er kann nicht für das aufkommen, was für uns Menschen und unser gemeinsames Leben das Wichtigste auf der ganzen Welt ist: das sittlich Rechte und Gute und alle die anderen Ideale, Prinzipien, Normen und Werte, die zusammen das Ideal der Humanität ausmachen.

 

 

 

 

Spiritualismus, Panpsychismus und ontologischer Idealismus

 

Alle reduktionistischen Ontologien wie der Materialismus, der Vitalismus und der Naturalismus waren gegenüber der nächst höheren "Stufe des Seienden" reduktionistisch und scheiterten eben an der allgemeinen Unmöglichkeit, die jeweils „höhere Form des Seienden“ alleine mit den einfacheren Begriffen, ontologischen Annahmen und epistemologischen Methoden der „niedrigeren Form des Seienden“ zu erklären. Was außerhalb ihres Verständnisses blieb war jedoch genau das, was den Menschen in seiner Lebenswelt und seine menschliche Personalität auszeichnet: (1.) die soziale Realität der kulturellen Objekte, (2.) die auf intentionaler Sprache und Denken fundierende mensch-liche Intelligenz und Personalität sowie (3.) die existenziell abhängige, aber strukturell eigenständige Realität geistiger Strukturen, die unter den irdischen Realbedingungen nur der Mensch mit seiner sprachlichen Intelligenz erfassen und verstehen kann. Insbesondere die reduktionistischen Naturalisten meinten, alles mit Hilfe der Natur-wissenschaften erklären und verstehen zu können, aber damit verstanden sie weder sich selbst als Menschen unter anderen Menschen noch ihre eigene Kultur, in der sie leben, wirken und sterben, geschweige denn andere und fremde Kulturen.

 

Reduktion ist zweifelsohne eine wichtige und erfolgreiche Methode der Naturwissenschaften, die dem Verstehen und der Erklärung des komplexen Verhaltens natürlicher Gegenstände, Ereignisse und Prozesse anhand der Analyse und Beobachtung von einfacheren Elementen bzw. Teilen eines Ganzen dient. Dort hat sie ihren berechtigten methodischen Ort und dort treibt sie die detailliertere Erkenntnis der Natur voran. Gleichwohl taugt Reduktion niemals zum Verständ-nis eines größeren Ganzen in den jeweils größeren Zusammenhängen, wie das jedoch für das alltägliche Denken, Fühlen und Handeln des Menschen in seiner Lebenswelt notwendig ist. Diese komplexe Lebenswelt mit ihren vielfäl-tigen und vielschichtigen Situationen und werthaltigen Aspekten ist jedoch die Welt, in der wir planen, urteilen, ent-scheiden und handeln.

 

Die reduktionistischen Ontologien sind deswegen als ontologische Voraussetzungen der alltäglichen Weltanschauung des gesunden Menschenverstandes und der menschlichen Praxis in Ethik, Recht und Politik keineswegs harmlos. Sie können nämlich bei einer fehlenden Urteilskraft über ihren legitimen, aber begrenzten Ort und bei einer ideologischen Ausdehnung als einer globalen Weltanschauung zu inhumanen Konsequenzen führen, wenn sie z.B. die Ideale, Prinzi-pien, Normen und Werte der Sittlichkeit auf religiöse, ästhetische oder utilitäre Wertpräferenzen oder sogar auf sozio-logische, ökonomische oder politische Sachverhalte zu reduzieren versuchen. In diesem Moment wird das Sittliche als ein spezifisches und charakteristisches Moment der condition humaine gar nicht mehr adäquat erfasst.

 

Nicht die Methode der Reduktion in den Wissenschaften, wohl aber der Reduktionismus der Ideologien und Welt-anschauungen, der eine durchaus zweckmäßige und gültige wissenschaftliche Methode fälschlich zu einer Weltan-schauung verallgemeinert, erzeugt ein falsches Bewusstsein von der komplexen Realität unserer irdischen Lebenswelt. Wenn man wissen will, wie die Welt als Ganzes beschaffen ist, sollte man nur dann zu einem Physiker und Astronomen gehen, wenn man sich ausschließlich für das Weltall in seiner schier unendlichen Weite ohne eine Berücksichtigung des organischen Lebendigen und des intelligenten Lebens von Personen interessiert. Wenn man jedoch unsere irdische Lebenswelt mit ihren natürlichen, sozialen und kulturellen Phänomenen und vor allem die Situation des Menschen in der Welt verstehen will, dann sollte man überhaupt nicht nur zu Naturwissenschaftlern gehen, weil Physiker, Chemiker und Biologen ihren reduktionistischen Naturalismus zu extrapolieren neigen und ihre Art zu denken gerne auf das Ganze des Seins übertragen. Das ist sozusagen eine deformation professionelle oder auch ein beruflich bedingtes Vorurteil.

 

Der weltanschauliche Reduktionismus ist außerdem neben dem menschlichen Machtstreben mit Hilfe von Wissenschaft und Technik auch noch für die ökologische Krise der Menschheit mitverantwortlich. Verantwortlich betriebene und rational begrenzte Naturwissenschaft zerstört nicht die irdische Natur, in der Pflanzen, Tiere und Menschen leben. Wohl aber trägt der weltanschauliche Reduktionismus ganz erheblich dazu bei, dass wir vor lauter Atomen und anderen Partikeln, Molekülen und organischen Funktionen, keine Lebewesen mehr wahrnehmen und kennen. Dass die tradierte Zoologie kein wesentlicher Bestandteil der Biologie mehr ist, sondern durch die Molekular-biologie verdrängt wurde, ist eine Entwicklung, die in dieser Nachahmung der reduktionistischen Methode der Physik ihre Ursache hat. Die ganze Natur wird analysiert und in ihre Elemente zerlegt und am Ende dient sie nur noch als Ressource für die Gewinnung von Energie und die Ausbeutung von Rohstoffen. Mit dem Kapitalismus oder der mehr oder weniger freien Marktwirtschaft hat das wenig zu tun, denn das wissenschaftliche Weltbild der marxistisch-leninistischen Ideologie war ebenfalls diesem weltanschaulichen Reduktionismus verfallen und die ausufernde Naturzerstörung war dort zumindest nicht geringer.

 

Angesichts des Scheiterns der reduktionistischen Denkansätze in der Allgemeinen Ontologie könnte man nun aber auch versucht sein, wieder einmal die Existenz der Materie zu leugnen und zu einem metaphysischen Panpsychismus, einem Spiritualismus oder einem objektiven Idealismus überzugehen. Diese drei Formen von Metaphysik bzw. allge-meiner Ontologie sind zwar verständliche Reaktionen auf den reduktionistischen Materialismus, Vitalismus und Natura-lismus. Aber sie können weder den Erfahrungen von unserer alltäglichen Lebenswelt noch den Erkenntnisse der modernen Natur-, Sozial- und Humanwissenschaften standhalten.

 

Der Panpsychismus, demzufolge alles eine belebte Psyche, eine anima mundi oder eine Art von Weltseele ist, übersieht die wesentliche Differenz zwischen unbelebter Materie und beseelten Lebewesen. Zwar mag es nach wie vor ein ungelöstes Rätsel sein und bleiben, wie aus anorganischer Materie überhaupt empfindsames und bewusstes Leben entstehen konnte, aber der Panpsychismus erklärt dies nicht, sondern mystifiziert das Ganze, indem er die Kategorie des Seelischen oder Psychischen pauschal auf das Ganze des Seienden überträgt. Dann müssten aber auch Steine und Kristalle psychische und intentionale Qualitäten haben, was aber nur eine Schwärmerei von Esoterikern ist, die keinen adäquaten Kontakt zur Wirklichkeit mehr haben. Die Esoterik ist aber, wie es Theodor W. Adorno, einmal so trefflich ausgedrückt hat, „die Metaphysik der dummen Kerle“.

 

Der Spiritualismus, der in Bishop Berkeleys dogmatischer Leugnung der Existenz der Materie zum Ausdruck kommt, basiert auf dem falschen, teils ontologischen, teils epistemologischen Grundsatz Esse est percipi, d.h. Sein ist Wahr-genommenwerden. Jedes Kind macht ab einem bestimmten Alter in spielerischen Experimenten die Erfahrung, dass normale Gegenstände in seiner Lebenswelt, wie Bausteine, Bälle, Spielzeug oder Puppen nicht ganz verschwinden und sich in Nichts auflösen, wenn es sie vorübergehend aus den Augen verliert oder nicht mehr in den Händen behält. Die erfolgreiche Identifikation und Re-Identifikation ein und desselben Einzeldinges, anhand von bestimmten Merkmalen wird schon von Kindern ab einem bestimmten Alter zurecht so interpretiert, dass diese Einzeldinge (Substanzen) in Raum und Zeit beharrlich sind und dass ihre Existenz nicht von der Tatsache abhängt, ob sie zufällig visuell oder taktil wahrgenommen werden.

 

Zwar vermag ein solches Experiment und erst recht kein bloßes Gedankenexperiment den Spiritualismus oder dog-matischen Idealismus zu widerlegen. Aber hier darf man die Beweislast durchaus demjenigen zumuten, der etwas behauptet, das dem gesunden Menschenverstand und der alltäglichen menschlichen Erfahrung widerspricht. Es genügt, mit Franz Brentano und Thomas Reid darauf hinzuweisen, dass es ganz einfach höchst unwahrscheinlich ist, was hier gegen den Common Sense behauptet wird. Das Experiment zeigt hingegen mit jeder Wiederholung, dass der Schluss auf die Annahme der Unabhängigkeit der Existenz und raum-zeitlichen Beharrlichkeit der Einzeldinge eine viel größere Wahrscheinlichkeit mit sich führt.

 

Immanuel Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft jedoch eine solche Widerlegung des Idealismus versucht, weil er die skeptizistische Leugnung der sog. Außenwelt und die spiritualistische Leugnung der Materie, d.h. genauer materieller Substanzen in Raum und Zeit, für einen "Skandal der Philosophie" hielt. Aber auch wenn es keine förmliche Widerlegung des Spiritualismus bzw. dogmatischen Idealismus gibt, die im Nachweis seiner logischen Inkonsistenz bestehen würde, so gibt es auch keinen Grund, die Leugnung der Außenwelt oder der Materie überhaupt ernst zu nehmen. Trotzdem hatte er nicht nur in seinem Prolegomena alle Mühe, seinen skeptischen Zeitgenossen zu erklären, warum er trotz seines transzendentalen Idealismus kein dogmatischer Idealist, sondern ein kritischer und empirischer Realist ist.

 

Bis zum heutigen Tage gibt es jedoch metaphysische Realisten, die Kant fälschlich und ohne Rücksicht auf seine offenkundigen Anstrengungen und erkennbaren Intentionen, sowohl Descartes' problematischen Idealismus als auch Berkeleys dogmatischen Idealismus zurückzuweisen, einen erkenntnistheoretischen Subjektivismus oder Idealismus nachweisen wollen. Das hat meistens mit interpretatorischen Schwierigkeiten zu tun, Kants Unterscheidung zwischen Dingen an sich (unabhängig von den Erscheinungen) und Erscheinungen (erscheinenden Dingen) angemessen zu ver-stehen. Das hat auch mit der wirkungsgeschichtlichen Tatsache zu tun, dass die Deutschen Idealisten allesamt von Kant ausgegangen sind, und sich manchmal fälschlich auf Kant berufen hatten. Wir wissen jedoch aus Kants Biographie, dass er schon alleine dem jungen Fichte mit seinen idealistischen Ambitionen der dogmatischen Verabsolutierung des Subjektes (Ich) und der Leugnung der Objekte (Dinge an sich) eine klare und deutliche Abfuhr erteilt hat. Ich fürchte, dass es Hegel mit manchen seiner Zumutungen nicht viel besser ergangen wäre. (Vgl. Was ist Erkenntnistheorie?)

 

So wie der Spiritualismus (These: Alles ist menschliches Bewusstsein und göttlicher Geist und es gibt keine selbst-ständige Materie.) als ontologische bzw. metaphysische Position das Gegenstück zum Hume'schen Naturalismus ist, so ist auch der Idealismus (These: Alles ist subjektiver und objektiver Geist und besteht letzten Endes aus Geistigem. Die realen und materiellen Gegenstände in der Außenwelt sind bloße Setzungen des subjektiven oder objektiven Geistes.) das Gegenstück zum französischen und deutschen Materialismus. Die weltanschaulichen Kämpfe des 19. Jahrhunderts waren vor allem Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Positionen. Angesichts von Charles Darwin, Ernst Haeckel und Karl Marx und den Erfolgen der mechanistischen Physik hatten es nicht nur gemäßigte Neo-Aristoteliker, wie z.B. Adolf Trendelenburg und Franz Brentano, sondern auch einige Neukantianer, wie z.B. Hermann Cohen und Wilhelm Windelband schwer, sich zu behaupten.

 

Gleichwohl sind Berkeleys Spiritualismus und Fichtes Idealismus nicht bloß Reaktionen auf die reduktionistischen Tendenzen des 18. und 19. Jahrhunderts. Vielmehr handelt es sich um grundsätzliche und strukturelle Spielmöglich-keiten der metaphysischen Spekulation. Auch im chinesischen und indischen Denken finden wir ähnliche idealistische Spekulationen. Heute ergeben sie sich in Anspielung auf die künstlichen "Welten" des Cyber-Space oder auf Science Fiction-Filme wie Matrix. Gleichwohl handelt es sich um Positionen, die man wie den erkenntnistheoretischen Skeptizismus zwar im akademischen Gedankenexperiment als einem praxisfernen Glasperlenspiel des Geistes einnehmen kann, aber im alltäglichen Leben kaum durchhalten kann.

 

 

 

Benjamin West, The Treaty of William Penn with the Indians
Benjamin West, The Treaty of William Penn with the Indians

 

 

 

Personalismus und pluralistische Ontologie

 

Angesichts der Unzulänglichkeiten der reduktionistischen und monistischen Ontologien, sowohl in den materialistischen als auch in den idealistischen Varianten bleibt in der Metaphysik eigentlich nur noch ein Weg zu einer überzeugenden Allgemeinen Ontologie übrig: der Weg zu einer pluralistischen und nicht-reduktionistischen Ontologie oder Metaphysik. Diese alleine ist der ganzen Fülle des Seins und der Vielschichtigkeit des Seienden angemessen, wie sie sich in der Erfahrung von der konkreten Lebenswelt der Menschen zeigt und den verschiedenen Formen menschlicher Paxis in den Wissenschaften und Künsten, in den Religionen und Konfessionen, in der Ökonomie und Politik, in Moral und Recht zugrunde liegt. 

 

Ihre ersten Wegbereiter waren Platon und Aristoteles. Auch wenn wir insbesondere nach Immanuel Kant und Franz Brentano, Edmund Husserl und Nicolai Hartmann nicht einfach zu Platon und Aristoteles zurückkehren können und kaum noch auf überzeugende Weise im ursprünglichen Sinne Platoniker oder Aristoteliker sein können. Platons Bindung an manche religiösen Mythen der Antike stehen uns dabei ebenso im Weg wie Aristoteles‘ Bindung an die vormoderne Kosmologie der Antike.

 

Gleichwohl hat die Metaphysik in der europäischen Tradition der Philosophie und damit auch in der jüdischen, christlichen und islamischen Philosophie diesen beiden Philosophen mehr zu verdanken als allen anderen Philosophen, die nach ihnen kamen und niemals ganz aus ihrem Schatten heraustreten konnten. Natürlich gab es auch noch andere wichtige Philosophen, die deren Philosophie im Lichte dieser drei großen Weltreligionen weiter ausbildeten, wie z.B. Philon von Alexandria als der wohl bedeutendste jüdische Philosoph der Antike, Augustinus, Bonaventura und Thomas von Aquin als drei maßgebende christliche Philosophen sowie Al Ghazali, Ibn Ruschd (Averroes) und Maimonides als drei einflussreiche muslimische Philosophen.

 

Ein originärer Neuanfang in der europäischen Philosophie hat mit der Definition der Person durch Boethius begonnen: Persona est rationalis naturae individua substantia. (Die Person ist eine individuelle Substanz rationaler Natur.) Zwar knüpft sie an die sokratische Definition des Menschen als animal rationale (rationales Lebewesen) an, betont aber erstmals seine Individualität und Substantialität und nicht nur seine Sozialität und Animalität wie die aristotelische Definition des Menschen als zoon politikon (politisches Lebewesen). Diese Verständnis der Person ist sowohl christlichen als auch stoischen Quellen zu verdanken. Mit ihm wird Personalität erstmals als eine eigene Kategorie des Seienden entdeckt, als ein ens morale im Unterschied zu den entia naturalia (Naturdinge). Damit wird zwar weder die Animalität und Sozialität des Menschen geleugnet, die zum Menschen als Person wesentlich hinzu gehört, aber gerade als Person und nur als Person kann sich der einzelne Mensch - anders als die Tiere und andere Lebewesen - kraft seiner eigentümlichen Rationalität und begrenzten Willensfreiheit sich auch zu seiner eigenen geschöpflichen Animalität und schicksalhaften Sozialität verhalten.

 

Die menschliche Person ist nicht nur ein ens naturale (Naturding) mit einer vorgegebenen Natur, die sein Verhalten bestimmt, d.h. kein materieller Gegenstand oder physischer Organismus, der in seiner bloßen Faktizität aufgehen könnte. Die menschliche Person ist vielmehr ein ens morale (moralisches Wesen) mit einem offen stehenden Telos, d.h. einem Lebensziel und einer Lebensaufgabe, die darin besteht, etwas aus seinen Anlagen und seiner bedingten Freiheit zu machen, aber dabei immer auch unter gewissen sittlichen Forderungen steht. Mit der Entdeckung der Person als ens morale (moralisches Wesen) veränderte sich das Verständnis von der Freiheit des individuellen Menschen auf eine grundlegende Art und Weise. Während sowohl die Freiheit (eleutheria) in der griechischen Philosophie als auch die Freiheit (libertas) in der römischen Philosophie nicht allen Menschen zukamen, sondern weitgehend von schicksalhafter Herkunft, gesellschaftlichem Status, politischen Privilegien und erworbenem Bildungsstand abhingen, wurde die in der Freiheit des Gewissens und der Willenskraft fundierte Wahl- und Handlungsfreiheit erstmals auch zur Idee einer politischen Freiheit der menschlichen Person. Als ens morale (moralisches Wesen) ist die einzelne Person weder bloße Sache (Ding oder Gegenstand) noch nur biophysischer Organismus, sondern eine eigene Art von Seiendem, in der Individualität und Sozialität, Animalität und Rationalität, Faktizität und Normativität auf eine neue Art und Weise zusammen gehören und miteinander in der komplexen Einheit der Person vermittelt sind.

 

Dieses Verständnis von Personalität war es aber auch, das einige Jahrhunderte später in der Neuzeit aufgrund der weltanschaulichen Umwälzungen durch die neuzeitliche Wissenschaft (nova scientia) erschüttert wurde. Der cartesische Dualismus von ausgedehntem Gegenstand (res extensa) und denkenden bzw. bewußten Einzelding (res cogitans) und seine okkasionalistischen, parallelistischen und monistischen Rivalen haben allesamt die ontologische Vorstellung von der zusammengesetzten, aber zusammengehörigen Einheit der menschlichen Person in Frage gestellt. Nur ein ober-flächlicher Fortschrittsglaube kann davon ausgehen, dass die neuzeitliche Seins- und Naturvergessenheit, die auch zu einer Leugnung oder Verdrängung der Einheit der Person geführt hat, ein besseres Wissen oder eine wirkliche Entdeckung darstellte, die die Ontologie der moralischen Wesen (entia moralia) zurecht in den Schatten stellen würde. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein, da sich die praktische Philosophie der Neuzeit und Moderne gerade von der Philosophie der griechischen und römischen Antike sowie von der Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit nicht nur durch die Entdeckung der Person als ens morale, sondern auch durch die Grundlegung einer Vielzahl anderer entia moralia unterscheidet: Staatswesen und Rechtsstaat, Funktion und Institution, Konvention und Tradition, Normativität und Legalität, Rolle und Amt, etc. Die entia moralia waren nämlich die Vorläufer von Hegels "objektivem Geist", an dem ausgerechnet Karl Popper – trotz seiner scharfen Kritik an Platon, Hegel und Marx – im Gegensatz zu den Empiristen, Nominalisten und Naturalisten festgehalten hat. (vgl. Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild.)

 

Kant hat diesen von Boethius eingeschlagenen Weg mit seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und seiner Metaphysik der Sitten fortgesetzt. Aber aufgrund seiner getrennten Untersuchungen zur theoretischen und praktischen Vernunftkritik und zur ästhetischen und teleologischen Urteilskraft ist er noch nicht bis zu der von ihm intendierten einheitlichen Metaphysik der Person im Ganzen des vielfältigen und vielschichtigen Seienden gelangt. Kant suchte eine Einheit der Metaphysik der Natur und der Sitten, in der sowohl Naturkausalität als auch (kritisch konzipierte) Natur-teleologie nicht nur mit der durch die individuelle menschliche Natur bedingten praktischen Freiheit, sondern auch mit der aus den unbedingten Forderungen der reinen praktischen Vernunft stammenden sittlichen Freiheit des Menschen zusammen bestehen können.

 

Dass wir aus Kants Feder kein weiteres Hauptwerk zur Metaphysik der Person besitzen, hängt nicht bloß mit der kontingenten Tatsache seiner begrenzten Lebenszeit zusammen, sondern mit einem anderen wichtigen Ergebnis seiner kritischen Philosophie. Das sog. "kritische Geschäft" endet an den Grenzen der Totalitätsbegriffe mit der Einsicht, dass sich Totalitäten wie Gott, Welt, Person, Seele, etc. begrifflich nicht mehr fassen lassen. Wer sich trotzdem so etwas vornehmen möchte, der muss sich wohl oder übel an seine Nachfolger wenden: an Hegels Phänomenologie des Geistes oder Schellings Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit. Dabei handelt es sich jedoch um Versuche einer metaphysischen Synopse, die Kant wohl kaum noch gebilligt hätte. Wir wissen also ganz einfach noch nicht, wie eine solche einheitliche Metaphysik nach kantischen Vorgaben zu konzipieren wäre. Dies bleibt ein Desiderat der Philosophie bis in unsere Gegenwart hinein und dies bleibt ein Desiderat, das nicht zu beseitigen ist, bevor man nicht ein einheitliches Werk über Kants gesamte Philosophie vorliegen hat, das eben genau dieses immanente Ziel anhand seiner publizierten Schriften historisch-hermeneutisch untersucht und thematisch-systematisch vorbereitet.

 

Auf dem Weg zu einer kritischen Philosophie der Personalität in der Einheit und Vielfalt des Seienden kommen wir jedoch auch nicht an bestimmten nach-kantischen Philosophien vorbei, die wesentliche Beiträge zu einer solchen Metaphysik geliefert haben: (1.) Franz Brentanos Konzeption der Intentionalität, (2.) Edmund Husserls Kritik des Psychologismus nicht nur in der Logik und Mathematik, sondern auch in der praktischen Philosophie, (3.) Nicolai Hartmanns Konzeption der ontologischen Schichten des Seienden, des komplexen Aufbaus der Persönlichkeit und des ontologischen Status des Geistigen in der Welt sowie (4.) Karl Jaspers‘ dialogisch-dialektische Konzeption der Vernunft und des Umgreifenden.

 

Eine der Komplexität der Welt adäquate moderne Metaphysik müsste vor allem eine Metaphysik der Person sein, denn die menschliche Person ist das komplexeste und ranghöchste Wesen in einer Welt vielfältiger Arten des Seienden und vielschichtiger Realitäten. Nicht das menschliche Gehirn ist das komplexeste System, das wir bisher kennen, sondern die menschliche Person mit seinem Gehirn und Nervensystem als Zentralorgan des menschlichen Organismus. Doch die menschliche Person ist eben immer schon mehr als bloß dieses objekthafte neuronale System in einem menschlichen Organismus, sondern ist immer auch schon inkarnierte oder verleiblichte Subjektivität mit Gewissen, Urteilskraft, Gedächtnis, Erinnerung, etc., sowohl biologisch erfassbares Lebewesen als auch soziologisch erfassbares Sozialwesen, sowohl Individuum als auch als Exemplar der biologischen Gattung Homo sapiens sowie als Mitglied verschiedener sozialer Gemeinschaften.

 

Vor allem aber ist die menschliche Person eine Vermittlung von Subjektivität und Objektivität und stößt damit an die Grenzen der Möglichkeit der sprachlichen Vermittlung von menschlicher Erfahrung und Subjektivität, der begrifflichen Erfassbarkeit von Ostensität und Perspektivität, Indexikalität und Narrativität, Leiblichkeit und Innerlichkeit, Zeitlichkeit und dreidimensionaler Räumlichkeit (mit der an das personale Subjekt gebundenen Orientierungen von Links und Rechts, Oben und Unten sowie Vorne und Hinten), Interpersonalität und Totalität der Welterfahrung. Eine diesen Phänomenen und Tatsachen adäquate Metaphysik müsste sich dieser Problematik bewusst bleiben, denn bei ihnen handelt es sich um die bereits von Kant anvisierten Grenzen der Vernunft und damit um die bleibenden Grenzen der Philosophie selbst.

 

 

© Ulrich W. Diehl, Halle an der Saale im September 2009

 

 


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Geert Keil, Naturalismus und menschliche Natur
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Geert Keil, Kritik des Naturalismus, Berlin, de Gruyter 1993.
Geert Keil, Naturalismus und menschliche
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Peter Strasser, Naturalismus, Personsein und Moral
Strasser, Naturalismus, Personsein und M
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Paris Bordone, Zwei Schachspieler (1550-55)