There are many “textbook truths” in biology:
the heart is a pump, the brain thinks,
the liver is a chemical factory, genes determine traits.
These “truths” are a mixture of metaphor, oversimplification,
and convenient models that are used to convey a picture of reality
to the learner. They help a learner wrap his or her mind
around something. But they are at best crutches,
and they openly distort the rich complexity of the living world.
CH
Volker Hess: Des Menschen „heiliges Organ”
Der Einfluss der Romantik auf das physiologische Verständnis des Herzens
In Kunst und Literatur wurde das Herz schon immer als ein besonderes Organ betrachtet. In keiner Phase der deutschen Dichtung wurde aber eine derart vielschichtige Symbolik des Herzens entwickelt wie in der Romantik. Sie gewann ihre Metaphern nicht nur aus einer alltagssprachlichen Tradition, sondern bezog sehr bewusst auch fach-wissenschaftliche Vorstellungen der Zeit mit ein. So ist es unstrittig, dass die Dichtung der Frühromantik sowohl an die große philosophische Debatte der Wende zum 19. Jahrhundert anknüpfte, als auch Elemente und Vorstellungen der zeitgenössischen Medizin aufgriff und verarbeitete. Große Skepsis wird oft aber der Frage entgegen gebracht, ob, und wenn, wie überhaupt romantische Ideen und Konzeptionen in umgekehrter Weise fachwissenschaftliche Frage-stellungen beeinflusst haben. Dies gilt besonders für das Schwerpunktthema dieses Heftes. Denn es lässt sich kaum ein größerer Gegensatz vorstellen als die romantischen Schwärmereien über das Herz als Quelle aller Liebe und Ursprung wahrer Naturempfindung einerseits und die nüchternen Erörterungen über die Funktionsabläufe der Herzmechanik andererseits. Gleichwohl scheint die moderne Herzphysiologie möglicherweise mehr der Romantik verpflichtet, als ihr lieb ist. Der Medizinhistoriker Priv.-Doz. Dr. Volker Hess geht in seinem Beitrag diesem kulturgeschichtlichen Zusammen-hang nach.
Auf den ersten Blick lässt sich kaum ein Zusammenhang zwischen der romantischen Idealisierung des Herzens und seiner physiologischen Erforschung vermuten – zumindest nicht, wenn man diese Verbindung in einer direkten Be-einflussung oder unmittelbaren Vermittlung sucht. Erst auf einen zweiten Blick lassen sich die feinen und indirekten Verbindungslinien entdecken, die zwischen der romantischen Kunst und Dichtung und der entstehenden Herzphysio-logie vermitteln. Dafür ist es erforderlich, die romantische Idealisierung auf die selbstverständlichen Vorstellungen der damaligen Zeit zurückzubeziehen, um das Neue oder spezifisch Andere dieser romantischen Herzvorstellungen identifizieren zu können. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich leichter erkennen, auf welche Weise möglicherweise romantische Ideen in die physiologische Erforschung des Herzens eingeflossen sind.
Meine Argumentation umfasst folglich drei Teile: Zunächst werde ich auf das Menschenbild eingehen, das traditionellen Herzvorstellungen zugrunde liegt. Anschließend möchte ich versuchen, einen Bogen von der Wiederbelebung solcher Vorstellungen in der frühromantischen Philosophie und Dichtung zur naturphilosophischen Medizin dieser Zeit zu schlagen, bevor im dritten Teil die möglichen Auswirkungen der romantischen Ideen auf die Herzphysiologie des 19. Jahrhunderts zur Diskussion gestellt werden.
Das Herz als „Leibseele”
Einen ersten Hinweis gibt der heutige Sprachgebrauch des Wortes ,Herz’, in dessen mehrdeutiger Verwendungsweise traditionelle Vorstellungen und Konzeptionen anklingen. Wir sprechen beispielsweise von einem herzlosen Menschen, von einer Herz erweichenden oder zerreißenden Geschichte, wir sagen, dass uns das Herz in die Hose rutscht oder wir uns das Herz erleichtern. In diesen Redewendungen verstehen wir unter ,Herz’ aber nicht jenen tief im Innern der Brust verborgenen Hohlmuskel, sondern einen nicht näher bestimmten Sitz der Seele und des Gemüts, den Ursprung von moralischer Empfindung und Verantwortung. Diese „uneigentliche” Bedeutung verweist auf ein anderes Verständnis des Herzens, das sich nicht mit dem naturwissenschaftlichen deckt, sich aber in diesen Redewendungen erhalten hat.
Das belegt auch das Deutsche Wörterbuch. Nahezu alle der von den Gebrüdern Grimm in der Mitte des 19. Jahr-hunderts unter dem Stichwort ,Herz’ zusammengetragenen Redewendungen sind heute noch geläufig. Nur eine von zehn Bedeutungen, die für das Herz „im eigentlichen Sinne” angeführt werden, bezeichnet das anatomische Körper-organ, eine weitere beschreibt in bildhafter Weise das Herz als den Mittelpunkt des Leibes und Quelle aller Lebenskraft. Alle anderen kennzeichnen das Herz im übertragenen Sinne als Sitz menschlicher Gemütsbewegungen wie die der Zu- oder Abneigung oder sogar als Hort von Mut, Entschlossenheit, Gewissen oder Gesinnung. Das ,Herz’ wird nicht allein auf einen körperlichen, sondern zugleich auch auf einen seelisch-geistigen Bereich bezogen.
Diesem Verständnis liegt ein Menschenbild zugrunde, nach dem das Gehirn Verstand und Vernunft, das Herz dagegen Gefühle und Empfindungen beherbergt. Der für die europäische Kultur typische Gegensatz und Rangstreit zwischen ,Kopf’ und ,Herz’ lässt sich bis weit in die griechische Antike zurückverfolgen. Wurzeln dieser Vorstellung finden sich bereits in der griechischen Naturphilosophie, in der Körper und Geist bzw. Seele als getrennte Teile des Menschen begriffen und die Tätigkeiten der Seele und des Geistes bestimmten Regionen des Körpers zugeschrieben wurden.
In der griechischen Naturlehre mündete die analytische Differenzierung der menschlichen Psyche schließlich in die Zuordnung der psychischen Vermögen zu bestimmten Organen.(Vgl. hier und folgend Stockinger 1996)
Der alltägliche Sprachgebrauch deckt folglich einen traditionellen Bedeutungsbereich auf, der erst allmählich durch medizinische oder fachwissenschaftliche Vorstellungen überlagert worden ist. Wesentlichen Anteil daran hatten die philosophischen und medizinischen Debatten der Aufklärung, in denen das Herz seine Bedeutung als Sitz der Seele
und des Gefühls verlor. Einerseits wurden Körper und Seele in Gegensatz gebracht. So hatte der französische Philosoph René Descartes streng zwischen der materiellen und geistigen Natur des Menschen unterschieden und nur eine einzige Vermittlungsinstanz zwischen körperlichem Geschehen und seelischen Prozessen gelten lassen, die er in der Zwirbel-drüse im Gehirn ansiedelte. So reduzierte der cartesische Dualismus das Herz auf ein rein anatomisch zu verstehendes Organ und ebnete der medizinischen Erforschung der mechanischen Herzaktion und Kreislaufphysiologie den Weg. (Fuchs 1992) Anderseits hatten die psychologischen Konzeptionen der Aufklärung mit dem ihr eigenen Vertrauen in die Kraft der Vernunft die verschiedenen seelischen Vermögen hierarchisiert und dem Verstand untergeordnet. Gefühl und Empfindung wurden gegenüber dem als höher erachteten Verstand abgewertet, Liebe oder sinnliche Begierde gegen-über dem vernünftigen Willen als ein niederes Begehrungsvermögen angesehen. Ende des 18. Jahrhunderts waren sich die Gelehrten weitgehend einig, dass dem Herz keine besondere Bedeutung bei der Vermittlung seelischer Prozesse zukomme. Vielmehr stand die weitergehende Frage zur Debatte, ob man der Seele überhaupt einen räumlichen Ort im Körper zuweisen könne. Während Philosophen wie Immanuel Kant dies heftig bestritten, suchten Anatomen wie Tho-mas Samuel Soemmering das Seelenorgan des Menschen in seinem Gehirn. (McLaughlin 1985.)
Das romantische Herz als Einheit und Gegenpol
Als geistige Bewegung steht die Romantik in den Augen nicht weniger Wissenschafts- und Kulturhistoriker vor einem besonderen Rechtfertigungszwang. Schließlich gilt sie bis heute als ein Ausbund von Spekulation und Irrationalismus. Die Romantik wird als eine Epoche der Flucht aus der politischen, sozialen und ökonomischen Verantwortung ange-sehen, als ideologische Begründung des ewig Reaktionären und der Forcierung eines nationalen, wenn nicht gar na-tionalistischen Denkens. Auch wird die Romantik ganz besonders der schrankenlosen Subjektivität, des Mystizismus
und der Fetischisierung der Natur beschuldigt. Kurzum: Die Romantik wird nicht nur im Gegensatz zur Aufklärung, sondern als Aufhebung ihrer Vernunftmaximen betrachtet. (Zusammengetragen findet sich dieses Sündenregister
bei Brinkmann (1978), 7f., 20-22. Einen guten Überblick zum Verhältnis von Romantik und Wissenschaften geben die Sammelbände von Brinkmann 1978 sowie von Cunningham / Jardine 1990.)
In der Tat richtete sich die frühromantische Bewegung dezidiert gegen die als steril und geistlos empfundene Aufklärungsphilosophie und ihren Kunstbegriff (Vgl. Friedrich Schlegel: Über Lessing (1797)). Sie propagierte statt dessen eine intellektuelle oder ästhetische Anschauung, mit der in Form einer poetischen Produktion der Gegensatz
von Natur und Geist aufgehoben und als Einheit begriffen werden sollte. Dabei griffen viele Romantiker die traditionelle Vorstellung von der seelisch-körperlichen Doppelnatur des Herzens auf und bauten diese in einem mehr als nur metaphorischen Gebrauch zu einer wichtigen Figur der romantischen Symbolsprache aus. Das Herz bekam eine zentrale Rolle als das für Naturerkenntnis prädestinierte Organ. Seine „Ausbildung” ist für Novalis das Kennzeichen oder „der Karakter unsrer ächten Perfectibilität”. Es ist mit einem Wort „des Menschen sein heiliges Organ” (Novalis, Hemster-huis-Studien (1797), Werke Bd. II, 214; Christenheit (1799), Werke Bd. II, 749.). Es ist hier jedoch nicht der Raum, um weiter auf die romantische Herzsymbolik einzugehen. (Vgl. hierzu Frank 1989; Stockinger 1996). Für unsere Frage entscheidend ist, dass mit der romantischen Kritik an der einseitigen Überhöhung der Vernunft durch die Aufklärung nicht nur die „niederen” Erkenntnis- und Begehrensvermögen aufgewertet wurden, sondern mit ihnen auch das Herz als traditioneller Sitz der Gefühle und Empfindungen wieder dem Bereich des Seelisch-Geistigen zugerechnet wurde.
Als das leibliche Korrelat des Empfindungsvermögens verkörperte es nun sowohl den Gegenpol zu Verstand und Vernunft als auch das anzustrebende Ideal einer Einheit aller menschlichen Geistesvermögen. Man darf allerdings
nicht glauben, dass diese Verkörperlichung geistiger Vermögen so weit gegangen wäre, dass das Herz nun gleich
dem Gehirn als „materielle Organisation” der psychischen Fähigkeiten betrachtet wurde. Doch die Beobachtungen
und Befunde der zeitgenössischen Anatomie und Physiologie stellten sich unter der romantischen Perspektive in
einem neuen Lichte dar.
Das galt ganz besonders für die Ansichten über das Nervensystem. Schon lange hatten Wissenschaftler die beidseits
der Wirbelsäule vom Kopf bis zum Steißbein verlaufenden, durch häufige Knoten und Anschwellungen unterbrochenen Nervenfäden zwar als eine eigene anatomische Struktur unterschieden, sie jedoch als Nerven gleich anderen Gehirn- und Rückenmarksnerven angesehen.(Buff 1835, 168.) Erst um 1800 billigte der französische Anatom Xavier Bichat dem autonomen Nervensystem (Das vegetative Geflecht sympathischer und parasympathischer Nervenstränge wird im Folgenden durchgängig mit dem damaligen Begriff „Gangliensystem” bezeichnet, um die Bedeutungsüberschnei-dungen zwischen den unterschiedlichen zeitgenössischen und heutigen Begrifflichkeiten zu vermeiden.) eine eigen-ständige Bedeutung zu, die er als animalisches oder vegetatives System bezeichnete.
Doch welche Bedeutung sollte die anatomische Unterscheidung eines besonderen Gangliensystems haben? Hatte Bichats Differenzierung mehr auf die anatomische Abgrenzung als auf die physiologische Funktion abgehoben, so entbrannte in den Jahren um 1800 unter den Ärzten die Frage, in welcher Weise sich die physiologische Eigenständig-keit dieser sich in den Brust- und Bauchorganen verzweigenden Struktur äußere.
Diese Frage scheint auf den ersten Blick lediglich eine rein medizinische Problemstellung zu umreißen. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sich dahinter auch eine philosophische Frage verbirgt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von geistigen Fähigkeiten und materieller Organisation – also eine der Grundfragen, die die romantische Naturphilosophie umtrieb.
In dieser Debatte stach besonders Johann Christian Reil hervor, der mit seinem Archiv für Physiologie eines der ersten fachwissenschaftlichen Foren geschaffen hatte. Ausgebildet in der Philosophie Kants, vertrat der Hallenser Anatom und Kliniker den Standpunkt einer „geläuterten Empirie”. Dies bedeutete für ihn, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nur
auf empirischem Wege gewonnen werden könnten, sich dann aber der theoretischen und philosophischen Reflektion
zu unterwerfen hätten.
In mehreren Beiträgen hatte Reil sich mit anatomischen Fragen zum Gehirn und Nervensystem beschäftigt. Dabei hatte er zunächst prinzipiell das Seelische als eine Eigenschaft definiert, das zwar in „feineren” und damit kaum erkennbaren Materien aufgehoben, aber nichtsdestotrotz materiell sei. In seinen verschiedenen Schriften über die Seelentätigkeit und das Gemeingefühl koppelte er die Seele an die Hirntätigkeit an und identifizierte sie weitgehend mit den psychi-schen Vorgängen (Mocek 1995, 179). Auch wenn es „zuverlässig im Nervensystem auch eigne Herde (Knoten, Geflechte)” gäbe, so stand doch für Reil außer Frage, dass im Gehirn alle Gefühle und Vorstellungen wie in einem Zentrum zusammenlaufen. Lediglich bei Geisteskrankheiten könnten solche Zentren „als Rebellions-Oberhäupter ihre eigenen Züge, unabhängig vom Gehirn leiten” (Reil 1803, 50, 62f.). In seiner 1807 publizierten Untersuchung über die Eigen-schaften des Gangliensystems und sein Verhältnis zum Zerebralsystem mischten sich in diese nüchterne Erörterung anatomischer und klinischer Beobachtungen neue Töne, die nun auch im Sprachduktus ganz in der Welt romantischer Formeln schwelgen. Im Rückgriff auf die naturphilosophische Gedankenwelt der Romantik versuchte Reil die komplizierte Beziehung zwischen Gehirn und Gangliensystem mit einer Analogie zu einer neuen physikalischen Entdeckung zu erfassen: Gleich einem Halbleiter isoliere das Gangliensystem und schirme das Gehirn von der Gefühlswelt ab. Erst bei starken Reizen schwinde seine Trennung und Unabhängigkeit vom Gehirn, sodass Gefühl
und Empfindung ins Zerebralsystem übertreten und dort Affekte und Leidenschaften entfachen. Damit war Reil einer der Ersten, wie der Wissenschaftshistoriker Reinhard Mocek feststellt, der eine durchaus plausible physiologische Erklärung sowohl für den Gegensatz als auch für die Einheit von Emotion und Verstand gab. (Mocek 1995, 157)
Diese Deutung trennt also das seelische Geschehen, das für die Gefühlswelt verantwortlich gemacht wird, vom Verstand als selbständig ab und weist ihm ein eigenes morphologisches Korrelat zu. Sie entspricht nicht nur dem romantischen Impetus, die unterschiedlichen psychischen Vermögen des Menschen nicht vorbehaltlos dem Primat der Vernunft zu unterstellen. Sie reflektiert mit dem Gedanken einer polaren Organisation und Stufenfolge der lebendigen Systeme zugleich auch wesentliche Grundprinzipien der romantischen Naturphilosophie. Wenn Reil nämlich das Zerebral- und Gangliensystem als physiologische Organisationsprinzipien begreift und für den Gegensatz ihrer psychischen Tätigkeit eine Theorie der dynamischen Koordination entwirft, dann wird die romantische Idee, den Widerstreit von Gefühl und Verstand als polare Potenzen (Vermögen) der Psyche, deren Polarität auf einer übergeordneten Ebene bzw. bei Potenzierung in einem Ganzen aufgeht, zu begreifen, in eine empirisch anwendbare Hypothese übersetzt. Reils physiologische Interpretation der anatomischen Struktur lässt das methodologische Potential naturphilosophischer Spekulation für eine empirische Naturforschung erkennen (Vgl. hierzu Lohff 1990). Man mag sich in der Wissenschafts-geschichte nach wie vor streiten, ob Reil zu den naturphilosophischen Ärzten der Romantik zu zählen ist. Sicher jedoch ist, dass sich seine Erklärung ohne Schwierigkeiten in die spekulativen Entwürfe der romantischen Naturphilosophie einfügte (Vgl. Schubert 1862, 128-131).
Die „planvolle Ordnung” des Herzens
Beim Blick in die physiologischen Handbücher der 1840er Jahre wird man kaum noch eine Spur vom Herz als einem Organ der Gefühle und der Leidenschaften entdecken. Auch finden sich keine Anklänge an das „heilige Organ” der Romantik. Sachlich und nüchtern werden stattdessen die anatomischen Grundlagen der Herzaktion beschrieben und der Verlauf der Druckverhältnisse mithilfe der ersten manometrischen Messungen erklärt (Kürschner 1844). Zu
diesem Zeitpunkt hatten sich die medizinischen Wissenschaften längst für eine naturwissenschaftliche Orientierung entschieden und zur experimentellen Methodik bekannt. Was hat also die im Spannungsfeld der romantischen Naturphilosophie geführte Debatte um die physiologische Funktion des Gangliensystems mit der Herzphysiologie zu schaffen? Es ist leider unumgänglich, hier etwas genauer auf die zeitgenössische Herzphysiologie einzugehen.
Eine zentrale Frage, die Anatomen und Physiologen seit dem 18. Jahrhundert beschäftigte, war die selbsttätige Herzaktion. Das Phänomen war seit langem bekannt: Wenn man einem lebenden Versuchstier das Herz herausschnitt, so war dieses – und das über Stunden – zu Kontraktionen fähig. Im 18. Jahrhundert hatte man dieses Phänomen als prinzipielle Erregbarkeit der Muskulatur gedeutet und als physiologische Lebenseigenschaft betrachtet. Doch damit waren die Physiologen in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zufrieden. Zwar sei „die Gegenwart der irritablen Fasern [des Herzens] und eines Reizes, wie Luft oder Blut, vollkommen ausreichend, die Bewegung des Herzens im Allgemeinen verständlich zu machen”. Wer aber „aufmerksam die Pulsationen eines ausgeschnittenen Herzens mit den Zuckungen eines ausgeschnittenen Zwerchfells” vergleiche, der werde „die planvolle Ordnung der ersten [und] den zwecklosen Tumult der letzteren nicht aus einem Principe” herleiten wollen: „Warum contrahiren sich die linke und die rechte Hälfte des Herzens gleichzeitig? Warum erfolgt die Systole der Vorhöfe früher als die der Ventrikel, und warum
ist der Puls in den einen nie frequenter als in den anderen? Man scheint an die Möglichkeit solcher ungeregelten Be-wegungen [bislang] gar nicht gedacht zu haben” (Volkmann 1844, 503 (Italics mine)).
Was die Physiologen also besonders faszinierte, war der koordinierte Ablauf der Herzbewegungen. Doch worin
bestand das „ordnende Prinzip”? Die experimentellen Beobachtungen waren uneindeutig. Einerseits kam ein zentraler Steuerungsmechanismus nicht in Frage, da mit der Herauslösung des Herzens aus dem Körper jede nervale Verbindung zu Rückenmark und Gehirn unterbrochen war. Andererseits war ein Einfluss des Zerebralsystems nicht in Abrede zu stellen, da die elektrische Reizung sehr unterschiedlicher Hirnareale in einer Vielzahl von Tierexperimenten zu einer Änderung der Herzbewegung führte. Auch Hilfskonstruktionen wie die Überlegung, dass ein vom Zerebralsystem vermitteltes „Nervenfluidum” auch nach einer solchen Durchtrennung im Herznerven die Erregung des Herzmuskels unterhalte, half nicht weiter, da andere vom Gangliensystem innervierte Organe wie die Lymphherzen des Frosches
ihre rhythmischen Pulsationen bei ähnlichen Experimenten verloren. Die naturwissenschaftliche Empirie allein lieferte also keine schlüssige Erklärung. Erst recht nicht, wenn man – wie dies viele Physiologen taten – „die Stellung des Gehirns, als Centralorgan der Empfindung, auch für die vom Sympathicus versorgten Theile als erwiesen” ansah. (Ebenda, 504)
Für die Interpretation dieser widersprüchlichen Beobachtungen lieferte das „romantische” Ganglienmodell jedoch eine passende Vorlage. Reils Erklärungsansatz lief darauf hinaus, einen unabhängigen und in gewisser Weise selbständig tätigen Gegenspieler neben dem Gehirn zu etablieren, der nicht der willkürlichen Kontrolle unterworfen ist. Vielmehr sind seinem Modell zufolge die „mehr oder weniger deutliche[n] Empfindung[en], Gefühle und Wahrnehmungen” ebenso wie die Bewegungen der vom sympathischen Gangliensystem innervierten Organe der willentlichen Steuerung entzogen, obwohl zugleich eine zwischen Gehirn und Gangliensystem vermittelnde Koordination stattfinde (Buff 1835, 165f).
Auf diese Konzeption eines halb selbständig, halb koordinierten Gangliensystems griffen Physiologen wie Johannes Müller oder Alfred Wilhelm Volkmann zurück, wenn sie aus den widersprüchlichen Experimenten den Schluss zogen, dass „als mögliches Centrum [der Bewegungsinnervation] nur noch das sympathische Nervensystem mit seinen Ganglien übrig” bliebe (Volkmann 1844, 502). Mehr noch: Die Annahme eines eigenständigen „Zentralorgans” erlaubte auch, das Gangliensystem als das „materielle Substrat des [gesuchten] regulirenden Princips” zu verstehen. Die Vorstellung eines einerseits autonomen, andererseits aber mit dem Rückenmark und Gehirn verbundenen und
koordinierten Nervensystems lieferte nicht nur eine plausible Deutung für die diffizilen anatomischen Verhältnisse
der zwischen dem Rückenmark und Sympathikus kommunizierenden Nervenfasern oder für die Zuordnung der neu entdeckten Faserbündel zum ganglionären Herznervensystem. (1846 beschrieb Johann Evangelista Purkyn die peripheren Fasern des Herzleitungssystems) Auch für die Interpretation der unterschiedlichen Reizexperimente bot
sich dieses Modell an, da man mit ihm die Reizung zentralnervöser Gehirn- und Rückenmarksstrukturen als „Reflex- tätigkeit” des Gangliensystems erklären konnte.
Selbst die spekulative Analogie zwischen Gangliensystem und physikalischem Halbleiter blieb nicht unfruchtbar. Schon der Berliner Physiologe und Anatom Johannes Müller, der seinen Schülern den Weg zur Elektrophysiologie wies, hatte mit dieser Analogie nicht nur seine Beobachtung interpretiert, dass sich die experimentelle Reizung von sympathischen Nervenfasern wesentlich langsamer ausbreite als bei anderen Nerven. Darüber hinaus erklärte er die rhythmischen Pulsationen innerer Organe wie des Herzens als periodischen Übergang des „Nervenfluidums”, das durch die Halbleiter-funktion der ganglionären Fasern zunächst gebunden, beim Maximum der Aufladung aber plötzlich an die Muskeln abgegeben werde (Vgl. Buff 1844, 75).
Auf diese Weise entwickelten die „nachromantischen” Physiologen auch die heutige Physiologie noch prägende Vorstellungen, mit denen sich die dem Herzen eigentümlichen Bewegungsmuster erforschen ließen. Hierzu zählt die Konzeption eines eigenständigen oder autonomem Regulationszentrums, das sowohl die Empfindung des Herzens registriert als auch seine Bewegungen steuert, zugleich aber auch das Zusammenspiel zwischen Gehirn und auto-nomem Nervensystem in einer geordneten Einheit integriert. Man wird zwar nicht behaupten können, dass der Vorstellung einer biologischen Regulation allein die naturphilosophische Idee einer sich potenzierenden Polarität zugrunde liege. Dennoch wird man den nachromantischen Physiologen zugestehen müssen, dass sie noch vor
Claude Bernard (dem man als Begründer der französischen Experimentalphysiologie die Konzeptualisierung des Regulationsbegriffs gerne zuschreibt) (Canguilhem 1979) aus der naturphilosophischen Idee eines polar organisierten, aber in Einheit wirkenden Nervensystems die Theorie eines regulierenden Prinzips entwickelten.
Die Autonomie des Herzens – eine romantische Idee?
Der Kontrast zwischen der romantisierenden Verklärung des Herzens und seiner physiologischen Charakterisierung könnte kaum größer sein. Auf der einen Seite ist das Herz eine oft gebrauchte Metapher für Liebe und Leidenschaften, auf der anderen ein elektrisch stimulierter Hohlmuskel und Organ der Kreislaufregulation. Diese Form der Differenzie-rung zwischen einer symbolischen und eigentlichen Bedeutung ist das Resultat eines langen, für den europäischen Kulturkreis spezifischen Auseinandergehens zwischen den in der Alltagssprache tradierten Vorstellungen und dem fachwissenschaftlichen Diskurs. Zwischen der wissenschaftlichen Erklärung und den in geläufigen Redewendungen bezeugten symbolischen Bedeutungen scheint eine unüberbrückbare Kluft zu liegen.
Wie der kurze Ausblick in die Geschichte historischer Herzkonzeptionen jedoch gezeigt hat, haben diese beiden Welten mehr gemeinsam, als man vielleicht glauben mag. Zwar reicht die Kluft zwischen der fachwissenschaftlichen und der alltagsprachlichen Deutung des Herzens weit in die Geschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaften zurück, doch gab es immer wieder Bemühungen, diese zu überwinden. Zu diesen zählt die Frühromantik, die sich die Aufgabe gestellt hatte, die Differenzierungen der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft zu überwinden bzw. ihre Folgeschäden zu kompensieren. So wurde in der romantischen Dichtung die Differenz zwischen den fachwissenschaftlichen und alltags-sprachlichen Bedeutungen aufgenommen und für eine philosophische Reflexion herangezogen, in der eine Einheit
des Körperlichen und des Geistig-Seelischen behauptet werden sollte (Stockinger 1996, 175).
Die Bedeutungserweiterung, die damit das Herz als „heiliges Seelenorgan” der Romantik erfuhr, eröffnete auch der empirischen Forschung eine andere Sichtweise auf den Gegensatz von „Kopf” und „Herz” beziehungsweise auf ihre materiellen Korrelate. Denn das romantische Streben nach einer vermittelnden Einheit beider und nach einer Gleichberechtigung von Verstand und Empfindungen verlangte auch eine andere Interpretation der ihnen zugrunde liegenden „Organe”. So liegt der Einfluss der Romantik auf die Herzphysiologie weniger in der Übertragung der romantischen Symbolsprache auf medizinische Konzepte. Vielmehr wurden jene idealistischen Prinzipien, mit deren Hilfe die romantische Naturphilosophie die Einheit von Geist und Natur herleiten wollte, auch auf die Deutung medizinischer Phänomene übertragen. Welches Potential dieser Ideentransfer bieten konnte, verdeutlicht Reils Konzeption eines eigenständigen Gangliensystems. Sie gab der physiologischen Frage nach der Wechselwirkung zwischen den inneren Organen nicht nur eine neue Perspektive, sondern stellte auch ein Modell bereit, das für die weitere Forschung fruchtbar werden sollte. So gehen entscheidende Entdeckungen zur nervalen Versorgung des Herzens und zur Regulation seiner Tätigkeit auf jene andere Betrachtungsweise zurück, die der romantischen Vor-stellung eines „heiligen Herzens” zugrunde lagen. In gewisser Weise könnte man auch die physiologische Konzeption des Herzens als eines autonom und zugleich zentral regulierten Organs als eine eigentlich zutiefst romantische Idee begreifen. Vielleicht ist die Kluft, die die alltägliche Symbolik und fachwissenschaftliche Vorstellungen zu trennen
scheint, doch gar nicht so groß – und die moderne Herzphysiologie möglicherweise mehr der Romantik verpflichtet,
als ihr lieb ist.
Literatur
Brinkmann, Richard: Romantik als Herausforderung. Zu ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Rezeption. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion [=Sonderband der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte]. Stuttgart 1978, 7-37.
Buff: Gangliensystem. In: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften. Hrsg. von der medicinischen Fakultät zu Berlin. Bd. 13. Berlin 1825, 167-212.
Canguilhem, Georges: Die Herausbildung des Konzeptes der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert (frz. 1974). In: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. Wolf Lepenies. Frankfurt/M. 1979, 89-109.
Cunningham, Andrew and N. Jardine (Hrsg.): Romanticism and the Sciences. Cambridge, New York, Port Chester etc. 1990.
Frank, Manfred: Das Motiv des „kalten Herzens” in der romantisch-symbolistischen Kultur. In: Kaltes Herz – Unendliche Fahrt – Neue Mythologie. Motivuntersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt/M. 1989, 11-49.
Fuchs, Thomas: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs. Frankfurt/M. 1992.
Grimm, Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4.2. Leipzig 1877, Sp. 1207-1223.
Kürschner, G.: Herz. In: Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf die physiologische Pathologie. Hrsg. Rudolph Wagner. 2. Bd. Braunschweig 1844, 30-107.
Lohff, Brigitte: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik [=Medizin in Geschichte und Kultur, 17]. Stuttgart 1990.
McLaughlin, Peter: Soemmering und Kant: Über das Organ der Seele und den Streit der Fakultäten. In: Samuel Thomas Soemmering und die Gelehrten der Goethezeit. Hrsg. Gunter Mann und Franz Dumont [=Soemmering-Forschungen, Bd. 1], Stuttgart, New York 1985, 191-201.
Mocek, Reinhard: Johann Christian Reil (1759-1813) [=Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Studien und Quellen, 28]. Frankfurt/M.1995.
Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. 3 Bde. München, Wien 1978-1987.
Reil, Johann Christian: Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältnis zum Cerebral-System. Archiv für Physiologie 7 (1807), 189-254.
Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. 4. Aufl. 1862.
Stockinger, Ludwig: „Herz” in Sprache und Literatur der Goethezeit. Goethe – Novalis – Hauff. In: Das Herz im Kulturvergleich. Hrsg. von Georg Berkemer und Guido Rapp. Berlin 1996, 173-209.
Volkmann, A.W.: Nervensystem. In: Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf die physiologische Pathologie. Hrsg. Rudolph Wagner. 2. Bd. Braunschweig 1844, 476-627.
https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2000_01/00_01_hess/index.html
Branko Furst, The Heart and Circulation
https://www.natureinstitute.org/review/craig-holdrege/new-book-on-the-heart-and-circulation
Branko Furst, Autonomie der Blutbewegung
https://www.salumed-verlag.de/gesamtverzeichnis/autonomie-der-blutbewegung.html
Branko Furst, Albany Medical College | AMC · Department of Anesthesiology; MD
https://www.researchgate.net/profile/Branko-Furst
Branko Furst, Autonomie der Blutbewegung?
Einige Anthroposophische Ärzte verweisen gerne auf die Außenseiterposition des anthroposophischen Anästhesisten und US-amerikanischen Kardiologen Branko Furst vom Albany Medical College, der die provokante, aber spekulative Behauptung von Rudolf Steiner aufgegriffen hat, dass das menschliche Herz keine Pumpe sei. Dass das Herz eine Pumpe sei, ist freilich nur eine schmematische und verkürzende Behauptung, die die etwas allzu mechanistische,
aber zumindest in der Herzchirurgie verbreitete Standard-Modell-Vorstellung, dass das Herz funktionalistisch be-trachtet nur eine Pumpe sei, die das ansonsten träge Blut durch den Blutkreislauf zu pumpen habe.
Rudolf Steiners provokante Infragestellung, aber empirisch unbegründete Negation, dass das Herz keine Pumpe sei, scheint mir jedoch zumindest ebenso fragwürdig zu sein, solange sie auch nur schematisch bleibt. Vor allem aber die umgekehrte spekulative These von einem angeblich autonomen und aktiven Blutkreislauf, der das angeblich passive Herz bewege, scheint mir ziemlich abenteuerlich zu sein. Denn erstens hört ein gesundes Herz nicht gleich auf zu schlagen, wenn es einem Menschen entnommen wird, sondern schlägt autonom und aktiv weiter. Zweitens lässt sich der Blutkreislauf eines Patienten in der zeitgenössischen Humanmedizin erfahrungsgemäß durch ein externes mecha-nisch pumpendes Gerät erhalten und drittens lassen sich menschliche Herzen bis zu einem gewissen Grad durch interne künstliche Herzprothesen aus Kunststoff ersetzen, die eben die Pump-Funktion für einige Zeit übernehmen können.
Die etwas mechanistisch klingende, funktionalistische Standard-Modell-Vorstellung, dass das Herz eine biodynamische Art von Pumpe sei, lässt sich demzufolge nicht ganz von der Hand weisen. Es handelt sich eben um den mechanischen oder funktionalen Aspekt des Herzens im System des Blutkreislaufes. Richtig finde ich jedoch, dass man die Natur des Herzens nicht auf diesen mechanischen oder funktionalen Aspekt reduzieren kann, wie das nur allzu oft in der erfolg-reichen Herzchirurgie geschieht. Außerdem gibt es verschiedene Arten von Pumpen und das Herz ist sicherlich keine mechanische Pumpe, die sozusagen mit der Kraft eines Motors und von einer zentralen Steuerungseinheit im Gehirn aus das Blut durch den Kreislauf pumpt. Die Sache ist komplizierter, da das Herz ein biophysisches Organ im gesamten Organismus ist, mit einer dynamischen Selbstbewegung von Schlagbewegungen im komplizierten Blutkreislauf, der die Lunge und das System der Aorten und Venen mit vier dynamischen Herzkammern und sensiblen Herzklappen umfasst. Außerdem gibt es komplizierte psychosomatische Wechselwirkungen, die durch das Gehirn und Nervensystem sowie durch hormonelle Equilibrien mit dem Blutdruck von Diastole und Systole sowie mit dem Herzschlagrhythmus wechsel-weise zusammenwirken.
Branko Fursts spekulativer Versuch, Rudolf Steiners provokanten Einfall, argumentativ und empirisch zu untermauern, sollte man daher m.E. zuerst einmal auch skeptisch begegnen. Dass die durch die Nervenverbindungen mit dem Gehirn hormonellen Steuerungen des Herzschlages bei externen und internen Herzprothesen entfallen, versteht sich jedoch fast schon von selbst. Freilich gab auch schon seit uralten Zeiten zumindest in den Märchen und Mythen Europas -- auch schon lange vor der Romantik -- eine gewisse Herzmetaphorik, derzufolge das Herz ein besonders sensibles "Organ" sei, das auf ganz besondere Art und Weise als Sitz der Emotionen (Empfindungen, Gefühle, Affekte, Gefühle und Leiden-schaften) erlebt wird und daher mit den Intuitionen, mit den Selbstempfindungen und mit dem Lebensgefühl verbun-den sei. Nicht umsonst gibt es die weisheitliche Empfehlung, bei einer lebenswichtigen Entscheidung "auf sein Herz zu hören".
Und wer von sich selbst spricht, wer ein Versprechen, einen Eid oder ein Bekenntnis ablegt, wird eher wie Amerikaner oder auch Muslime seine rechte Hand etwas links von der Körpermitte auf Brusthöhe "auf sein Herz legen" als sich an seine Stirn fassen oder sich mit dem Zeigefinger an den Kopf tippen. Wer sozusagen nur mit dem Kopf denkt, wie es
uns neuerdings auf das Gehirn als Denkorgan fixierte Neurowissenschaftler und neuroreduktionistische Intellektuelle empfehlen, der läuft Gefahr, mit seinen sprachlichen Gedanken Luftschlösser zu bauen oder gar zu spinnen. Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm hatte einmal empfohlen, beim Nachdenken seinem Herzen ein "Mitspracherecht" einzuräumen. Wer auch "mit dem Herzen denken" kann, der hört ganz anders hin, wenn andere etwas sagen. Denn sie sagen meistens nicht nur etwas über irgendeine Angelegenheit, sondern unwillkürlich auch etwas über sich selbst. Schließlich werden auch religiöse Symbole und magische Amulette etwa in Herzhöhe getragen.
Das Herz nur als eine mechanische Pumpe für den Blutkreislauf aufzufassen, ist sicher viel zu einseitig, mechanistisch und reduktionistisch. In der zeitgenössischen psychosomatischen Medizin, die eine klinische Nachfolgedisziplin und moderne Variante der alten romantischen Medizin ist, ist dies jedoch weithin bekannt und anerkannt. Dass es dahinter auch neurologische Strukturen und hormonelle Wechselwirkungen gibt, ist heute auch kein Geheimnis mehr. Insofern braucht man dafür jedoch keinen Rudolf Steiner mehr, der selbst wie auch schon Emmanuel Swedenborg mit dem etwas anmaßenden esoterisch-gnostischen Anspruch aufgetreten ist, über angeblich geisteswissenschaftliche Wesens-erkenntnisse und "Einsichten in höhere Welten" zu verfügen. Er mag damals ein kreativer Impulsgeber gewesen sein und viele Kulturprozesse in Gang gebracht haben, aber unfehlbar war er gewiß nicht, obwohl viele seiner Anhänger
ihm bis heute übernatürliche seherische Fähigkeiten nachsagen.
Zumindest für die volkstümliche Herzmetaphorik braucht man jedoch keine Anthroposophische Medizin, die immer noch eng mit einer esoterischen Karmalehre und mit einer gnostischen Selbsterlösungslehre verbunden ist, obwohl
sie sich bisweilen -- vor allem in der anthroposophische "Christengemeinschaft" -- auch christlicher Ausdrücke, Vorstellungen und Metaphern bedient, die dem individualistischen Zeitgeist im Zeitalter des postmodernen Neo-liberalismus entgegenkommen, demzufolge "jeder seines Glückes Schmied" ist, sodass soziale Herkunft, ökonomische Umstände und politische Verhältnisse keine Chancen einschränken. Die anthroposophisch-medizinische Außenseiter-auffassung, dass das Herz keine Pumpe sei, scheint mir jedoch ebenso eine Halbwahrheit zu sein wie die schul-medizinische Auffassung, dass das Herz nur eine Pumpe sei.
UWD - November 2022