Postmoderner Individualismus

 

 

Was sehen Sie?

 

Nur Farbstifte mit vielen verschiedenen Farben? Oder auch Farbstifte ungefähr gleicher Form. d.h. mit gleichem Durch-messer, gleicher Anzahl von Flächen und Kanten, gleicher Länge und dem gleichen Verhältnis von Mine und Holz. Es handelt sich übrigens um 22 Farbstifte mit 22 verschiedenen Farbtönen in derselben 6-eckigen Form. Aber manchmal sehen wir Menschen nur das, was wir sehen wollen und nicht das, was wirklich da ist und was man alles sehen kann, wenn man dafür seelisch und geistig offen ist.

 

Die Anhänger des postmodernen Individualismus sehen nur das Verschiedene, weil sie nur Verschiedenheiten sehen wollen. Sie sind jedoch blind für das Gleiche. Aber Gleichheiten können genau so wirklich sein wie Verschiedenheiten, denn beide sind Eigenschaften von Gegenständen oder Sachverhalten, Ereignissen oder Prozessen, Lebewesen oder Menschen in der Lebenswelt. Beim postmodernen Individualismus handelt es sich um eine Mentalität, die die jeweils gleichen Eigenschaften in der objektiv erkennbaren blind ist oder sie aus politischen Motiven ausblendet und leugnet. 

 

Nun haben vermutlich alle Menschen blinde Flecken und bestimmte Vorurteile, die ihre situativen Wahrnehmungen beeinflussen und ihre Wahrnehmungsurteile subjektiv eingefärbt und unvollständig machen. Aber wenn es um die gleichen Eigenschaften in der relativ konstanten Natur von Menschen geht, hat diese selektive Wahrnehmung und ideologische Urteilsbildung eine ethische und politische Relevanz, weil sie zu einer Schwächung der Empathie und Solidarität unter Menschen, bestimmten Gruppen, einzelnen Staaten und ganzen Nationen führen kann. Dass es eine gemeinsame und relativ konstante menschliche Natur gibt, ist schließlich seit der Epoche und Philosophie der Aufklä-rung die anthropologische Voraussetzung des Glaubens an allgemeine Menschenrechte. Ohne eine gemeinsame menschliche Natur keine allgemeinen Menschenrechte.

 

Menschen haben von Natur aus nicht nur ein vitales Grundbedürfnis nach Freiheit und Individualität, das ihr Überleben und ihr Wohlergehen riskanter macht, sondern auch ein vitales Grundbedürfnis nach sozialer Anerkennung und Gemeinschaft, das ihr Überleben und Wohlergehen sicherer macht. Auch jemand, der eine ausgeprägt individuelle Persönlichkeit, hat Anteil an ein und derselben menschlichen Natur spezifisch menschlicher Anatomie und leiblicher Physiologie, vitaler Grundbedürfnisse sowie physischer und psychischer Verfassung. Mit zunehmender menschlicher Reife können Menschen lernen, an einer gemeinsamen verletzbaren menschlichen Natur teilzuhaben. UWD

 


 

 

Postmoderner Individualismus - Die Leugnung der menschlichen Natur

 

 

 

Nur in der lebendigen Beziehung ist die Wesenheit des Menschen,

die ihm eigentümliche, unmittelbar zu erkennen.

Auch der Gorilla ist ein Individuum, auch der Termitenstaat ist ein Kollektiv,

aber Ich und Du gibt es in unserer Welt nur, weil es den Menschen gibt,

und zwar das Ich erst vom Verhältnis zum Du aus.

 

Martin Buber

 

 

Die Individualität einer Persönlichkeit können wir, wie es Martin Buber in seiner kleinen philosophiegeschichtlichen  Abhandlung Das Problem des Menschen zutreffend ausgedrückt hat, nur in einer echten Ich-Du-Beziehung angemessen erfassen und verstehen. Solche Ich-Du-Beziehungen entstehen am besten und tiefsten in Ehen oder in langjährigen Partnerschaften sowie in Eltern-Kind-Beziehungen und echten Freundschaften. Die Arzt-Patienten-Beziehungen zwi-schen Psychotherapeuten und ihren Patienten oder Klienten sind hingegen kurzfristigere Sonderformen, die zwar in einigen Aspekten intensiv sein können, aber immer auch thematisch selektiv und nur zweckgebunden sind.

 

Der Fingerabdruck oder die DNA-Sequenz, den Polizeibehörden als dauerhafte biologische Erkennungsmerkmale verwenden, taugen zwar zur praktischen Identifizierung eines Menschen, aber sie lassen jemand überhaupt nichts von der lebensgeschichtlichen Genealogie und psychologischen Komplexität eines einzelnen Menschen mit seiner indivi-duellen Persönlichkeit, seinem spezifischen Temperament und Charakterprofil verstehen.

 

Die Individualität einer Persönlichkeit wahrzunehmen, kennen zu lernen und so weit wie möglich zu verstehen, ist also eine Sache von Beziehungen der persönlichen Nähe und manchmal auch der erotischen Intimität, die Andere ausschließt. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für die angemessene Achtung und liebevolle Fürsorge für einen

uns nahe stehenden Menschen, für einen Freund, einen Ehe- oder Lebenspartner oder für unsere Kinder im wichtigen Unterschied zur bloß minimalen moralischen Achtung, die ich einem jeden Menschen ganz einfach nur deswegen schulde, weil er auch ein Mensch ist und kein Tier oder nur eine Pflanze ist, mit denen ich weder reziproke psychologi-sche noch reziproke moralische Beziehungen noch geschäftliche oder rechtliche Verhältnisse eingehen kann.

 

Die bundesdeutsche Verfassung ist weder eine allgemeine Ethik noch eine bundesdeutsche "Hausordnung" (wie eine bekannte Politikerin meinte) noch eine moralische Zivilreligion für alle Bürger und Menschen. Sie gibt in Artikel 1 des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar." vielmehr nur eine sittliche Idee und ein oberstes normatives Prinzip des Grundgesetzes vor, an der sich dann auch die verfassungsrichterlichen Organe und die Legislative, Judikative und Exekutive des bundesdeutschen Rechtsstaates orientieren sollten. Damit geht von der bundesdeutschen Verfas-sung ein rechtlicher Anspruch auf einen gewissen rechtsstaatlichen Schutz der allgemeinen Würde eines jeden Bürgers und Menschen aus, der unter natürlichen, sozialen und politischen Realbedingungen jedoch immer nur nur annähernd eingelöst werden kann.

 

Diese allgemeine und unveräußerliche Würde eines jeden Menschen wird jedoch nicht erst durch den Rechtsstaat konstituiert, sondern nur von ihm anerkannt und als Leitprinzip der Verfassung institutionalisiert. Die allgemeine und unveräußerliche Würde eines jeden Menschen entspringt nämlich seiner vulnerablen menschlichen Natur selbst, die weder bloß materialistisch noch naturalistisch noch biologistisch verstanden werden kann. Denn im Menschen gibt es etwas, das ihn wesentlich von allen intelligenten Tieren unterscheidet und das sind seine genetisch fixierte und ange-borene Sprach- und Vernunftbegabung und damit die Fähigkeit unter günstigen lebensgeschichtlichen Entwicklungs-bedingungen einen freien Willen zu entwickeln, der es ihm ermöglicht, sich selbst nicht nur durch eigene  individuelle Motive, sondern auch durch allgemeine Gründe und Maximen selbst zu bestimmen und auf diese Weise seinen eigenen Lebenswandel selbst zu gestalten.

 

Diese anthropologische Tatsache hat eine metaphysische Qualität und sie ist der eigentliche Grund dafür, warum  Menschen trotz ihrer evolutionären Abstammung nicht in der Natur aufgehen, sondern sie zur Freiheit, zur Vernunft und zur sittlichen Verantwortung hin transzendieren können. Diese Sonderstellung der Menschen in der Natur wurde vom biblischen Schöpfungsmythos intuitiv richtig erfasst und wird im Judentum, im Christentum und im Islam als der Glaube an die vom Schöpfer verliehene Gottebenbildlichkeit des Menschen ausgedrückt. Es gibt keine anderen Religio-nen, die die ambivalente Natur des Menschen so angemessen erfassen, sodass aus ihrer Erkenntnis die ihr inhärierende Würde erkennbar wird und aus dieser Erkenntnis allgemeingültige Menschenrechte abgeleitet werden können.

 

Die Individualität einer Persönlichkeit in und aufgrund einer persönlichen Beziehung wahrzunehmen und wertschätzen zu können, ist daher etwas spezifisch Menschliches, Wertvolles und Gutes. Der postmoderne Individualismus, der sich seit dem Ende des letzten Jahrhunderts im Westen ausbreitet, hat jedoch nichts mit einer solchen Begegnung zwischen Ich und Du und dem Verstehen der individuellen Persönlichkeit eines Anderen zu tun. Er hat auch nichts mit einem aufgeklärten Verständnis dieser anthropologischen Tatsachen und Zusammenhänge von menschlicher Natur, mensch-licher Würde und Menschenrechten zu tun. Es handelt sich nämlich nur um ein Ideologie der bloßen Subjektivität und Willkür, die diese anthropologischen Tatsachen und Zusammenhänge von menschlichen Natur, menschlicher Würde und Menschenrechten leugnet. Schließlich führt diese anti-auflärerische Leugung einer gemeinsamen vulnerablen Natur der Menschen auch zur Verdrängung ihrer vitalen Grundbedürfnisse nach sauberer Atemluft, trinkbarem Wasser, genieß-barer Nahrung sowie nach angemessener Kleidung und schützender Behausung.

 

Diese postmoderne Ideologie verabsolutiert die Autonomie, Subjektivität und Willkürfreiheit der einzelnen Menschen im Sinne einer absoluten Freiheit von jeder objektiven Erkenntnis von Wahrheit und evidenten logischen Rationalität und objektiv gültigen sittlichen Idealen, Prinzipien, Normen und Werten. Diese Ideologie stellt den Menschen einen Freibrief für x-beliebige Einstellungen, Überzeugungen und Weltanschauungen aus, als ob sie alle gleich gültig wären und ob-wohl sie jeder wissenschaftlichen, philosophischen oder theologischen Plausibilität und Rationalität entbehren. Dennoch werden aufgrund dieser Ideologie ständig und willkürlich immer neu erfundene Rechte propagiert, ohne sie auch nur annähernd allgemeingültig in der menschlichen Natur begründen zu können.

 

Diese Ideologie spricht den Menschen immer mehr angebliche, erfundene und konstruierte "Rechte" (wie z.B. auf zwei oder mehrere Staatsbürgerschaften, verschiedene Geschlechteridentitäten, Freiheit von Angst, etc.) zu, ohne ihnen moralische, rechtliche oder staatsbürgerliche Pflichten (wie z.B. zum Wehrdienst oder Zivildienst, zur Steuerloyalität, zur Achtung der geltenden Gesetze, etc.) abzuverlangen. Diese Ideologie hat das Zeug, das Beste der westlichen Kultur, wie Glaube und Vernunft, Judentum und Christentum, Philosophie und Theologie, rechtsstaatliche Ordnung zum Schutz des Lebens, der Freiheit und des Eigentums, Wissenschaften und Künste, Demokratie und Rechsstaat, Bürgerrechte und Menschenrechte, soziale Marktwirtschaft und Daseinsvorsorge unter dem Deckmantel des weltanschaulichen Pluralis-mus zu unterwandern und relativistisch ad absurdum zu führen. Denn sie erwartet von den Bürgern und Menschen keine Selbstverantwortung mehr für ihr Leben und versucht den Staat zum allumfassenden Betreuungs-, Gesinnungs- und Erziehungsstaat für unersättlich fordernde Bürger umzufunktionieren.

 

Die Anhänger dieser Ideologie tun so, als ob es keine eigenständige, vom menschlichen Bewußtsein, Denken und Geist unabhängige Wirklichkeit gäbe. Daher leugnen sie auch die Existenz einer allgemeinen menschliche Natur, die angemessen zu beschreiben, begrifflich zu erfassen und angemessen zu erklären, das Ziel jeden Erkennens und allen Wissens im Alltag und in den Wissenschaften ist. Im Wesentlichen handelt es sich um die subjektivistische, relativistische oder skeptizistische Leugnung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis und der sich an die Wirklichkeit annähernden Erreichbarkeit objektiven Wissens im Alltag und in den formalen, empirischen und historischen Wissenschaften. Man leugnet oder vergisst, dass Erkenntnis der gegenwärtigen Situationen, der vergangenen Fakten und der wahrschein-lichen Szenarien der Zukunft die notwendige Voraussetzung für ethisch und moralisch richtiges Denken und Urteilen, Entscheiden und Handeln ist und zwar nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch in alltäglichen, familiären und beruflichen, medizinischen und rechtlichen, ökonomischen und politischen Angelegenheiten. Wie sollten die Regierenden der führenden Industriestaaten sonst Verantwortung für die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde über-nehmen, wenn das prognostische Vermutungswissen der Klimaforscher kein objektives  Wissen und ihre politische Verantwortung nur ihrer subjektiven Willkür entspringt?

 

Diese subjektivistische und konstruktivistische Einstellung macht es nicht mehr möglich zwischen Wahrheit und Lüge, Verantwortung und Willkürfreiheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden. Letzten Endes unter-wandert sie Ethik und Moral, Recht und Rechtsstaatlichkeit, alle Bürger- und Menschenrechte und ermöglicht ein anarchisches Chaos, eine Herrschaft der Stärkeren und damit einen neuen Unrechtsstaat der politischen Willkürherr-schaft. Die objektive und universale Geltung von ethischen und moralischen Idealen, Prinzipien, Werten und Normen wird geleugnet und durch einen sensualistischen und hedonistischen Subjektivismus ersetzt. Aber gleichzeitig werden ständig Rechte ohne Pflichten eingefordert und man selbst stilisiert sich ständig und leichtfertig zum Opfer einer angeb-lich rassistischen oder sexistischen Diskriminierung (Opferkult) und der Verletzung eigener Rechte (Protestkultur). Die

Leugnung der allgemeinen menschlichen Natur führt dann auch zur Leugnung der biologischen Tatsache, dass es genau zwei und eben nur zwei komplementäre natürliche Geschlechter (Sexes) gibt und sie werden mit dem kulturell und sozial bedingten sozialen Geschlechterrollen (Gender) verwechselt.

 

Die psychologischen und mentalen Ursachen sind eine emotionale, irrationale und willkürliche Akzeptanz von logi-schen Widersprüchen und eine Subjektivierung und Relativierung der Zuschreibung von kognitiven Einsichten, von Erkenntnissen und Wissen. Es gilt gemeinhin als aufgeklärt oder gebildet zu meinen, dass kognitive Einsichten, Erkennt-nisse und Wissensinhalte immer nur subjektiv wären, d.h. nur meine Einsichten, Erkenntnisse und Wissensbestände wären, während Andere ganz andere und sogar entgegengesetzte Einsichten, Erkenntnisse und Wissensinhalte haben, äußern und vertreten könnten. Das aber ist eine nur allzu simple Verwechslung von bloßem Meinen mit echtem Wissen. Das wird dann fälschlich als tolerant und daher als wünschenswert hingestellt, obwohl es meistens nur in bestimmten Situationen bequem und eigennütztig, opportunistisch und zweckmäßig ist, eine sachliche Kontroverse zu vermeiden.

 

Die philosophiegeschichtlichen Ursprünge des postmodernen Individualismus liegen erstens im Nominalismus des

16. und 17. Jahrhunderts, der damals jedoch nur in der Theologie aufkam, aber sich nie in der frühneuzeitlichen Natur-forschung (Kopernikus, Galileo, Kepler, Newton) etablieren konnte, zweitens im Empirismus des 18. Jahrhunderts, ins-besondere bei dem skeptischen David Hume und dem idealistischen Bishop Berkeley, drittens im weltanschaulichen Materialismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts, demzufolge kognitive Einstellungen, Überlegungen und Über-zeugungen aller Art bloß durch die jeweilige Lebensweise oder durch das Gehirn physiologisch determiniert sind, und viertens im Existenzialismus und Postmodernismus des 20. Jahrhunderts, demzufolge kognitive Einstellungen, Überle-gungen und Überzeugungen nur expressiver Ausdruck einer freien, existenziellen und persönlichen Wahl sind, sich jedoch angeblich nicht allgemein und mit einem objektiv gültigen Bezug auf allgemein erkennbare Fakten und all-gemein gültige Ideale, Prinzipien, Normen und Werte begründen lassen.

 

Während Aufklärungsphilosophen wie Thomas Reid noch an die Zuverlässigkeit des gesunden Menschenverstandes im Kampf gegen Aberglaube, Esoterik und Obskurantismus glaubten und während Immanuel Kant sorgfältig zwischen sinnlicher Anschauung, konkreter Urteilskraft, empirischem Verstand und apriorischer Vernunft unterschieden hatte, um seine kritische Philosophie sowohl gegen den Empirismus als auch gegen den Rationalismus zu formulieren und zu begründen, folgten auf Kant zumindest in Deutschland romantische Bewegungen der Gegenaufklärung (Baader, Schlegel, Schelling, u.a.) und idealistische Bewegungen des nationalistischen Republikanismus (Fichte und Fries).

 

Schwerer hatte es vor allem in Deutschland, aber teilweise auch in England und Frankreich ein an Aristoteles, die Scho-lastik und Thomas Reid anknüpfender Kritischer Realismus, der sich sowohl gegen die meist katholische Romantik als auch gegen den erkenntnistheoretischen, weltanschaulichen und utopischen Idealismus gestellt hatte. Denn die katho-lische Romantik war gegenaufklärerisch und restaurativ antirepublikanisch und der Atheismus (Fichte) oder Pantheis-mus (Hölderlin) der Idealisten war zwar politisch republikanisch, aber dennoch wie das berühmte "Systemprogramm" des Deutschen Idealismus eine utopische Schwärmerei.

 

Nüchterne Protestanten, die von den Reformatoren Calvin, Luther, Melanchthon und Zwingli gelernt hatten, dass die religiöse Schwärmerei eines Thomas Müntzer zu anarchischen Aufständen und zu willkürlicher Gewalt führen kann und die daher von der anthropologischen und politischen Notwendigkeit zuerst einer monarchischen Obrigkeit, dann später republikanischer Institutionen überzeugt waren, konnten die politische Utopie einer egalitären, friedlichen und gerech-ten Gesellschaft ohne rechtlich regulierende staatliche Institutionen nicht überzeugen. Dagegen sprach von Anfang an ihr biblisch begründetes Menschenbild, das die ambivalente Natur des Menschen kannte, zu der auch seine Fehlbarkeit, Schwäche, Selbsttäuschung und Verführbarkeit dazu gehört.

 

Der Glaube der Christen darf nach protestantischer Überzeugung nicht einer individuellen Beliebigkeit und subjektiven Willkür anheim fallen, sondern muss den sittlichen Forderungen der in der Bibel und in den Evangelien überlieferten Offenbarung in Jesus Christus gerecht werden. Diese Offenbarung wird zwar nur durch die Perspektive der Evange-listen und Apostel vermittelt und ist daher keine angeblich direkt von Gott durch einen Engel geoffenbarte Heilige Schrift wie der Koran, aber mit Hilfe des Heiligen Geistes und mit der allgemeinen menschlichen Vernunft lassen sich die biblischen Schriften kontextuell angemessen und geschichtlich informiert interpretieren, um ihren tieferen Sinn zu verstehen und für die zeitgenössischen Christen der Gegenwart auszulegen, um das ursprüngliche Evangelium zu bewahren und um es unverfälscht in den christlichen Gemeinden zu verkündigen.

 

Wer die Evangelien kennt, dem ist es sonnenklar, dass weder Jesus noch Paulus jemals die sittlichen Forderungen des jüdischen Gesetzes verworfen haben, sondern sie nur von formalistischen Auslegungen, von übertriebener Strenge und von normativ überfrachteten Verbotsexzessen auf das für ihren jüdischen Glauben Wesentliche zurückführen wollten, das sie wie auch schon Rabbi Hillel im Doppelgebot der Liebe "Liebe Gott über alles und Deinen Nächsten wie Dich selbst!" erkannt hatten. Damit wurden zwar einige rituelle Regeln (wie z.B. Speiseverbote, Reinigungsrituale, Sabbatgebote, etc.) relativiert, der Kern der lebenserhaltenden Gebote und Verbote, die die Menschen, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Arbeit und ihr Eigentum schützen, jedoch bewahrt.

 

Daher ist es ebenfalls klar, dass Jesus und Paulus wie die frommen und milderen Schriftgelehrten der Juden zwar an die Freiheit, Einsicht und Selbstverantwortung der Menschen appellierten, aber stets an eine verantwortungsvolle und gegenüber ihren Mitmenschen respekt- und liebevolle Freiheit im gesetzestreuen Glauben an einen Gott, der es auch mit seinen Geboten und Verboten gut mit ihnen meint, aber sicher nicht an die relativistische und utilitaristische Will-kürfreiheit der mächtigen und gewalttätigen Römer mit ihrer unterdrückerischen Schreckensherrschaft durch ab-schreckende Folterstrafen und öffentliche Kreuzigungen. Aber auch die Handlanger der Römer wie die Denunzianten und Steuereintreiber fanden nicht ihre Zustimmung und sollten umkehren, sich ihnen anschließen und dem Beispiel Jesu nachfolgen. Ziel und Zweck ihrer zunächst innerjüdischen Reformbewegung war die Abkehr von der Lieblosigkeit und Gottlosigkeit, die Heilung von "Dämonen" und psychosomatischen Krankheiten, die Barmherzigkeit gegenüber den Reumütigen, aber nicht die Verharmlosung eines verantwortungslosen Lebens selbst.

 

Aber der gemeinschaftliche Glaube der Juden und Christen ist weder nach Platon (Dialog Eutyphron und Politeia) noch nach Aristoteles (Nikomachische Ethik und Politik) eine notwendige Voraussetzung für eine allgemeine Ethik und eine Philosophie von Recht und Staat. Daher haben diese beiden klassischen griechischen Philosophen die kognitiven Voraussetzungen für einen säkularen Rechtsstaat geschaffen, an die in der Römischen Antike die Stoiker Cicero, Epiktet und Seneca, im Mittelalter die Philosophen und Theologen Augustinus, Thomas von Aquin und Francisco de Vitoria, in der Frühen Neuzeit die Philosophen und Naturrechtslehrer Francisco Suarez, Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und Baruch de Spinoza und in der Epoche der Aufklärung die Philosophen und Naturrechtslehrer Gottfried Achenwall, Christian Thomasius, Christian Wolff, Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant anknüpfen konnten. Auch eine "offene Gesellschaft" im Sinne Karl Poppers ist auf einen starken, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat angewiesen.

 

Daher war die Freiheit zu Philosophieren (libertas philosophandi) nicht nur der Garant für die positive Religionsfreiheit der Bürger und Menschen, einen bestimmten Glauben anzunehmen oder eine gemeinschaftliche Glaubens- und Lebensweise auszuüben, sondern immer auch der Garant für die negative Religionsfreiheit, einen Glauben oder alle Glaubensweisen abzulehnen und keine bestimmte gemeinschaftliche Glaubens- und Lebensweise anzunehmen. Die Freiheit zu Philosophieren war schließlich auch der Grund für das Recht, einen Glauben auf seine eigene Weise (nach eigener facon) auszuüben. Die Freiheit zu Philosophieren war jedoch niemals ein Motivationsgrund oder eine Recht-fertigung für subjektivistische und relativistische, gedankliche und begriffliche Willkür oder gar für eine gedankenlose Beliebigkeit oder für einen libertären Individualismus des "anything goes".