Nicolai Hartmann (1882 - 1950)

 

 

 

 

 

 

Nicolai Hartmann

Philosoph, * 20.2.1882 Riga, † 9.10.1950 Göttingen

 


Leben

Hartmann besuchte das Gymnasium in Sankt Petersburg. Nach dem Abitur 1901 studierte er Medizin, klassische Philologie und Philosophie zunächst in Dorpat und Sankt Petersburg, dann in Marburg/Lahn. Dort promovierte er 1907 bei H. Cohen und P. Natorp. Ein pädagogischer Zug war, wohl als Erbteil der Mutter, früh in Hartmanns Bestreben zutage getreten, ebenso sehr Erzieher der akademischen Jugend wie wissenschaftlicher Lehrer zu sein. 1909 habilitierte er sich für Philosophie, wurde 1920 außerordentlicher Professor und 1922 Nachfolger auf dem Lehrstuhl Natorps in Marburg. 1925 wurde er nach Köln, wo er einige Jahre zusammen mit Max Scheler lehrte, 1931 auf den Lehrstuhl von Troeltsch nach Berlin und 1945 nach Göttingen berufen.

Unter dem Einfluß der Phänomenologie Edmund Husserls, aber ohne dessen Rückgang auf den Erlebnisstrom des reinen Bewußtseins mit zu vollziehen, wandte er sich nach anfänglicher Beschäftigung mit der Alten Philosophie gegen den Marburger Neukantianismus. Seine Abkehr vom transzendentalen Idealismus vollzog sich zunächst in der Erkenntnistheorie. 1921 erschienen die Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, deren Titel bereits die neue seinsphilosophische Blickrichtung aussprach, der sich fast gleichzeitig sehr verschiedene Denker zuwandten, deren hervorragender Vertreter neben A. N. Whitehead aber Hartmann werden sollte.

Ausgangspunkt der Untersuchung wurde wieder die in der Fülle ihrer Gegebenheiten unvoreingenommen aufgefaßte gegenständliche Welt. Daß diese dem Bewußtsein transzendent ist, wird an ihrer Widerständigkeit erfahren, beispielsweise in den emotional-transzendenten Akten Erleben, Erleiden und so weiter Hartmann philosophiert aus dem Realismus der natürlichen und wissenschaftlichen Weltansicht (intentio recta). Wissenschaftstheoretischer Nominalismus bleibt ihm fremd.

Erkenntnis ist das Erfassen des Seienden und seiner Prinzipien durch den Menschen als ein Seiendes unter anderen. Seins- und Erkenntniskategorien gelten als partiell identisch. In Diskrepanz und Konvergenz von Apriori und Aposteriori (Hypothese und Erfahrung) dringt so die Erforschung des Seienden bis an dessen transintelligible Ränder vor. Dort entstehen metaphysische Fragen, das heißt solche, die sich rationaler Beantwortung verschließen (Aporien).

Aus dieser Erkenntnisstellung heraus entwickelt Hartmann seine Ontologie, die das lange Zeit vernachlässigte Feld der traditionellen philosophischen Grunddisziplin von Grund auf neu bearbeitet. Das Ergebnis erscheint in 4 Werken zwischen 1935 und 1950. Die Lehre vom Aufbau der realen Welt – das dritte Stück dieser Folge – bleibt im Gegensatz zur Tradition diesseits aller idealistischen, realistischen und auch dualistischen Letztbegründungen der Wirklichkeit. Sie will in engem Kontakt mit den Einzelwissenschaften alle gegebenen Aspekte des Wirklichen berücksichtigen. An die Stelle von Deduktion und vermeintlichem Totalwissen tritt eine induktive, ihrer Vorläufigkeit bewußte Kategorialanalyse.

Das reale Sein gliedert sich demnach in vier Seinsschichten mit jeweils eigenen Gestaltungsprinzipien: die anorganische, organische, psychische und geistige Schicht. Die Welt ist nicht durch Rückführung auf eine von ihnen (materielle Mechanismen, vitale Kräfte, Seele, Geist) erklärbar, auch nicht durch genetische Herleitung aus einer derselben. Die Eigenständigkeit der gleichwohl durch mancherlei Abhängigkeits- und Freiheitsgesetze verbundenen Schichten ist der ontologisch haltbare Befund.

Den Schichtenkategorien vorgelagert sind die Fundamentalkategorien, welche die Form von Gegensatzpaaren (Form-Materie usw.) haben. Außer den Seinsschichten behandelt Hartmann die Seinsmomente Dasein und Sosein, die Seinsweisen des idealen und realen Seins sowie die Seinsmodalitäten Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Der Erörterung der letzteren widmete er einen eigenen Band; sie galt ihm als Kernstück der Ontologie. Im real Seienden ist das Mögliche auch wirklich und also notwendig. Die beiden niederen Schichten des Wirklichen, zumal deren Seinsprinzipien Raum und Zeit, werden in der Philosophie der Natur erörtert.

Als Philosophie eines Denkers, dessen besondere Neigung der Astronomie galt, hebt sie sich ab gegen lebensphilosophische Degradierung des Anorganischen und hebt zugleich die rätselvolle Eigenart des Organischen zwischen anorganischem Mechanismus und geistiger Zwecktätigkeit heraus. Die psychische Schicht erfährt keine gesonderte Behandlung. Das Problem des geistigen Seins (1933) aber wurde schon vor der allgemeinen Ontologie in kritischem Bezug zu Hegel bearbeitet. Hegel galt auch eine vorhergegangene Monographie (1929), die in der zeitgenössischen Hegel-Renaissance eine maßgebende Rolle spielte.

Geistiges Sein begegnet in drei Formen, die sich gegenseitig tragen: als personaler, objektiver und objektivierter Geist. Personaler Geist besitzt im frei zwecktätigen menschlichen Individuum zeitliche Realität. Der objektive Geist ist das Gefüge überindividueller Weltansichten und Verhaltensmodelle. Er ist Menschenwerk und ohne eigenes Bewußtsein. Aber als System rechtlicher, politischer und so weiter Ansichten und Normen besitzt er eine Superexistenz, in welche die Einzelnen durch Tradition und Erziehung hinein gebildet werden. Objektivierter Geist heißen die von Menschen geschaffenen Werke, in denen sich der subjektive und der objektive Geist vergegenständlichen. Hartmanns Analyse des geistigen Seins hob die philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften über den Psychologismus, dem noch Dilthey teilweise verhaftet blieb, auch über den neukantischen Methodologismus hinaus.

Hartmanns 1925 verfaßte Ethik sucht im Anschluß an Scheler, Nietzsche und Aristoteles den Kantischen Formalismus unter Bewahrung seiner Apriorität durch eine inhaltlichere Bestimmung des Gesollten zu überwinden. Zu Grunde liegt die Lehre vom idealen Sein als einer festen Ordnung der der Zeit enthobener Wesenheiten, logisch-mathematischer Sätze und ethischer Werte. Die Werte werden vom personalen und objektiven Geist jeweils in einem historisch beschränkten Ausschnitt erfaßt. Etliche erweisen sich in ihrer Verwirklichung als antinomisch. Das aber bedeutet, daß die Synthese ihrer gemeinsamen Realisierung noch zu erarbeiten bleibt.

Bedeutsam ist vor allem Hartmanns Freiheitslehre, in welcher seine Ontologie Anwendung und Bewährung findet. Der Mensch, als unter anderem subjektiver Geist, ist innerhalb der Schichtenhierarchie positiv frei, die niederen Schichten unter Wahrung ihrer Eigendeterminationen durch Zwecksetzung und Sinngebung zu überbauen und ihre Prozesse von daher umzulenken. Negativ frei ist der Mensch gegenüber den Werten; er kann wählen, diesen oder jenen zu realisieren. So ist er Schnittpunkt der idealen und der realen Welt. Entschieden wandte sich Hartmann gegen eine Teleologie des Weltlaufs, wie sie von einer theologischen (Vorsehung) oder geschichtsmetaphysischen Deutung des Geschehens immer wieder angenommen wird. Die Vorherbestimmung des Endes schlösse freie Entscheidung aus. Zwecke setzt allein der Mensch; demgemäß fordert Hartmann einen Atheismus der Verantwortung.

Hartmanns Ästhetik analysiert das Erscheinen ästhetischer Gehalte in Realgebilden. Das Kunstwerk ist mehrschichtig: im dinglichen Vordergrund erscheint der in sich mehrschichtige Hintergrund der Sinngehalte. Eine weit gediehene Logik ging 1945 verloren.

Hartmanns Werk ist der derzeit letzte Versuch einer alle ihre klassischen Sparten umfassenden Philosophie. Dessen ungeachtet war es gerade nicht die Absicht Hartmanns, die Welt in ein vorgefaßtes System zu bringen, schon gar nicht in ein solches, welches hybriden Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern der systematischen Weltverfassung beschreibend und analysierend nachzuspüren: Die Klärungsgeschichte der fortwährenden Probleme des Philosophierens durchziehe die diversen, immer wieder scheiternden Systembauten.

Redliches Philosophieren zeichne sich dadurch aus, daß es die Ratlosigkeiten, auf die es stößt, offen eingesteht. Auf dem Boden dieser weltoffenen Nüchternheit wurde die Philosophie Hartmanns zu einer der bedeutendsten in der bisherigen Geschichte des 20. Jahrhunderts Stilistische Klarheit verbindet sich in ihr mit sachlicher Eindringlichkeit. Sein Werk, vor allem die ins Englische übersetzte Ethik, gewann internationale Bedeutung.


Werke

Platos Logik des Seins, 1909, 1965
Grundzüge e. Metaphysik d. Erkenntnis, 1921, 1965
Die Philosophie des deutschen Idealismus, 2 Bde.,
    I. Fichte, Schelling und die Romantik 1923, 1960
    II. Hegel, 1929, 1960
Ethik, 1925, 1962
Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 1933, 1962
Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, 1965
Möglichkeit und Wirklichkeit, 1938
Der Aufbau der realen Welt, Grundriss der allgemeinen Kategorienlehre, 1940, 1964
Die Philosophie der Natur, Abriss der speziellen Kategorienlehre, 1950
Teleologisches Denken, 1952
Ästhetik, 1953
Kleinere Schriften, 3 Bde.,
    I. Abhandlungen zur systematischen Philosophie, 1955
    II. Abhandlungen zur Philosophiegeschichte, 1957
    III. Vom Neukantianismus zur Ontologie, 1958
Werkverzeichnis in: Nicolai Hartmann, Der Denker und sein Werk,
hrsg. v. H. Heimsoeth u. R. Heiß, 1952.

 


Literatur

H. G. Gadamer, Metaphysik d. Erkenntnis, in: Logos, 1923
J. Cohn, Zu Nicolai Hartmanns Wertethik, ebd., 1926
H. Knittermeyer, Zur Metaphysik d. Erkenntnis, in: Kantstudien, 1925
E. v. Aster, Zur Kritik d. materialen Wertethik, ebd., 1928
H. Pleßner, Geistiges Sein, ebd., 1933
H. Herrigel, Der philosophische Gedanke Nicolai Hartmanns, ebd., 1959/60
G. Gurvitch, Les Tendances actuelles de la philososphie allemande, 1930
W. R. B. Gibson, The Ethics of Nicolai Hartmann, in: The Australian Journal of Psychology and Philosophy, 1934/35
H. D. N. Oakeley, Hartmanns Concept of objective spirit, in: Mind, Edinburgh 1935
J. Geyser, Zur Grundlegung d. Ontol., in: Phil. Jb. 1936
S. Vanni-Rovighi, L'ontologia di N. H., in: Rivista filosofia neo-scolastica, Mailand 1939
J. Münzhuber, Nicolai Hartmanns Ontologie und die philosophische Systematik,
n: Blätter für deutsche Philosophie, 1939
G. Martin, Aufbau der Ontologie, ebd., 1941
A. Guggenberger, Der Menschengeist und das Sein, 1941
M. Landmann, Nicolai Hartmann and phenomenology, in: Philosophy and Phenomenological Research, Buffalo 1942/43
J. Endres, Der Schichtengedanke bei Nicolai Hartmann, in: Divus Thomas, 1947
J. Klein, Das Sein u. d. Seiende, 1949
H. Heimsoeth, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, 1950
H. Hülsmann, Die Methode in der Philosophie Nicolai Hartmanns, 1959

 


Autobiographie

B. Schwarz, Deutsche systematische Philosophie der Gegenwart nach ihren Gestaltern I, 1931


Quelle

Schneider, Werner, „Hartmann, Paul Nicolai“, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 2-4 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118546317.html