Identitätspolitik


 

Herkunft ist kein Ersatz für Zukunft

 

Weshalb die Obsession mit Identitätspolitik Stammesdenken, Opferkult und Entsolidarisierung vorantreibt.

 

Robert Pfaller, IPG-Journal, 13.08.2018

 

Während westliche Staaten auf der Ebene der Politik derzeit die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerungen brüsk ignorieren, zeigen sie auf der Ebene der Kultur ein immer feineres Zartgefühl. Dort betreiben sie Sensibilisierung und implementieren entsprechende Institutionen.

 

Auf der Ebene der Politik unternimmt man nichts gegen die massiven Reallohnverluste, welche die untere Hälfte der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten hinnehmen musste. Man lässt Arbeitslose mit Maßnahmen wie Hartz IV verwahrlosen - bezeichnenderweise nimmt die aktuelle österreichische Rechts-Rechts-Regierung dieses Programm der Schröder-Sozialdemokratie derzeit zum Vorbild. Bis in die oberen Mittelschichten hinein hat sich das Gefühl verbreitet, dass die Kinder es einmal nicht mehr besser haben werden. Dieser ökonomischen Erosion entspricht auch eine der demokratischen Mitbestimmung: Mithilfe internationaler Abkommen wie der Maastricht-Verträge schafft man Realitäten, die sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen. Auch in Fragen der Außenpolitik der EU haben große Teile der Bevölkerungen das Gefühl, niemals auf irgendeiner politischen Ebene eine demokratische Willensbildung erlebt zu haben.

 

Auf der Ebene der Kultur zeigt man erstaunliches Verständnis für noch so kleine Sorgen oder Empfindlichkeiten - vor allem für solche, die mit Fragen der ethnischen, kulturellen, religiösen oder sexuellen etc. "Identität" verbunden sind.

 

Auf der Ebene der Kultur dagegen zeigt man geradezu erstaunliches Verständnis für noch so kleine Sorgen oder Empfindlichkeiten - vor allem für solche, die mit Fragen der sogenannten ethnischen, kulturellen, religiösen oder sexuellen etc. "Identität" verbunden sind. Man diskutiert öffentlich über sogenannte "Mikroaggressionen", empfiehlt die Vermeidung von Worten oder Gesten, die irgend jemanden verletzen könnten (meist lange, bevor tatsächlich irgend jemand sich verletzt fühlt), und denkt voller Ernsthaftigkeit darüber nach, wie viele Geschlechter es geben könnte und ob wir derzeit wohl eine Toilettentüre zu wenig oder aber eher eine zuviel haben.

 

Die postmodernen Identitätspolitiken aber stellen keine mildernde Kompensation, sondern vielmehr einen aktiven Beitrag zur neoliberalen Produktion wachsender Ungleichheit dar. Das ist die These, die im Begriff des "progressiven Neoliberalismus" steckt, den die Philosophin Nancy Fraser entwickelt hat. Die Postmoderne ist das Kulturprogramm des Neoliberalismus.

 

Diese These lässt sich mit mindestens zwei Argumenten untermauern. Erstens erfüllt eine Verstärkung der Sorge der Individuen um ihre Identität zu einer massiven Entsolidarisierung und Ablenkung von den entscheidenden Fragen. Die um ihre Identität Besorgten treten ein in einen "Opferwettbewerb", in dem sie einander durch sogenannte "Intersektio-nalität" zu übertreffen versuchen. Dabei werden sie zunehmend unfähig, zu erkennen, dass es wichtigere Interessen gibt als die der Identität und dass es für die Verfolgung dieser Interessen notwendig wäre, sich mit anderen Identitäten zusammenzuschließen.

 

Dabei wird eine entscheidende Errungenschaft bürgerlicher Emanzipation diffamiert. Der von den Identitätspolitiken geschürte Hass auf die "alten, heterosexuellen weißen Männer" richtet sich nämlich auf das gesamte politische und ethische Programm des bürgerlichen Universalismus. Die Bourgeoisie hatte als erste Klasse in der Geschichte sich selbst nicht als besondere, sondern vielmehr als allgemeine Klasse begriffen (die Arbeiterklasse ist ihr später darin gefolgt), und ihre Befreiung nicht nur als ihre eigene, sondern als die der gesamten Gesellschaft konzipiert. Die Etablierung eines Rechtssystems, das von der jeweiligen Person absieht, sowie eines zivilisierten Umgangs, bei dem die Frage der "Identi-tät" im Hintergrund gehalten wird, sind die entsprechenden Erfolge der bürgerlichen Klasse. Sie sind zugleich die Beute, um die jegliche Emanzipationsbestrebung welcher Identitätsgruppe auch immer kämpfen muss. Das unper-sönliche Recht und den Habitus des zivilisierten Verhaltens identitätspolitisch zu verunglimpfen, ist hingegen ein Beitrag zur neoliberalen Zerstückelung, Re-Feudalisierung und Re-Tribalisierung der Gesellschaft.

 

Wer keine Zukunft mehr hat, der braucht eben mehr Herkunft. Und wer nicht mehr hoffen kann, irgendetwas Interessantes zu werden, der muß eben darauf pochen, irgendetwas Kostbares, Verletzbares zu sein.

 

Genau in dem Maß, in dem der Neoliberalismus den Menschen die Aussicht auf eine bessere Zukunft genommen hat, kam ihm die Propaganda der Identitätspolitik zu Hilfe und ließ sie nun, statt nach vorne, nach hinten blicken: wer keine Zukunft mehr hat, der braucht eben mehr Herkunft. Und wer nicht mehr hoffen kann, irgendetwas Interessantes zu werden, der muß eben darauf pochen, irgendetwas Kostbares, Verletzbares zu sein.

 

Zweitens hat der Neoliberalismus zur Zerreißung der gesellschaftlichen Mitte in den reichen westlichen Staaten geführt. Eine im Keynesianismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte zu gewissem Wohlstand und Ansehen gelangte untere Mittelschicht aus Arbeitern und Angestellten erlitt nun massive Verluste sowohl an Realeinkommen wie auch an Sozialprestige. Das eine besorgte die ökonomische Umverteilung; das andere die kulturelle. Frühere emanzipatorische Engagements wie Neomarxismus, Feminismus oder Antirassismus wurden nun vorwiegend auf der Ebene der Kultur praktiziert und verwandelten sich in unverbindlichere Betätigungsfelder wie Dekonstruktion, Gendertheorie und postkoloniale Studien. Sie verloren dabei an gesellschaftlicher Relevanz, aber gewannen dafür an Verfeinerung, Komplexität - und vor allem an Distinktionswert - hinzu: mit all diesen Dingen, ursprünglich aus der Not der Ausge-beuteten, geboren, konnte man nun plötzlich zeigen, dass man etwas Besseres war. Die Identitätspolitik hat das gesellschaftliche Leid und seine Anerkennung nach oben, zu den Eliten, umverteilt.

 

Ein entscheidender Grund für diese Entwicklungen dürfte darin liegen, dass seit den 80er Jahren die Mitte-Links-Parteien in Europa und Übersee sich in ihrer ökonomischen Politik nicht mehr von ihren konservativen und neoliberalen Gegnern unterschieden. Die einzig verbleibenden Unterschiede mussten nun auf dem Feld der Kultur markiert werden. Diese Kulturalisierung linker Politik führte dazu, dass Probleme der ökonomischen Basis nun nur noch auf der Ebene des ideologischen Überbaus behandelt wurden - so, als ob man dort wirksam etwas gegen sie unternehmen könnte. Als zum Beispiel der Ausbau des Sozialstaates, der eine Notwendigkeit für die Anliegen der Frauenbewegung der 1970er Jahre war, in den 1980er Jahren durch Austeritätsprogramme zurückgefahren wurde, entschädigte man die Frauen verstärkt mit dem Binnen-I und ähnlichen Sprachkomplikationen.

 

Während die postmoderne Identitätspolitik einerseits ständig Menschen auf diverse Zugehörigkeiten und Herkünfte reduziert, übernimmt sie andererseits das frühbürgerliche, aufklärerische Pathos der "Beseitigung von Vorurteilen" und propagiert ungehinderten Marktzugang für alle und fairen Wettbewerb.

 

Der Hass, den die Bewohner verwahrlosender Arbeiterbezirke und -Städte gegen die sogenannte "Kulturlinke" empfinden, mag vor diesem Hintergrund verständlich werden. Die "Kulturlinke" wird nicht zu unrecht als eine Distinktionselite wahrgenommen, die sich den Luxus "humaner" Einstellungen leisten kann und damit die übrigen Elemente deklassiert. Die symbolischen Pseudopolitiken leisten somit einen nicht unerheblichen Beitrag dazu, dass die untere Mittelklasse immer mehr den Anschluss an den oberen Teil der Gesellschaft verliert. Diese zunehmende Aussichtslosigkeit hat wiederum zur Folge, dass diese Klasse weniger versucht, nach oben zu kommen, als vielmehr, nicht von nachdrängenden unteren Klassen - wie zum Beispiel ambitionierten Migranten - eingeholt zu werden.

 

Während die postmoderne Identitätspolitik einerseits ständig Menschen auf diverse Zugehörigkeiten und Herkünfte reduziert, übernimmt sie andererseits das frühbürgerliche, aufklärerische Pathos der "Beseitigung von Vorurteilen" und propagiert ungehinderten Marktzugang für alle und fairen Wettbewerb. Unter zunehmend ungleichen Startvoraus-setzungen aber erweist sich eine solche Politik nicht als fair, sondern schafft zusätzliche Unfairness. Denn sie setzt den Wettbewerb noch weiter außer Kraft, indem sie mehr als die Leistung eben diverse tatsächliche oder angebliche Handicaps in Rechnung stellt.

 

Aber selbst unter den günstigsten Bedingungen kann die Politik der "Nichtdiskriminierung" keine Gerechtigkeit schaffen: Wie der Theoretiker und Aktivist der Emanzipation der Schwarzen in den USA, Adolph Reed, treffend bemerkt hat, würden in einer solchen Gesellschaft weiterhin 1 Prozent der Menschen 90 Prozent der Ressourcen kontrollieren; nur wären Hautfarben und Sexualitäten eben gleichmäßig über die Ungleichheit verteilt. Wäre diese schiefe Ebene hingegen flacher oder gar waagrecht, dann wäre Diskriminierung erschwert oder sogar gänzlich unmöglich: denn es gäbe keine ungleichen Plätze mehr, auf die man die diversen Gruppen diskriminierend verteilen könnte.

 

Wenn man die Probleme der Identität und der Klasse von der Seite der Identität in Angriff nimmt, dann löst man darum meist keines von beiden. Wenn man sie aber von der Seite der Klasse in Angriff nimmt, dann löst man sehr oft alle beide. Denn in einer Gesellschaft, die sich auf Gleichheit zubewegt, werden den Menschen ihre Identitäten zunehmend egal. Sie achten dann nicht mehr darauf, was sie angeblich sind, sondern darauf, was sie werden können.

 

Dieser Text beruht auf einem Beitrag des aktuellen Bandes: Johannes Richardt (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik. Novo Argumente Verlag, Frankfurt/Main 2018, 194 Seiten, 16,00 Euro.

 

 

https://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/herkunft-ist-kein-ersatz-fuer-zukunft-2914/


 

 

Existentielle, materielle Probleme von Angehörigen

der Unterschichten werden nicht mehr ausreichend thematisiert.

 

Viele Leute sagen: ‚Oh, die da oben kümmern sich um gleichgeschlechtliche Toiletten,

aber sie kümmern sich nicht um unsere existentiellen Probleme‘.

 

Der Bedeutungszuwachs von Institutionen wie der EU hat in Teilen der Bevölkerung

ein verstärktes Gefühl der Exklusion und Machtlosigkeit hervorgerufen.

 

 

 

„Die Kosmopoliten müssen ihre kulturelle Arroganz ablegen“

 

Interview mit Michael Zürn - Novo - Argumente für den Fortschritt - 24.09.2018

 

Der Sozialwissenschaftler Michael Zürn legt den Konflikt zwischen kosmopolitisch eingestellten Globalisierungs-gewinnern und traditionell-nationalstaatlich orientierten Bevölkerungsgruppen dar.

 

Novo: Herr Professor Zürn, Sie sind Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans und dem Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel leiten Sie das Forschungsprojekt „Die politische Soziologie des Kosmopolitismus und des Kommunitarismus“. Worum geht es dabei?

 

Michael Zürn: Zu Beginn des Projekts, vor über fünf Jahren, hatten wir den Eindruck, dass sich eine neue Konflikt-landschaft nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in vielen anderen westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern, aber teilweise auch darüber hinaus herausgebildet hat. Der alte Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Links und Rechts, der im Prinzip das gesamte 20. Jahrhundert strukturierte, hat an Bedeutung verloren.

 

Dieser Gegensatz beruhte einerseits auf sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, die sich für einen starken Staat und Marktregulierung und Umverteilung einsetzten, und andererseits eher konservativen und liberalen Parteien, die für möglichst viel Markt und möglichst wenig Staatseingriffe plädierten. Dafür ist eine andere Konfliktlinie ent-standen, bei der es nicht mehr um das Verhältnis von Markt und Staat, sondern um die Bedeutung von Grenzen geht. Diejenige zwischen, wie wir sie nennen, Kosmopoliten und Kommunitaristen.

 

Können Sie beide Gruppen vorstellen? Fangen wir mit den Kosmopoliten an:

 

Die beiden Gruppen können an Hand dreier Dimensionen beschrieben werden: einer sozialstrukturellen, einer politisch-ideologischen und einer organisatorischen. Kosmopoliten sind ideologisch betrachtet die Gruppe, die sich in der Tendenz eher für offene Grenzen sowohl für Menschen als auch für Kapital und Güter einsetzen, die für universell gültige Individualrechte eintreten und den Transfer politischer Kompetenzen auf die europäische und globale Ebene befürworten. Sozialstrukturell gesprochen sind das häufig Globalisierungsgewinner: Menschen, die besser verdienen und gebildet sind, häufig mehrere Sprachen sprechen und eine internationale Orientierung aufweisen – also über sehr viel transnationales Sozialkapital verfügen. Organisatorisch stehen sie, idealtypisch gesprochen, grünen Parteien nahe, aber auch dem internationalistisch ausgerichteten, liberalen Flügel von konservativen oder sozialdemokratischen Parteien.

 

Und was kennzeichnet die Kommunitaristen?

 

Auf ideologischer Ebene betonen Kommunitaristen die normativen Bedeutungen von Grenzen. Ihrer Auffassung nach bedarf es der Grenzziehung, um überhaupt Demokratie und Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Demokratische Politik erfordert in ihren Augen eine nationale Gemeinschaft und einen Demos. Im Zweifel wird die Mehrheitskultur höher gewichtet als universelle Individualrechte. Der Transfer von politischer Autorität jenseits des Nationalstaats wird kritisch gesehen. Sozialstrukturell betrachtet handelt es sich eher um Globalisierungsverlierer: Menschen mit mittleren und niedrigeren Einkommen, etwas geringerer formaler Bildung als die Kosmopoliten, Leute, die nicht als Studenten oder Berufstätige ein, zwei Jahre im Ausland waren – kurzum: Menschen mit weniger transnationalem Sozialkapital. Sie organisieren sich vor allem im eher nationalen Flügel christdemokratisch-konservativer Parteien, aber auch im eher nationalen Flügel von sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien und, leider vor allem, in rechtspopulistischen Parteien.

 

Der von Ihnen eingangs erwähnte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit wurde vor allem in der politischen und ökonomischen Arena ausgefochten. Der Konflikt zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen hingegen scheint für mich vor allem ein kultureller Konflikt zu sein. Wie ist Ihre Einschätzung?

 

Es gibt in den Sozialwissenschaften hierzu zwei konkurrierende Sichtweisen: Die erste zielt auf die wachsende materielle Ungleichheit und ist somit eine ökonomische Erklärung. Die andere nimmt eher kulturelle Faktoren in den Blick. Die ökonomische Perspektive kann schon eine ganze Menge erklären. Wie ich dargelegt habe, gibt es systematische Differenzen zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern und systematische Differenzen zwischen höheren und niedrigeren Einkommensschichten. Allerdings bleibt bei diesem Ansatz manches fraglich, so zum Beispiel der Umstand, wieso sich Globalisierungsverlierer an rechtspopulistische und nicht etwa an linkspopulistische Parteien wenden, die unmittelbar mehr sozialen Schutz versprechen. Ebenso erklärt der Ansatz nicht, wieso das Potential rechtspopulistischer Wähler in fast allen OECD-Ländern – ganz gleich ob in Skandinavien mit nach wie vor begrenzten Ungleichheiten oder in neo-liberalen angelsächsischen Gesellschaften – irgendwo zwischen 15 und 30 Prozent liegt. Auch aus diesen Gründen erfährt der kulturelle Erklärungsansatz in den Sozialwissenschaften etwas mehr Unterstützung. Hierbei geht es vor allem um ethische Überzeugungen und die Zurückdrängung tradierter Werte. Aber auch um die Frage des trans-nationalen Sozialkapitals. Kann ich mit den Vorteilen, auch kultureller Art, der Globalisierung überhaupt etwas anfangen?

 

Die Betonung des Nationalen, der Heimat, des Kommunitären erscheint hier als eine Abwehrreaktion gegenüber den Erfordernissen einer globalisierten Welt. Auch die starke Betonung von sexuellen und kulturellen Minderheitenrechten durch die Kosmopoliten hat eine kulturelle Abwehrreaktion hervorgerufen. Viele Leute sagen: „Oh, die da oben kümmern sich um gleichgeschlechtliche Toiletten, aber sie kümmern sich nicht um unsere existentiellen Probleme“. Dieser kulturelle Konflikt hat zu einer enormen Polarisierung – auch einem Stadt-Land-Gegensatz – geführt. So hat Hillary Clinton bei der letzten US-Präsidentschaftswahl in den zehn größten Städten der USA über 80 Prozent der Stimmen erhalten, Trump in vielen ländlichen Regionen über 90 Prozent. Solche Zahlen gab es zu Zeiten des alten Rechts-Links Konflikts nicht. Selbst in Passau ist die CDU fast nie über 70 Prozent gekommen, aber auch die SPD hat in Duisburg oder Gelsenkirchen kaum über 60–65 Prozent erreicht.

 

Gibt es weitere Hintergründe für diesen Konflikt?

 

Ja. Fraglos spielen sowohl ökonomische als auch kulturelle Faktoren eine Rolle. Aber ich würde gleichzeitig noch eine dritte Dimension hinzufügen: nämlich eine politische. Der Bedeutungszuwachs internationaler Institutionen, wie der EU, aber auch von nicht-majoritären Institutionen, wie Zentralbanken oder Verfassungsgerichten, hat in den eher kommuni-taristisch orientierten Teilen der Bevölkerung ein verstärktes Gefühl der politischen, nicht nur der kulturellen, Exklusion und Machtlosigkeit hervorgerufen. Dies hat damit zu tun, dass in diesen Institutionen die kosmopolitische Position besonders stark ausgeprägt ist – stärker noch als in den Parteien. Insofern entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, sie wären von diesen nicht-majoritären Institutionen ausgeschlossen. Diese politische Erklärung ist meines Erachtens ebenfalls wichtig.

 

Sie werfen den Kosmopoliten ein nicht-majoritäres, elitäres Demokratieverständnis vor. Wie genau meinen Sie das?

 

Wie bereits erwähnt, geht der Kosmopolitismus mit der Stärkung von europäischen und internationalen Institutionen einher. Es wurden supranationale Institutionen geschaffen, die sowohl nationalstaatliche Institutionen als auch den politischen Wettbewerb zwischen Parteien, die unmittelbar gegenüber der Wahlbevölkerung rechenschaftspflichtig sind, geschwächt haben. Trotz eines Europaparlaments auf EU-Ebene haben wir eine Situation, in der es nur in einem sehr geringen Maß möglich ist, EU-Politik innerhalb des bestehenden politischen Rahmens demokratisch heraus-zufordern. Wenn Sie beispielsweise mit der EU-Politik in Bezug auf die Finanzkrise oder die Austeritätspolitik gegenüber Griechenland nicht einverstanden sind, haben Sie letztlich nur zwei Optionen: entweder zu sagen „Ich finde die EU schlecht“ oder „Na gut, ich finde die EU gut, also akzeptiere ich deren Politik“. Aus diversen Gründen wurden enorm einflussreiche Institutionen geschaffen, die wichtige Entscheidungen treffen, aber eigentlich dem politischen Wett-bewerb entzogen sind. So wurde der Kernbestandteil der majoritären Entscheidungsfindung in den Nationalstaaten – die Parlamente – extrem geschwächt.

 

Gleichzeitig kann die Reaktion auf die Probleme der Entscheidungsfindung in der EU nicht darin bestehen, zu sagen: „OK, dann entscheiden wir eben wieder innerhalb der Nationalgesellschaft, weil die demokratisch ist“. Das würde dem Prinzip der Demokratie auch nicht wirklich dienen. Es gibt Fragen, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Klima-wandel, die Grenzen überschreitende Effekte haben. Wenn z.B. in Amerika Entscheidungen wunderbar demokratisch getroffen werden, diese aber Effekte haben, die Menschen am anderen Ende der Welt betreffen, dann wird natürlich das demokratische Prinzip, wonach alle, die von einer Entscheidung betroffen sind, auch die Möglichkeit haben sollten, an der Entscheidung mitzuwirken, verletzt. Wir stehen also vor einem normativen Dilemma, aus dem es aus meiner Sicht nur einen Weg herausgibt: Zu versuchen, die internationalen und europäischen Institutionen zu demokratisieren. Der Weg zurück würde bedeuten, auf Technologie zu verzichten, die grenzüberschreitenden Effekte hat, und ich sehe nicht, wie das funktionieren kann. Und dann gilt es auch zu sehen: Die Kosmopoliten sind diejenigen, die die Demokrati-sierung internationaler Institutionen fordern.

 

Heute hört man oft den Satz: „Wir als Demokraten müssen den Populismus aufhalten.“ Dies impliziert ja auch irgendwie, dass Populisten keine Demokraten seien. Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, was Sie darüber herausgefunden haben, inwieweit der Demokratieaspekt den Populisten tatsächlich wichtig ist.

 

Es gibt populistische Gruppierungen, die es mit der Frage nach der Demokratie in souveränen Nationalstaaten ernst meinen. Gerade der skandinavische Populismus und Rechtspopulismus ist ein Stück weit auch durch das Demokratie-argument getragen, von der Sorge, ob kleine Länder als Teil der EU gegen große Länder wie Deutschland und Frank-reich überhaupt etwas ausrichten können. Das gilt aber nicht für den Großteil der populistischen Bewegungen. Diesen geht es vor allem um das Zurückschrauben der Globalisierung und den Wunsch der Nicht-Einmischung in den Willen nationaler Mehrheiten. Das ist etwas anderes als authentische, demokratietheoretische Überlegungen. Beim Erfolg der Populisten spielen die oben erwähnten ökonomischen, kulturellen und politischen Dimensionen des Konflikts zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen zusammen und tragen dazu bei, dass die rechtspopulistische Kernbotschaft, die einfachen Leute zu repräsentieren, funktioniert. Dabei hat der Rechtspopulismus im Prinzip zwei Komponenten: eine illiberale, gegen Individualrechte gerichtete und eine anti-pluralistische. Der Mehrheitsbegriff wird in gewisser Weise in Anschlag und Beschlag genommen und dabei gleichzeitig komplett de-prozeduralisiert. Wenn die FPÖ in Österreich etwa ihren Spitzenkandidat Heinz-Christian Strache auf Wahlplakat druckt und dazu schreibt „Er will, was wir wollen“, dann bringt das genau dies zum Ausdruck: Wir wissen, was die Leute wollen. Und manche, leider immer mehr, Leute glauben, dass die Straches dieser Welt tatsächlich wissen, was sie wollen.

 

Sie haben an verschiedenen Stellen die kulturelle Arroganz der Kosmopoliten kritisiert, die zwar viel über kulturelle Vielfalt sprechen, aber gerade mit kulturellen Praktiken der Mehrheitsgesellschaft häufig Probleme haben. Können Sie diesen Punkt etwas genauer erläutern?

 

Hinter dem Punkt verbirgt sich der Gedanke, dass viele Dinge, die zunächst mal im Geiste von Toleranz, Offenheit und Pluralismus in den öffentlichen Diskurs getragen worden sind – etwa Formen andersartiger Musik oder kulturelle Vielfalt – inzwischen fast schon zu, im bourdieuschen Sinne, Markern für soziale Distinktion geworden sind. Alle, die noch Volksmusik hören und nicht Weltmusik, alle, die nicht innerhalb des Berliner S-Bahnrings wohnen wollen, sondern lieber in Spandau oder Teltow, alle, die nicht homosexuelle Freunde haben, gelten in den Augen dieser kulturellen Elite schnell als irgendwie komisch und veraltet, sozial weiter unten angesiedelt. Es ist genau diese Art von kultureller Arroganz und sozialer Selbsterhebung, gegen die sich ein Großteil der Wut richtet.

 

Der Politikwissenschaftler Mark Lilla vertritt unter anderem in diesem Sammelband die Meinung, linksliberale Identitätspolitik hätte zum Wahlsieg Trumps beigetragen. Auf Deutschland bezogen hat Ihr Kollege Wolfgang Merkel in einem taz-Interview unter anderem die Diskurshegemonie der Kosmopoliten für den Aufstieg der AfD mit verantwortlich gemacht. Was ist Ihre Meinung dazu?

 

Ich denke, das spielt eine Rolle, und will einfach nur ein Beispiel nennen. Kurz nachdem die neue rot-rot-grüne Koalition in Berlin stand, war das Erste, was ich aus dem Regierungsprogramm gelesen habe – ich glaube im Tagesspiegel – die Frage der gleichgeschlechtlichen WCs. Das kommt in einer Stadt wie Berlin, wo wir tatsächlich eine Reihe von Probleme haben, die zumindest für die Mehrheit der Leute existentieller sind, nicht gut an. Ich hatte damals Handwerker im Haus, die alle nur den Kopf darüber geschüttelt haben, wieso dieses Thema bei einer Links-Links-Grün-Koalition so weit oben stehen kann. Hier zeigt sich die Diskurshegemonie der Kosmopoliten. So werden existentiellere, materielle Probleme von Angehörigen der Unterschichten nicht mehr ausreichend thematisiert. Aber noch wichtiger ist die bereits angesprochene Arroganz der liberalen Elite. Demnach ist mit der vielzitierten Forderung nach „Toleranz“ nicht gemeint, dass alle so sein dürfen, wie sie wollen, sondern vielmehr, dass gewisse von ihnen gesetzte Standards gelten, wie man zu sein hat oder was man denken soll. Dies ruft eine Gegenreaktion hervor. Soweit mein Eindruck. Leider gibt es relativ wenig Daten zum Thema.

 

Was müsste sich in unserer politischen Kultur ändern, damit wir als Gesellschaft wieder mehr dazu kommen, im besten republikanischen Sinne über echte Politik zu streiten?

 

Einmal geht es darum, dass die Kosmopoliten ihre kulturelle Arroganz ablegen müssen. Dann müssen wir die europäischen und internationalen Institutionen, die in den letzten 20 oder 30 Jahren im politischen Prozess an Bedeutung gewonnen haben, wieder für den politischen Wettbewerb öffnen. Ich denke dabei explizit nicht an eine Nationalisierung oder Renationalisierung, sondern vielmehr an eine Demokratisierung und die Einführung von politischem Wettbewerb in diesen Institutionen. Das ist meines Erachtens der zentrale Punkt. Und drittens muss die politische Elite im Zusammenhang mit international ausgehandelter Politik mehr Mut zur öffentlichen Debatte aufbringen. Inklusive der Bereitschaft, solche diskursiven Gefechte auch mal zu verlieren. Das ist notwendig, um wieder zu ergebnisoffenen politischen Auseinandersetzungen zu kommen.

 

Johannes Richardt (Hg.),  Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik,

Novo Argumente Verlag (13. Juni 2018).

 

https://www.novo-argumente.com/artikel/die_kosmopoliten_muessen_ihre_kulturelle_arroganz_ablegen