Theoretische Philosophie

Pieter Brueghel, Der Sturz des Ikarus
Pieter Brueghel, Der Sturz des Ikarus

 

 

 

Aber dass wir uns zuerst hüten, dass uns nicht etwas begegne. ... Dass wir nicht Redefeinde werden ... wie andere wohl Menschenfeinde. Denn unmöglich kann einem etwas Ärgeres begegnen, als wenn er Reden hasst. Und die Redefeindschaft entsteht ganz auf dieselbe Weise wie die Menschenfeindschaft. Nämlich die Menschenfeindschaft entsteht, wenn man einem auf kunstlose Weise zu sehr vertraut und einen Menschen für durchaus wahr, gesund und zuverlässig gehalten hat, bald darauf aber denselben als schlecht und unzuverlässig findet, und dann wieder einen; und wenn einem das öfter begegnet und bei solchen, die man für die vertrautesten und besten Freunde gehalten hat, so hasst man dann endlich, wenn man immer wieder anstößt, alle, und glaubt, dass nirgends an einem irgend etwas Gesundes ist.

 

Sokrates in Platons Phaidon

 

 

Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.

 

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede

 

 

Philosophie im eigentlichen Sinne behandelt Themen, für die sich das allgemein gebildete Publikum interessiert.

Sie verliert viel von ihrem Wert, wenn nur einige wenige Berufsphilosophen verstehen, worum es geht.

 

Bertrand Russell, Human Knowlegde. Its Scope and its Limits

 

 

Wer sich der Kritik entzieht, will nicht eigentlich wissen –

Verlust der wissenschaftlichen Haltung und Denkungsart

ist zugleich Verlust der Wahrhaftigkeit des Philosophierens.

Karl Jaspers, Existenzphilosophie

 

 

Ein Philosoph, der sich sein Leben lang mit der Sprache beschäftigt,

ist wie ein Zimmermann, der seine ganze Arbeitszeit damit verbringt,

seine Werkzeuge zu schärfen.

 

Karl Popper

 

 


 

 

Was ist  Theoretische Philosophie?

 

Philosophie ist und war niemals nur theoretisches Nachdenken über Thesen und Theorien über die Situation des Menschen in der Welt und die fundamentalen Strukturen der Welt, sondern immer auch schon ein Nachdenken über die eigenen und gemeinsamen Ideale und Prinzipien, Normen und Werte der lebenspraktischen Orientierung in der Welt, sowie über die intelligible Qualität und Praktikabilität dieser Orientierungen. Philosophie ist also nicht nur theoretische Philosophie, sondern auch praktische und poietische Philosophie und damit dann auch Reflexion und Diskussion über das menschliche Denken und Fühlen, Wollen und Handeln im Lichte theoretischer, praktischer und poietischer Wahrheits- und Geltungs-, Erkenntnis- und Wissensansprüche. Als Reflexion und Diskussion über solche normativen und epistemischen Ansprüche, kann und muss die Philosophie ihre vielen verschiedenen Aufgaben auf verschiedene Gebiete verteilen. Das ist jedoch nur eine pragmatische Einteilung, die vor allem heuristischen und didaktischen Zwecken dient, und nicht von vorne herein als eine ontologische oder metaphysische Einteilung oder gar als ein starres philosophisches System zu verstehen ist, das den unvoreingenommenen Blick auf die Phänomene verstellt und damit die Reifung der Urteilskraft verhindert.

 

Theoretische Philosophie ist eine umfassende geistige Reflexion und gemeinschaftliche Diskussion darüber, "wie alles mit allem im weitesten Sinne zusammenhängt" (Wilfrid Sellars). Das Philosophieren beginnt gewöhnlich mit bestimmten philosophischen Fragen und Problemen. Meistens bedarf es dann zunächst einer logisch-semantischen Klärung und differenzierenden Unterscheidung der wichtigsten sprachlichen Ausdrücke und Begriffe, die in diesen Fragen und Problemstellungen eine Schlüsselrolle spielen. Manche Probleme beruhen nämlich nur auf semantischen und begrifflichen Unklarheiten oder unlogischen Argumentationen. Solche Probleme entpuppen sich dann oftmals als Scheinprobleme. Andere Probleme sind echte philosophische Probleme, deren Behandlung und Lösung von logischen und methodischen, erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen abhängen. Sie führen zu Kontroversen zwischen verschiedenen philosophischen Denkansätzen, Theorien und Positionen. Solche Kontroversen beginnen zwar mit unvereinbaren Thesen und Theorien, Denkansätzen und Positionen, intendieren aber einen abschließenden Konsens darüber, welche Thesen und Theorien, welche methodischen Denkansätze und philosophischen Positionen am Ende die größte philosophische Plausibilität besitzen.

 

Größtmögliche Plausibilität und nicht "absolute Wahrheit" (Fichte) oder "absolutes Wissen" (Hegel) ist das Endziel des Philosophierens. Denn das Beste, was Philosophen und andere Menschen mit Hilfe ihrer zeitlich begrenzten Intelligenz beim Nachdenken über ihre Situation in der Welt und deren Grundstrukturen erreichen können, ist eine gewisse semantische und begriffliche Transparenz, logische und methodologische Kohärenz, epistemologische Evidenz sowie ontologische Korrespondenz. "Absolute Wahrheit" schechthin ist für uns Menschen nicht erreichbar, sondern ein regulatives Ideal des Strebens nach Erkennen und Wissen im Alltag und in den Wissenschaften, in den Weltanschauungen und Religionen sowie last, but not least in der Philosophie. Wer mit Hilfe der Philosophie "die absolute Wahrheit" erreichen zu können oder gefunden zu haben meint, begibt sich selbst in eine Grenzsituation, wo er aufhört auf, ein Philosoph unter Anderen zu sein. Er wird zu einem selbst ernannten Propheten oder zu einem gnostischen Theologen. Philosophen müssen sich damit bescheiden, mit den begrenzten Mitteln und Methoden der Philosophie, bestimmte philosophische Fragen und Probleme zu behandeln und dabei zu möglichst plausiblen und gut nachvollziehbaren Antworten und Lösungen zu gelangen.

 

Theoretisches Philosophieren ist deswegen zuallererst wie die Elementare Philosophie überhaupt ein logisches und methodologisches Nachdenken über die Situation des Menschen in der Welt sowie über die Grundstrukturen der Welt, die wir aus der alltäglichen Erfahrung unserer Lebenswelt kennen und die wir in den verschiedenen Einzelwissenschaften tiefer und gründlicher, aber auch abstrakter und objektiver erforschen. Sie geht jedoch in allen ihren Bereichen über die Elementarphilosophie hinaus und wird zur Realphilosophie verschiedener Gegenstandsbereiche.

 

Philosophisches Streben nach Erkennen und Wissen ist nicht nur wie alles lebensweltliche und wissenschaftliche Streben nach Erkennen und Wissen fehlbar, sondern aufgrund seines oftmals abstrakten und spekulativen Charakters sogar besonders anfällig für Irrtümer und Illusionen. Zwar kann es sich als spezifisch philosophisches Denken nicht - wie Kant meinte - bloß innerhalb der durch die menschliche Sinnlichkeit vorgegebenen Grenzen der lebensweltlichen und wissenschaftlichen Erfahrung bewegen. Denn schon in der logischen und mathematischen Reflexion überschreiten Philosophen und naturwissenschaftler immer schon die vergleichsweise engen Grenzen der sinnlichen Erfahrung. Dies gilt auch für die Hypothesen und Theorien, die Wissenschaftler wie Philosophen aufstellen. Wenn es sich um sachhaltige und interessante Hypothesen und Theorien über qualitative oder quantitative, kausale oder teleologische, intentionale oder logische Strukturen in der Welt handelt, dann werden dabei immer schon die Grenzen der Erfahrung überschritten, um etwas zu erforschen und zu entdecken, was für die bloße Wahrnehmung der menschlichen Sinne verborgen ist.

 

Theoretische Philosophie beinhaltet wie auch schon die Elementare Philosophie erkenntnistheoretische und ontologische Reflexion. Zwar reflektieren und prüfen alle Menschen im Alltag und in den Wissenschaften bis zu einem gewissen Grade ihre eigenen Versuche, etwas über sich selbst und die Gegenstände und Situationen, Ereignisse und Prozesse, Lebewesen und Personen in der Welt zu erkennen und zu wissen. Aber Philosophen (und andere Wissenschaftler) sollten dies normalerweise noch genauer und gründlicher tun. Theoretische Philosophie ist deswegen vor allem auch Reflexion und Diskussion über Wahrheits- und Geltungsansprüche, Erkenntnis- und Wissensansprüche.

 

Aus der Grundfrage der Philosophie nach der Situation des Menschen in der Welt mit den beiden untrennbaren Momenten des Menschseins in der Welt und des offensichtlichen Vorhandenseins der Welt, die nur im abstrahierenden Denken, aber nicht in der gegebenen Realität getrennt werden können, ergeben sich nun die verschiedenen Grundfragen der Theoretischen Philosophie. Der Begriff der Welt kann in der Philosophie mindestens dreierlei bedeuten: (1.) die einheitliche Lebenswelt der Menschen auf der Erde, (2.) die ganze Welt im Sinne des Kosmos oder des raum-zeitlichen Universums oder (3.) die ganze und noch umfassendere Welt alles, dessen, was es gibt, nicht nur der materiellen raum-zeitlichen Gegenstände, Relationen und Situationen, sondern auch der psychischen Pänomene und geistigen Inhalte. 

 

Die einheitliche Lebenswelt der Menschen ist jedoch beim näheren Hinsehen selbst schon ein Kompositum aus verschiedenen Bereichen, die man in der Philosophie im Laufe der Jahrhunderte aus guten Gründen zu unterscheiden und getrennt zu untersuchen gelernt hat. Die Gründe sind zum Teil ontologischer Art, weil sie mit der spezifischen Natur der Gegenstandsbereiche zu tun haben, zum Teil epistemologischer Art, weil sie mit den spezifischen Methoden des Zugangs, des Verstehens und Erklären der jeweiligen Phänomene und Gegenstände zu tun haben.

 

So müssen wir unterscheiden zwischen: Natur- und Kulturphilosophie und innerhalb der Kulturphilosophie zwischen drei nicht aufeinander reduzierbaren Bereichen der Religions-, Wissenschafts- und Kunstphilosophie. Es versteht sich von selbst, dass in der einheitlichen Lebenswelt diese verschiedenen Bereiche vielfach miteinander verbunden sind.

 

A. Naturphilosophie

betrifft das, was von Natur aus und naturgeschichtlich entstanden ist, und nicht erst vom Menschen gemacht wurde.

 

B. Kulturphilosophie

betrifft das, was die Menschen im Laufe der Kulturgeschichte aktiv gemacht, tradiert und vorgefunden haben.

 

C. Religionsphilosophie

betrifft das Wesen und die Entwicklung der religiösen Selbsttranszendenz der Menschen auf höhere Mächte hin.

 

D. Wissenschaftsphilosophie

betrifft das Wesen und die Entwicklung der wissenschaftlichen Erforschung der Welt und des Menschen in der Welt.

 

E. Kunstphilosophie

betrifft das Wesen und die Entwicklung des schöpferischen Ausdrucks der Menschen und der künstlerischen Gestaltung von Objekten ihrer Lebenswelt in den Künsten von Musik, Dichtung, Theater, Architektur, Bildhauerei, Malerei, Film, etc

 

 


Vermeer, Der Geograph
Vermeer, Der Geograph

 

 

A. Naturphilosophie ist gerade im Zeitalter der ökologischen Problematik der Naturzerstörung durch die wissenschaft-lich-technisch geprägten Industriegesellschaften immer noch ein dringendes Anliegen der Metaphysik, das sowohl von den Hegelianern als auch von den Marxisten sträflich vernachlässigt wurde. Die Naturwissenschaften können ihren eigenen methodischen Anforderungen und topologischen Denkansätzen nach keine einheitliche Philosophie der Natur bieten und müssen dies der Philosophie überlassen. Die Philosophie hat dieses Gebiet jedoch seit dem 18. Jahrhundert weitgehend aufgegeben. Man kann das Desiderat einer Naturphilosophie jedoch nicht einfach an die Naturwissenschaf-ten delegieren. Die Ursachen und Gründe für das vorübergehende Ende der Naturphilosophie liegen vor allem im Positivismus des 19. Jahrhunderts und im Szientismus des 20. Jahrhunderts, die die in den modernen Industriegesell-schaften voranschreitende Entfremdung der Menschen und der Kultur von der Natur widerspiegeln. Sie liegen jedoch auch in der Entwicklung der christlichen Traditionen selbst, die sich aufgrund gnostischer, manichäischer und neupla-tonischer Einflüsse aus der für Jesus von Nazareth und die Urgemeinde selbstverständlichen Nähe zu einer naturnahen Lebenswelt zurückgezogen hat. Zuverlässige philosophische Anknüpfungspunkte finden wir vor allem in Kants Kritik der Urteilskraft und Nicolai Hartmanns Naturphilosophie, die an philosophischem Problembewusstsein und theoretischer Komplexität unübertroffen zu sein scheinen.

 

 

B. Kulturphilosophie ist im Zeitalter des planetarischen Bewusstseins und der Globalisierung der Wissenschaften und Techniken, Wirtschafts- und Kommunikationsformen sowie der internationalen rechtlichen und politischen Institutionen ebenfalls ein unverzichtbares Desiderat der Philosophie. Die Hegel'sche Geschichtsphilosophie war zwar noch im 19. Jahrhundert ein wichtiger Ausgangspunkt, kann aber aufgrund ihrer dogmatischen und ideologischen Hierarchisierung der Religionen und Kulturen mit Hilfe von Vergleichen mit den Altersstufen des menschlichen Lebens nicht mehr auf-recht erhalten werden. Die Religionsgeschichte der Menschheit führt nicht notwendigerweise zum deutschen Protestan-tismus und der Weltgeist lässt sich nicht unbedingt im schwäbischen Pietismus des Tübinger Stifts nieder. Auch die Religionsgeschichte von Arnold Toynbee ist zwar auch immer noch aus einer christlichen Perspektive geschrieben, aber sie behandelt die anderen Religionen schon als koexistente Dialogpartner und als gleichberechtigte Rivalen. Noch bedeutender ist jedoch die weltgeschichtliche Abhandlung Menschheit und Mutter Erde. Die Geschichte der großen Zivilisationen, auch wenn sie in manchen Hinsichten aus religionswissenschaftlicher Hinsicht veraltet zu sein scheint.

 

Kulturphilosophie kann nur in einer geschichtlichen Form betrieben werden und deswegen handelt es sich hier um einen Anknüpfungspunkt. Allerdings bedarf es jedoch vor allem einer Philosophie des Verstehens in den Kultur- und Geisteswissenschaften, einer Ontologie der kulturellen Phänomene und Gebilde, und  einer Ontologie der Inhalte des Geisteslebens. Hier bieten sich grundlegende Werke der Philosophie des 20. Jahrhunderts an: (1.) Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode, (2.) Ernst Cassirers Versuch über den Menschen und seine Philosophie der symbolischen Formen, (3.) Richard Hönigswalds Grundfragen der Erkenntnistheorie, sowie (4.) Nicolai Hartmanns Abhandlung Das Problem des geistigen Seins: Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften.

 

 

C. Religionsphilosophie lässt sich zumindest nach der Auffassung der großen monotheistischen Weltreligionen (Par-sismus, Judentum, Christentum, Islam, etc.) nicht von der Speziellen Ontologie des Seienden und der Allgemeinen Ontologie des ganzen Seins trennen. Aber aus heuristischen Gründen ist es in der Philosophie besser, diese Probleme getrennt anzugehen, weil manche, die nach Hume, Kant und Schleiermacher nicht nur zum religiösen Fideismus bzw. Agnostizismus, sondern wie Marx, Nietzsche und Freud zum (militanten) Atheismus neigen, nicht daran gehindert werden sollten, sich an den Untersuchungen zu einer philosophischen Metaphysik des Seins und des Seienden zu beteiligen. Hier kann man nämlich, wie z.B. Nicolai Hartmann in der Metaphysik der Person, der Persönlichkeit und des Geistigen einige wichtige Resultate erzielen, ohne dazu das Dasein Gottes zu thematisieren und andere Probleme des religiösen Glaubens und Denkens einzubeziehen.

 

Religionsphilosophie bleibt jedoch auch dann ein wesentlicher Bestandteil der Metaphysik und der Philosophie, wenn nach Hume und Kant, Brentano und Schleiermacher die rationale oder philosophische Theologie den rationalistischen Anspruch auf eine objektive Erkenntnis ohne die Voraussetzung des persönlichen Glaubens nicht mehr erfüllen kann. D.h. zwar sicher nicht, dass Religionsphilosophie nur noch als philosophische Prolegomena zur Religionspsychologie und -soziologie und damit zur philosophischen Anthropologie und Kulturphilosophie fungieren können. Denn es handelt sich in der Religionsphilosophie auch dann immer noch um eine genuine Selbstaufklärung des eigenen Glaubens und Denkens, die nicht wie die Religionspsychologie und -soziologie aus einer äußeren objektivierenden Position durchgeführt werden kann.

 

Selbst wenn es im strengen Sinne objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis von Sachverhalten und Gesetzmäßigkeiten in der Welt keinen Gott gibt - so wie es endliche Gegenstände, Ereignisse und Prozesse in der raum-zeitlichen Welt gibt - und selbst wenn alle philosophischen Beweise vom Dasein Gottes wegen der notwendigen Voraussetzung einer be-stimmten Vorstellung bzw. eines bestimmten Begriffes von Gott mißlingen, kann eine moderate Religionsphilosophie immer noch als eine genuin philosophische Selbstvergewisserung vollzogen werden, die sich mit den eigenen und gemeinschaftlichen Glaubensüberzeugungen und Glaubenszweifeln, religiösen Intuitionen und Präferenzen auseinan-dersetzt. Religionsphilosophie hat damit eine authentisch philosophische Aufgabe, die nicht verschwinden wird, solange das menschliche Streben nach einem Sinn des eigenen Daseins in der Welt sowie die damit verbundenen Vorstellungen von Transzendenz als anthropologische Konstanten bestehen bleiben.

 

Solange die Menschen nicht nur religiöse oder quasi-religiöse Gefühle haben, sondern auch gewisse bildliche Vorstel-lungen und rationale Überzeugungen von einem göttlichen Wesen - im Unterschied zur ästhetischen Erfahrung des Schönen und Erhabenen in Natur und Kunst sowie im Unterschied zu den moralischen und rechtlichen Idealen und Prinzipien, Normen und Werten - so lange müssen Philosophen zumindest auch über menschliche Gottesbilder und Gottesgedanken nachdenken. Man kann jedoch auf keinen Fall angemessen über Gottesbilder und Gottesgedanken nachdenken, ohne zu versuchen, sie so weit wie möglich rational zu verstehen. Deswegen ist und bleibt die Religions-philosophie auch in der gegenwärtigen politischen Moderne des religiösen Pluralismus demokratisch organisierter Gesellschaften nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Metaphysik und ein wichtiges Desiderat der Philosophie, sondern auch eine unverzichtbare Forderung der Humanität.

 

 

D. Wissenschaftsphilosophie handelt wie die Religionsphilosophie von bestimmten Kulturleistungen und Praxisformen des Menschen in seiner Lebenswelt, die auf ganz besondere Art und Weise die menschlichen Kulturen nachhaltig und anhaltend geprägt haben. Nicht nur in Europa und dem sog. Westen, sondern praktisch in allen Regionen der Erde und allen Kulturen der Menschheit stehen die Wissenschaften und Religionen in einem anhaltenden weltanschaulichen Konflikt. Zwar gut gemeinte, aber eigentlich nur leichtfertige und weitgehend unreflektierte Harmonisierungen dieser besonderen Kulturleistungen und Praxisformen des Menschen, wie sie vor allem, aber nicht nur von Seiten des religiösen Denkens erwünscht werden, sind aufgrund der seit der Nova Scientia enstandenen weltanschaulichen Konflikte ganz und gar unangebracht. Auf der anderen Seite sollte es eine seriöse Wissenschaftsphilosophie auf jeden Fall vermeiden, sich zum Handlanger religionsfeindlicher Kräfte und Bewegungen machen zu lassen, indem sie die Wissenschaften gegen die Religionen auszuspielen versucht. Dies verbietet sich im Sinne der Dialektik der Aufklärung (Adorno und Horkheimer) aufgrund der schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit den Vernichtungskräften der modernen Naturwissenschaften, die zur technischen Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln, wie z.B. in Form der ABC-Waffen geführt haben. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts können wir nicht mehr sicher sagen, was die Mensch-heit mehr gefährdet: religiöser Fanatismus oder wissenschaftlicher Fortschrittsglaube. Es sind in beiden Fällen jedoch psychische Entgleisungen der menschlichen Fähigkeit zum Bösen, die sich als das vermeintlich Gute tarnt. Dies gilt auch und gerade dort, wo sich religiöse Fanatiker selbst mit den Instrumenten des Terrors und den Waffen der Massen-vernichtung ausstatten, die durch die rasanten technischen Fortschritte der Naturwissenschaften und Techniken bereit gestellt werden.

 

Wissenschaftsphilosophie muss sich außerdem immer wieder auch der religiösen bzw. metaphysischen Voraus-setzungen der Entstehung und Geschichte, Methoden und Praxis der neuzeitlichen und modernen Wissenschaften bewusst machen. So scheint z.B. die naturwissenschaftliche Annahme eines gleichförmigen Kosmos, dessen Enste-hungs-, Entfaltungs- und Entwicklungsgesetze immer und überall im Universum nach universalen Naturgesetzen erklärt und verstanden werden können, zumindest historisch mit dem Monotheismus von Judentum, Christentum und Islam verbunden gewesen zu sein. Gegenwärtig machen sich zumindest in den modernen und pluralistischen Gesellschaften der westlichen Hemisphäre zunehmend skeptische Auflösungstendenzen dieser ontologischen und metaphysischen Hintergrundannahme bemerkbar, die sich nicht zuletzt zum anhaltenden Schaden der wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung auswirken.

 

Die weitgehend positivistische, naturalistische und szientistische Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts war mit einigen bedeutenden Ausnahmen (Karl Popper, Michael Polanyi, Ernst Mayr, u.a.) zu sehr selbst den immanenten Selbstbespiegelungen des modernen Wissenschaftsbetriebes verfallen und konnte diese Entwicklung weder empirisch vorhersehen noch philosophisch begreifen. Deswegen bedarf es gegenwärtig vor allem einer Wissenschaftsphilosophie, die die modernen Wissenschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung seit der Neuzeit untersucht und versteht, die sie systematisch als besondere Formen menschlichen Praxis in der Lebenswelt erforscht, die ihre Erkenntnisleistungen zugleich teilweise als Fortsetzung und teilweise als Bruch mit der Alltagserkenntnis und dem lebensweltlichen Wissen des gesunden Menschenverstandes untersucht und versteht.

 

 

E. Kunstphilosophie