Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie

 

 

Albrecht Dürer, Melancholia
Albrecht Dürer, Melancholia

 

 

 

Es könnte hier, wo mit der Wissenschaft zugleich Freiheit und Menschlichkeit und der Ernst des Unbedingten bedroht sind, eine Reaktion zur notwendigen Selbstbesinnung führen. - Denn seit hundert Jahren ist wohl das ärztliche Wesen unter Vergessen seiner Berufsidee bei gewaltiger Steigerung des technischen Könnens immer mehr an dieses verfallen.

 

Karl Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter

 

 

Werturteile, die wir fällen, bestimmen unsere Handlungen.

Von ihrer Gültigkeit hängen Glück und seelische Gesundheit ab.

 

Erich Fromm, Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik

 

 

Der Mensch von heute leidet nicht so sehr am Gefühl, daß er weniger Wert hat als irgendwer anderer,

wie vielmehr unter dem Gefühl, daß sein Sein keinen Sinn hat.

 

Viktor Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben

 

 

Sein, was man geworden ist; wissen, daß man einmal nicht mehr sein wird. - Nur wer einmal die Sorge für Dinge und Menschen auf sich genommen hat, wer sich Triumphen und Enttäuschungen angepaßt hat, nolens volens der Ursprung anderer Menschenwesen und der Schöpfer von Dingen und Ideen zu sein - nur dem kann allmählich die Frucht dieser sieben Stadien (der Entwicklung der Persönlichkeit) heranwachsen. Ich weiß kein besseres Wort dafür als Integrität.

 

Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus

 

 

Die Persönlichkeit ist weniger ein abgeschlossenes Produkt als ein fortschreitender Prozeß. Sie besitzt zwar einige stabile Züge, ist aber fortlaufenden Änderungen unterworfen. ... Um zu verstehen, was eine Person ist, muß man sich immer darauf beziehen, was sie in der Zukunft sein möchte, denn jeder Zustand der Person ist auf zukünftige Möglichkeiten ausgerichtet.

 

Gordon W. Allport, Werden der Persönlichkeit

 

 

Haben die therapeutischen Verfahren, die diesen theoretischen Positionen entstammen,

den Beweis ihrer Wirksamkeit bei den Patienten erbracht?

 

Edouard Zarifian, Gärtner der Seele

 

 

Was ist der Unterschied zwischen einem Therapeuten und Gott?

Gott glaubt nicht, dass er ein Therapeut sei.

 

Anonymus

 

 


 

 

Was ist Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie?

 

Die Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie ist ein noch in der Entstehung und Entwicklung begriffenes Forschungsgebiet der Philosophie, aber ein - wie ich finde - besonders interessantes Forschungsfeld. Denn wie kaum ein anderes Forschunsgebiet ist es geeignet, die an klassischen Ansätzen orientierte philosophische Anthropologie und Psychologie mit der Fülle der komplexen Phänomene und Probleme dieser teils hermeneutischen teils empirischen Humanwissenschaft zu konfrontieren. Außerdem hat sie gerade wegen ihres unmittelbaren Bezuges zur philo-sophischen Anthropologie und Psychologie eine enge Verbindung zur Ethik und Rechtsphilosophie. Man denke dabei z.B. nur an die Bedeutung der psychiatrischen Forensik für die Rechtsphilosophie und Jurisprudenz.

 

Die Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie ist deswegen eine große intellektuelle und emotionale Heraus-forderung für Philosophen, die sich in der philosophischen Anthropologie und Psychologie nur allzu gerne mit den überlieferten ontologischen Dualismen von Leib und Seele, Körper und Geist, Gehirn und Denken oder Determinismus und Willensfreiheit befassen, die der psychologischen Einheit der menschlichen Person in manchen Hinsichten nicht gerecht werden. Dabei war die Frage nach der Einheit der Person angesichts ihrer Zusammensetzung aus Leib, Seele und Geist, angesichts der verschiedenen interagierenden psychischen Vermögen und angesichts ihrer dynamischen Lebendigkeit und der Vergänglichkeit der psychischen Phänomene bereits ein Problem der antiken Philosophie bei Sokrates, Platon und Aristoteles.

 

Seit ihren Anfängen ist es ein besonderes Anliegen der europäischen Philosophie der Frage nachzugehen, welches die wesentlichen und wichtigsten menschlichen Tugenden sind. Damit fragt man nach den emotionalen und kognitiven Bedingungen der personalen Realisierung von Lebensklugheit in Form von habituell gewordenen Einstellungen und Fähigkeiten zu einem vernünftigem Denken und Fühlen, Wollen und Handeln. In Platons Dialog Protagoras diskutieren Sokrates und Protagoras über die elementare ethische und zugleich didaktische Frage nach der diskursiven Lehrbarkeit der Tugend.

 

Nach der Auffassung des platonischen Sokrates besteht die menschliche Tugend (arete) in fünf Grundtugenden: (1.) in der Klugheit (phronesis), (2.) in der Gerechtigkeit (dikaiosyne), (3.) in der Besonnenheit oder auch maßhaltenden Ver-ständigkeit (sophrosyne), (4.) in der Tapferkeit (andreia) sowie (5.) in der Frömmigkeit oder Pietät (hosiotes). Die unter anderem auch von der arabischen Philosophie und islamischen Theologie beeinflusste christliche Philosophie und Theologie hat diese fünf platonischen Grundtugenden, die sie 'Kardinaltugenden' gennannt hat, übernommen und die letzte Tugend der Frömmigkeit durch drei weitere Tugenden spezifiziert, nämlich durch (5.) den Glauben, (6.) die Liebe und (7.) die Hoffnung. Auf diese Weise ergeben sich sieben Kardinaltugenden, die jedoch nicht nur für Christen, sondern auch für Juden und Muslime von großer Bedeutung sind.

 

Wo von den menschlichen Tugenden die Rede ist, muss auch über die Untugenden oder Laster gesprochen werden - zumindest dort, wo es nicht nur um rhetorische Selbsterbauung geht, sondern auch um philosophische Erkenntnis geht, die immer auch mit einer gewissen schmerzlichen Selbsterkenntnis einhergeht. Hier kann die Philosophie der Psychia-trie und Psychotherapie mit ihrer phänomenologischen und systematischen Erforschung der Psychopathologien und Persönlichkeitsstörungen der praktischen Philosophie einen wichtigen Dienst erweisen. Sie kann z.B. die genetischen und (neuro-) physiologischen, sozialen und biographischen, psychologischen und mentalen Faktoren untersuchen, die normalerweise verhindern, dass sich Menschen zu einer seelisch-geistig gesunden Persönlichkeit entwickeln, die dann auch in der Lage ist, die menschlichen Tugenden zu realisieren.

 

 

Kants Beitrag zur Ethik und Moralphilosophie

 

Platons Ethik ist wegen ihrer Ergänzung der Tugend der Klugheit durch die Gerechtigkeit jedenfalls keine reine Klugheitsethik. Seit Platon hat es an Klugheitsethiken von Epikur bis zu Shaftesbury, Hutcheson und Hume nicht gefehlt. Erst Kant hat dann wieder im Geiste des platonischen Sokrates, aber auch von Platon und Aristoteles klar und deutlich damit gebrochen, die Klugheit für den Inbegriff der menschlichen Tugend zu halten. So wie bei Platon die Gerechtigkeit nur eine der vier Grundtugenden ist, so sind dann auch bei Kant die strategische Geschicklichkeit und pragmatische Klugheit in der Verfolgung der eigenen menschlichen Interessen durch die Moralität oder Weisheit der Sittlichkeit zu ergänzen.

 

Nach Kant lässt sich das sittliche Bewußtsein in Form von Denken, Fühlen, Wollen und Handeln nicht als bloße Klugheit im Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und Interessen sowie den für ihren Realisierung nützlichen Mitteln und Zwecken verstehen. Nach Kant geht der moralische und der rechtliche Kern der menschlichen Sittlichkeit sowohl über die strategische Geschicklichkeit in der Realisierung der eigenen, willkürlich gesetzten Ziele und Zwecke als auch über die pragmatische Klugheit in der Realisierung von allgemeinen menschlichen Interessen, wie z.B. von Selbst-erhaltung und Gesundheit, hinaus. Erst die Fähigkeit zu Realisierung eines moralisch bzw. sittlich guten Willens lässt es nach Kant zu, jemandem überhaupt die sittliche Tugend der Moralität zuzusprechen.

 

Kant sah sich deswegen mit dem moralphilosophischen Problem konfrontiert, sich selbst und seinen Lesern ver-ständlich zu machen, wie der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen gewöhnlich verfasst sein muss, um so etwas wie einen guten Willen überhaupt realisieren zu können, der über den bloß instrumentellen Verstand im Umgang mit Zweck-Mittel-Zusammenhängen und den eigenen Interessen hinausgeht. Aber nicht erst in der Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit eines guten Willens, sondern auch schon bei dem Versuch, die Vereinbarkeit einer allgemeinen und durchgängigen Naturkausalität mit einem freien menschlichen Willen verständlich zu machen, ist auch Kant an gewisse Grenzen der Möglichkeit des Verstehens und des Erklärens gestoßen. Diese Grenzen scheinen mir jedoch eher in der Natur der Sache selbst zu liegen als in Kants vermeintlich begrenztem Vermögen, das Gemeinte zu verstehen und erklären.

 

 

Von der Verborgenheit des freien und guten Willens

 

Die Tatsache, dass wir im philosophischen Nachdenken über die grundsätzliche Vereinbarkeit der allgemein voraus-gesetzten Naturkausalität mit unserem Selbstverständnis von einer personalen Fähigkeit zu einem natürlich immer nur bedingt freien Willen an gewisse Grenzen stoßen, spricht jedoch nicht dagegen, dass alle psychisch gesunden und moralisch urteilsfähigen Menschen etwas ganz Bestimmtes meinen, wenn sie jemandem in psychologischer Hinsicht einen freien Willen in der Verfolgung dieser oder jener Intentionen, Mittel und Zwecke zusprechen oder auch vom moralischen Standpunkt aus einen guten Willen in der Wahl guter Absichten, Mittel und Zwecke. Bei dem jeweils Gemeinten handelt es sich nämlich um eine bestimmte persönliche, d.h. emotionale und kognitive Verfassung einer Person in einer konkreten Situation. Diese persönliche Verfassung liegt jedoch selbst der konkreten Person, der sie vermutungsweise als etwas bestimmtes Fremdpsychisches zugeschrieben wird, niemals ganz offen zutage. Denn auch aus der Perspektive der ersten Person ist eben diese ganz bestimmte zugeschriebene Verfassung als etwas Eigen-psychisches niemals ganz transparent.

 

Vielleicht können auch psychologisch und moralisch urteilsfähige Menschen deswegen niemals ganz und gar verstehen und erklären, wie beim Menschen ein freier Wille und ein sittlich guter Wille überhaupt realisiert werden können. Geht man dabei wie die Psychoanalyse auf die subpersonale Ebene der unbewussten Motivationen und Mechanismen oder wie die Neurowissenschaften auf die subpersonale Ebene der neurophysiologischen Zustände und Vorgänge im menschlichen Gehirn und Nervensystem, dann ist es natürlich nicht weiter verwunderlich, sondern liegt bereits in der spezifischen Natur dieser besonderen Zugangsweisen, dass man dort schon alleine aus methodologischen Gründen davon ausgeht, dass man dann auch kausale und funktionale Bedingungen voraussetzt, sucht und vermutet.

 

Ob man bei diesen besonderen Untersuchungsweisen der subpersonalen Voraussetzungen des menschlichen Denkens und Urteilens, Wollens und Handelns jedoch auch eine lückenlose kausale und funktionale Geschlossenheit voraussetzen darf, ist jedoch durchaus fraglich, zumal man bei diesen subpersonalen Forschungen (wie in anderen Naturwissenschaften auch) immer nur zu gewissen induktiven, d.h. statistischen oder probabilistischen Verallgemei-nerungen kommen kann, die keine einfachen subsumierenden Rückschlüsse auf die konkreten menschlichen Individuen in ihren besonderen Lebens- und Handlungssituationen zulassen, in denen wir ihnen im Alltag und in der klinischen Arzt-Patienten-Beziehungen immer schon begegnen. So wie bereits die Psychoanalyse im Laufe ihrer Entwicklung nach und nach lernen musste, dass es sie bei ihren diagnostischen und prognostischen Aufgaben im Dienste der psychiatrischen und/oder psychologischen Therapie an epistemische Grenzen stößt und es nicht zu einer streng nomothetischen Wissenschaft bringen kann, so wird es in Zukunft vermutlich auch den Neurowissenschaften gehen.

 

Vielleicht bleibt der freie und der gute Wille des Menschen deswegen immer auch ein gewisses Geheimnis. Denn die menschlichen Gedanken und Urteile, Absichten und Entscheidungen, Maximen und Reflexionen lassen sich nun einmal immer nur auf der personalen Ebene der bewussten Person untersuchen, die sie absichtlich und aufrichtig äußert. Und erst, wenn sie auf dieser Ebene geäußert wurden, lassen sie sich dann auch in der philosophischen Reflexion deonto-logisch und moralisch untersuchen. Deswegen ist es gar kein philosophischer Mangel, sondern liegt in der komplexen inkarnierten Natur der menschlichen Psyche und des menschlichen Geistes, dass selbst ein so großer philo-sophischer Denker wie Kant hier an gewisse Grenzen des Verstehbaren und Erklärbaren gestoßen ist.

 

Die relative kognitive Unbestimmtheit und relative epistemologische Opakheit eines freien und sittlich guten Willens bedeutet jedoch andererseits nicht, dass es sich bei der allgemein menschlichen Überzeugung der Existenz eines freien Willens bloß um etwas Eingebildetes und Unwirkliches handelt, das im wirklichen Leben in der Welt der materiellen Dinge und energetischen Prozesse bloße Theorie und keine manifeste Realität darstellt. Auch für einen dem wirklichen Leben zugewandten Realisten, der sich nur auf die dynamischen Kräfte von Psyche und Geist versteht, handelt es sich bei der menschlichen Psyche und ihrem Geist um etwas durchaus Wirkliches und Wirkendes, das sich im konkreten Denken, Fühlen und Handeln der Menschen auf die eine oder andere Weise auswirkt. Wer um dieses Wirken und Aus-wirken weiß, der wird auch erkennen können, dass es sich dabei sogar um etwas besonders Wertvolles und Schätzens-wertes, aber auch stets Brüchiges und Gefährdetes handelt, das für das menschliche Zusammenleben von höchster Bedeutung ist.

 

Von höchster Bedeutung sind die menschliche Psyche und der Geist des Menschen, weil es sich dabei um den einzigen Ort in der irdischen Natur (wenn wahrscheinlich auch nicht im ganzen Universum) geht, in der es nicht nur,

wie bei den Pflanzen und Tieren, um Leben und Tod, Überleben und Sterben, Gesundheit und Krankheit, Erfolg und Mißerfolg geht, sondern auch um Gut oder Böse, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, Freiheit oder Unfreiheit, Gleichheit oder Ungleichheit, Solidarität oder Egoismus, etc. Denn anders als die Pflanzen und Tiere können Menschen sich zu den basalen existenziellen Dichotomien von Leben und Tod, Überleben und Sterben, Gesundheit und Krankheit, Erfolg und Mißerfolg, die auch für sie als Lebewesen und ihre Lebensführung wesentlich sind, noch einmal verhalten und sie

in ethischer und moralischer Hinsicht bewerten.

 

 

Psychopathologie des kranken, unfreien und bösen Willens

 

Bevor ein Mensch kraft seiner sittlichen Persönlichkeit in seinem Denken, Fühlen und Handeln jedoch irgendwelche ethischen Ideale und Prinzipien, Normen und Werte realisieren kann, muss er zuerst einmal auf der subpersonalen Ebene der Affekte und Triebe sowie der gehirnphysiologischen und neuronalen Prozesse dazu in der Lage sein. Deswegen bedarf es dazu selbstverständlich einer basalen neuronalen und gehirnphysiologischen Gesundheit. Darüber hinaus gibt es jedoch auch eine seelische und geistige Gesundheit, die man nicht alleine auf der Basis der subpersonalen Ebene und Herangehensweisen der Psychoanalyse und der Neurowissenschaften erklären und verstehen kann. Vielmehr handelt es sich dabei um ganzheitliche Orientierungen des Menschen in seinen jeweiligen sozialen Zusammenhängen von Familie und Beruf, Gemeinschaften und Verbänden, Staat und Gesellschaft. Ganz-heitlich sind diese Orientierungen, weil Denken und Fühlen, Wollen und Handeln in der Einheit der Person zusammen-gehören und aufeinander einwirken.

 

Diese seelisch-geistige Gesundheit ist jedoch nicht immer nur eine Frage von genetischer Mitgift und anfänglicher psycho-sozialer Prägung von Kindern und Jugendlichen in Familie, sozialer Herkunft und anderen Lebensbedingungen in Arbeit und Beruf, Beziehung und Gemeinschaften. Sie ist auch eine Frage der Selbstbestimmung, Selbstsorge und Selbsterziehung der Erwachsenen. Es bedarf dazu immer auch einer gewissen psychohygienischen Selbstsorge sowie einer gewissen geistigen Bildung in psychologischen und philosophischen sowie weltanschaulichen und religiösen Angelegenheiten. Denn alles, was Menschen gewohnheitsmäßig tun, hinterlässt in ihren eigenen Bewusstsein psycho-logische Spuren und hat dann auch subpersonal neuronale Rückwirkungen auf ihr eigenes Gehirn und Nervensystem. Dies gilt in hohem Maßen für den Konsum von Rauschmitteln aller Art von Alkohol bis zu harten Drogen, aber auch von gewissen Praktiken, die die basalen menschlichen Triebe und Affekte beeinflussen, wie z.B. bestimmte sexuelle Prak-tiken oder religiöse Rituale oder auch starke Rhythmen und Tänze, die gewisse Zustände von Trance oder von Ekstase induzieren.

 

Nun könnte es sich aber auch hierbei durchaus als leichter erweisen, zuerst einmal zu bestimmen zu versuchen, welche psychologischen und psychopathologischen Ursachen und Gründe gewöhnlich dazu führen, dass erwachsene Menschen aufgrund von früheren starken Erlebnissen, wie z.B. von Traumata, oder von früheren folgenreichen Entscheidungen, wie z.B. von Drogenkonsum, dauerhafte Einstellungen und verfestigte Gewohnheiten entwickeln, aufgrund deren sie durch Ängste, Zwänge, Süchte, etc. ihre bereits erworbene Fähigkeit zur mehr oder weniger freien und willentlichen Selbstbestimmung verlieren. Psychologischer Freiheitsverlust durch interne Einschränkungen der willentlichen Selbstbestimmung wird zwar nicht immer subjektiv als psychische Erkrankung erlebt und objektiv als pathologische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, kann aber je nach dem Grad der Belastungen zu einer seelisch-geistigen Erkrankung führen.

 

Weiterhin könnte man dann auch untersuchen, welche psychologischen und psychopathologischen Ursachen und Gründe es gewöhnlich dafür gibt, dass einzelne Vorkommnisse, dauerhafte Einstellungen und verfestigte Gewohnheiten von einer harmlosen und versehentlichen Unbesonnenheit im Denken und Sprechen, Wollen und Handeln (ohne böse Absichten) bis zu einer wirklich schädlichen und absichtlichen Bosheit (mit bösen Absichten) zustande kommen. Auch hier kann die Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie ex negativo der ganzen praktischen Philosophie einen wichtigen Dienst erweisen. Das gilt auch dann, wenn man wie Kant sowohl bei der philosophischen Erklärung der anthropologischen, psychologischen und kognitiven Bedingungen der Möglichkeit der Willensfreiheit und der Realisierung eines guten Willens als auch beim Verstehen der ursprünglichen Herkunft des Bösen an gewisse Grenzen des Verstehbaren und Erklärbaren stößt.

 

Bei der psychischen und kognitiven Determination der willentlichen Selbstbestimmung durch böse Motive, Absichten und Maximen geht es dann jedoch um mehr als bloß um einen psychologischen Freiheitsverlust. Zwar kann damit auch der Verlust der Kraft zur Realisierung eines guten Willens einher gehen, aber ein solcher Verlust wird oftmals weder subjektiv als psychische Erkrankung erlebt noch objektiv von Psychiatern und Psychotherapeuten als pathologische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Gleichwohl kann auch eine psychologische und kognitive Fixierung auf böse Absichten und Maximen, insbesondere dort, wo keine Gewissensbisse und keine Reue mehr empfunden wird, je nach dem Grad der Fixierung zu einer seelisch-geistigen Erkrankung führen. Die Freiheit der Selbstbestimmung - jenseits aller ethisch-moralischen Orientierungen von Gut und Böse - kann also noch nicht das eigentliche Ziel der psychologischen oder psychiatrischen Therapie sein. Was aber sind dann die wesentlichen Ziele der verschiedenen Formen der psychotherapeutischen und psychiatrischen Therapie?

 

 

Ziele der Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie

 

Der Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie stößt im Hinblick auf die empirisch und philosophische Untersuchung der psychologischen und kognitiven Bedingungen des guten und bösen Willens dann aber - auch noch bei einem Aufklärer wie Kant - an gewisse Grenzen der philosophischen Ethik und Moralphilosophie sowie der empirischen Moralphsychologie. Jenseits dieser Grenzen liegen dann nämlich sowohl die metaphysischen Probleme der Religionsphilosophie als auch die empirisch-psychologischen Probleme der Religionspsychologie.

 

Da diese vorhandenen Grenzen und Grenzgebiete weltanschaulich emotionalisiert und philosophisch sehr umstritten sind, ist Vorsicht geboten, denn sowohl atheistische Ideologen als auch religiöse Fanatiker sind normalerweise gar nicht dazu in der Lage, diese Grenzprobleme mit einem ruhigem Herzen und einem kühlem Kopf zu behandeln. Auch für denjenigen, der gerade diese schwierigen Grenzprobleme untersucht, ist dieser Grenzbereich immer noch sehr gefährlich, weil er dabei auch in unserer angeblich so aufgeklärten und toleranten Gesellschaft nur allzu schnell zwischen die ideologischen Fronten der anti-religiösen Skeptiker und Atheisten und der religiösen Fundamentalisten und Fanatiker gerät. (Siehe dazu auch die Rubrik Religionsphilosophie als Teilgebiet der Metaphysik!)

 

Auch hier kommt der Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie in ihrer interdiszplinären Zusammenarbeit mit Psychatrie und Psychotherapie die heikle, aber wichtige Aufgabe zu, nicht nur zu untersuchen, ob seelisch-geistige Gesundheit ohne irgendeine förderliche Form der gelebten Frömmigkeit als Teilhabe an einer religiösen Gemeinschaft angesichts der schicksalhaften Widrigkeiten des Lebens überhaupt möglich sei, sondern auch zu untersuchen, welche psycho-sozialen und psycho-hygienischen Faktoren zu einer günstigen seelischen-geistigen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und damit zum psychiatrischen und psychotherapeutischen Ziel seelisch-geistiger Gesundheit - unter der Voraussetzung psycho-genetischer und psycho-neuronaler Gesundheit - beitragen.

 

Denn so wie das übergeordnete Ziel der Humanmedizin und des ärztlichen Handelns nach Aristoteles die präventive Erhaltung und Wiederherstellung der physischen und psychosomatischen Gesundheit des Menschen ist, so ist das oberste Ziel der Psychiatrie und Psychotherapie die psycho-genetische und psycho-neuronale Gesundheit sowie die seelisch-geistige Gesundheit. Diese beiden Formen von psycho-sozialer Gesundheit lassen sich zwar auch positiv inhaltlich bestimmen, aber in der Regel werden sie bis heute eher ex negativo als die weitgehende Freiheit von subjektiven psychischen Beschwerden und von objektiven funktionalen Störungen der emotionalen, voluntativen und kognitiven Fähigkeiten der Persönlichkeit verstanden, die die selbstbestimmte, selbständige und produktive Lebensführung behindern. Gleichwohl führt der Begriff der seelisch-geistigen Gesundheit zumindest an die Grenzen der philosophischen Ethik und der Religionsphilosophie, denn es ist fraglich, ob dieser Zielbegriff sich überhaupt bestimmen lässt, ohne bereits eine bestimmte philosophischen Anthropologie und Psychologie sowie Ethik und Religionsphilosophie vorauszusetzen.

 

In dieser Hinsicht ist es sowohl nach Platon als auch nach Kant dringend notwendig, dass die Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie dazu sowohl mit der empirischen Moral- und Religionspsychologie als auch mit der klinischen Psychiatrie und Psychopathologie zusammen arbeitet. Nicht zuletzt kommt es dabei auch darauf an, dass man die Ethiken und Morallehren, Religionen und Konfessionen als Glaubens- und Lebensformen nicht einfach unkritisch idealisiert, sondern auch eine Psychopathologie der Fehlformen von Frömmigkeit und der psycho-somatisch krank machenden sowie sozial schädlichen Religionsausübung (vor allem in Sekten und totalitären Institutionen) entwickelt. Man denke dabei nur an von alters her bekannte Phänomene des Unglaubens, wie z.B. an Aberglaube, Magie und Okkultismus oder auch an solche pathologische Formen der religiösen Einstellung, wie z.B. an zwanghaften Konformismus, Fundamentalismus und Fanatismus.

 

Gleichwohl steht die Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie nicht bloß im Dienste der Moral- und Religionspsychologie, sondern hat als eine klinische Disziplin der Humanmedizin auch ihre eigenen Ziele und Aufgaben, ihre eigene wissenschaftliche Systematik und Methodik. In diesem Sinne kommt der Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie zuallererst auch erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Aufgaben zu, die der Philosophie der Psychologie ähneln. Dabei geht es nicht zuletzt auch um Probleme der Ontologie des Psychischen und Mentalen (Leib-Seele-Problem und Problem der personalen Identität durch die Lebenszeit hindurch) sowie um die Erkenntnistheorie in Bezug auf das Eigen- und Fremdpsychische (Problem der Willensfreiheit, Problem des Verhältnisses von Verstehen vs. Erklären, Problem des Verhältnisses der Perspektiven der sog. Ersten zur Zweiten und zur Dritten Person, etc.). (Siehe dazu die beiden Rubriken Philosophische Psychologie und Anthropologie).

 

Schließlich gibt es auch bestimmte Probleme der Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie, die man als eine spezifischen Bereich der Medizinethik auffassen kann und die wegen der Möglichkeit der emotionalen und kognitiven Unzurechnungsfähigkeit und Notwendigkeit der Entmündigung besondere Probleme aufwirft, die nicht anscheinend nicht durch eine reine Ethik der moralischen Autonomie, sondern villeicht nur mit einer Ethik der Verantwortung und Fürsorge angegangen und gelöst werden können.

 

 

Philosophierende Psychiater und Psychologen

 

Im Folgenden möchte ich fünf Psychiater und Psychologen vorstellen, deren Werke sich zwar in einigen Hinsichten unterscheiden, aber auch wieder gut ergänzen. Alle fünf Denker waren zu ihren Lebzeiten mutige Pioniere auf dem Gebiet der Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie. Sie haben sich schon zu ihrer Zeit erfolgreich mit den damals vorherrschenden reduktionistischen Ansätzen und Methoden, Konzeptionen und Theorien der Hauptströmungen der naturalistischen Gehirnpsychiatrie und freudschen Psychoanalyse oder mit dem empiristischen Behaviorismus und Funktionalismus in der Psychiatrie und Psychologie auseinander gesetzt.

 

Dabei haben sie sich nicht gescheut, sich gelegentlich auch an den Grenzen der Psychologie und Psychiatrie zur Philosophie zu bewegen, um die für einen empirischen Psychiater und Psychologen philosophischen und methodischen Grundlagenprobleme des Psychischen und Ethischen, Spirituellen und Religiösen zu behandeln. Zwar gab es nach den beiden Gründern Freud, C.G.Jung und Adler auch noch andere Pioniere, wie z.B. Abraham Maslow und Erich Neumann. Aber die Schriften der hier genannten Pioniere halte ich für philosophisch differenzierter und reflektierter.

 

(1.) Manche Schriften von Karl Jaspers sind eine unerschöpfliche Fundgrube zum tieferen Verstehen seiner selbst, seiner Mitmenschen und vielleicht sogar des Menschen überhaupt. Jaspers' Allgemeine Psychopathologie ist die erste systematische Grundlegung einer ärztlichen Psychopathologie auf einer differenzierten phänomenologischen Grundlage. Sie gilt trotz einiger Neuerungen in der psychopathologischen Klassifikation und Diagnostik sowie trotz späterer Versuche einer neurowissenschaftlichen Fundierung von bestimmten Zusammenhängen in der Psychopathologie als ein unersetzbares Lehrbuch der psychiatrischen Diagnostik. Auf Jaspers' Weg von der Psychiatrie zur Philosophie war seine Tätigkeit als Psychologe eine fruchtbare Zwischenstation. In dieser Phase ist seine Psychologie der Weltanschauungen als ein Übergangswerk entstanden. Noch nie zuvor hat jemand die Vielfalt der philosophischen Weltanschauungen von einem psychologischen Standpunkt aus untersucht. Jaspers hat dort zum ersten Mal seine Konzeption der Grenzsituationen (Zufall, Kampf ums Dasein, Schuld, Leiden, Tod, etc.) entfaltet hat, in denen der Mensch existenziell herausgefordert wird und zur bewussten Existenz kommen kann. Immer noch lesenswert und erhellend ist auch seine kulturkritische Diagnose Die geistige Situation der Zeit. Wenn auch manches im sprachlichen Ton und wohl auch in der Sache zeitgebunden erscheint, hat seine Kritik an der Entfremdung des Menschen von sich selbst in der modernen Massengesellschaft mit ihrem geist- und herzlosen Funktionalismus, Technizismus und Szientismus weder an Aktualität noch an Gültigkeit eingebüßt.

 

(2.) Auch manche Schriften von Erich Fromm sind eine bleibende Herausforderung, wie z.B. seine sozialpsychologiesche Studie Die Furcht vor der Freiheit. Sie sind dies jedoch nicht nur wegen seiner radikalen sozial-psychologischen und politischen Kritik an den beiden ökonomischen Systemen des staatlich gestützten Kapitalismus und des staatlich verordenten Sozialismus, wie z.B. in Jenseits der Illusionen, einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ideen von Freud und Marx, sondern auch, weil es Fromm immer auch um die Freiheit des Menschen von psychischen Abhängigkeiten und destruktiven Beziehungen geht, wie z.B. in Psychoanalyse und Ethik (Den Menschen verstehen). Die ethische Dimension der menschlichen Psyche beschäftigt Fromm auch in Die Seele des Menschen und ein durchgängiges Thema seiner sozialpsychologischen Schriften ist seine Konzeption einer seelisch gesunden Entwicklung hin zur produktiven Einstellung der Biophilie, d.h. zu einer sorgenden und tätigen Liebe zum Leben und allem Lebendigen, zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen sowie zu Gott im Gegensatz zu den vielen Götzen (Natur, Markt, Staat, etc.), die sich die Menschen selbst schaffen. Obwohl Fromm ursprünglich aus dem Milieu des Frankfurter orthodoxen Judentums der 20er Jahre kam, aus dem er sich jedoch unter dem Einfluss der Psychoanalyse und des Marxismus befreit hat, hat er einen sozial-psychologischen Humanismus entwickelt, der sowohl aus jüdischen und christlichen als auch aus aristotelischen und neukantianischen sowie aus freudianischen und marxistischen Quellen schöpft. Fromms Humanismus ist kommunitär, wenn es um die gesellschaftliche Prägung und Entwicklung des individuellen und sozialen Menschen geht, aber zugleich liberal gesinnt, da es ihm gerade immer auch um die produktive Entwicklung des einzelnen Menschen und dessen unveräußerliche Würde geht.

 

(3.) Auch einige Schriften von Viktor Frankl enthalten viele profunde Einsichten und Erkenntnisse über die Condition humaine und die Fehlentwicklungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Frankls wichtige Erkenntnis, dass es im Menschen einen intentionalen Willen zum Sinn gibt und dass sich nicht alles menschliche Denken und Fühlen, Wollen und Handeln, wie Freud meinte, auf den Sexualtrieb oder, wie Adler meinte, auf den Willen zur Macht reduzieren lässt, wird heute auch von der modernen kognitiven Psychologie bestätigt. Die Folgen für medizinische Psychologie und Psychotherapie sowie für die (klinische) Psychiatrie und (ärztliche) Seelsorge sind enorm. Trotzdem wurden Frankls Erkenntnisse von der akademischen Philosophie noch kaum beachtet und gewürdigt. Vor allem in der Analytischen Philosophie hängen immer noch viele Autoren dem lange schon überholten Behaviorismus des Naturalisten und Szientisten W.V.O.Quine und seiner Anhänger an, obwohl dieser seine früheren behavioristischen und anti-mentalistischen Überzeugungen aufgrund seiner späteren Auseinandersetzung mit der Gestaltpsychologie, der Kongnitionspsychologie und mit dem Phänomen der Intentionalität psychischer Phänomene in seinen letzten Lebensjahren aufgeben musste.

 

(4.) Erik H. Erikson war (wie Erich Fromm) einer der ersten humanistischen Neo-Psychoanalytiker, die verschiedene Dogmen sowohl der klassischen Psychoanalyse von Sigmund Freud als auch der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung in Frage stellten. Wie Erich Fromm und anders als Freud betrachtete er das Über-Ich des Erwachsenen nicht mehr nur als ein von den Eltern und Erziehern übernommenes System von Normen, das nur der Triebkontrolle dient und deswegen im Wesentlichen repressiv ist und dadurch die Autonomie des Ich gefährdet. Vielmehr können die sittlichen, d.h. ethischen, moralischen und rechtlichen Überzeugungen bei Erwachsenen ein authentischer Ausdruck einer nach sittlicher Integrität strebenden Persönlichkeit sein. Dies gilt insbesondere nach den Krisen der Adoleszenz, die von den von Freud betonten neurotischen Triebkonflikten geprägt sind. Diese Konflikte können nach Erikson jedoch durch die Generativität des Erwachsenen aufgelöst und überwunden werden. Anders als Freud interessierte sich Erikson deswegen nicht nur für die Entwicklung der frühen triebdynamischen Konflikte der Kindheit und Jugend, die beim erwachsenen Neurotiker und Psychotiker unaufgelöst nachwirken, sondern auch für die psychischen Konflikte in den weiteren Stadien der relativ gesunden Entwicklung der Persönlichkeit durch Identitätsbildung und Reifung im günstigsten Falle bis hin zur Weisheit. Deswegen entwickelte Erikson auch erweiterte Modelle der Persönlichkeits-entwicklung für praktisch alle Stadien des menschlichen Lebens und individualpsychologische Konzeptionen der personalen Identitätsbildung, die ebenfalls post-freudianisch und die weniger sozialpsychologisch sind als diejenigen von Erich Fromm. Bekannter als seine psychologischen Theorien wurde er jedoch vermutlich als Autor seiner Studien zu Martin Luther und Mahatma Gandhi. Damit setzte er sich wie C.G.Jung auch mit der Bedeutung und Funktion der religiösen Einstellungen und Überzeugungen auseinander, allerdings ohne dessen Lehre von den allgemeinen religiösen bzw. symbolischen Archteypen des Unbewussten.

 

(5.) Anders als Erik Erikson und Viktor Frankl kam Gordon W. Allport nicht aus einer der drei Schulen der Tiefen-psycholgie, d.h. weder von der Psychoanalyse Freuds noch von der Analytischen Psychologie Jungs noch von der Individualpsychologie Adlers her. Allport war u.a. ein Schüler des deutsch-amerikanischen Psychologen William Stern, der von der Würzburger Schule der Denk- und Gestaltpsychologie beeinflusst gewesen ist, einer Schule der empirischen Psychologie, die auf die Gründer der empirischen Psychologie des 19. Jahrhunderts zurückgeht, also auf Franz Brentano, Carl Stumpf und Wilhelm Wundt. Mehr noch als mit der Psychoanalyse musste sich Allport mit dem empiristischen Behaviorismus von Watson und Skinner auseinander setzen, die sich aus vorwiegend methodologischen Gründen einer jeden Form von differenzierter Emotions- und Kognitionspsychologie verweigerten und meinten, die Human-psychologie der experimentellen Verhaltenspsychologie von Tieren nachbilden zu können. Durch Gilbert Ryle und W.V.O.Quine hatte die behavioristische Psychologie auch in die analytische Philosophie Einzug gehalten und u.a. auch bei manchen führenden Vertretern der analytischen Philosophie, wie z.B. bei Richard Rorty, D.C.Dennett und Donald Davidson nachgewirkt. Die moderne Emotions- und Kognitionspsychologie hat sich jedoch gegen den fortgesetzten Behaviorismus in der Analytischen Philosophie durchsetzen können. Dies ist nicht zuletzt auch eine Nachwirkung der phänomenologischen Beiträge zur empirischen Psychologie von Franz Brentano und Edmund Husserl. Allport hat schon recht früh verstanden, dass eine spezifische Humanpsychologie wie in der Verstehenden Psychologie (Dilthey, Hartmann, Jaspers, Spranger, u.a.) einer differenzierten Theorie vom Aufbau der menschlichen Persönlichkeit bedarf, die zwischen einem intelligiblen Selbst, das mit weltanschaulichen, sittlichen und religiösen Überzeugungen und Absichten den Kern der Ich-Identität der Persönlichkeit bildet, und anderen Formen des Selbst (z.B. motorisches Körperselbst und erlebtes Leibselbst, emotionales und motivationales Selbst) unterscheidet. Dabei scheint mir vor allem seine Erkenntnis von der relativen Autonomie der Motivation von den Emotionen (Empfindungen, Gefühlen, Affekten, Leidenschaften und Stimmungen) wichtig zu sein, die im Gegensatz steht zu einer jeden bloß sensualistischen Theorie der willentlichen Motivation. Neben seinen individual-psychologischen Studien zur Entwicklung der Persönlichkeit hat er auch bis heute anerkannte Beiträge zur klinischen Testpsychologie und zur Sozialpsychologie geliefert, wie z.B. zum sozialpsychologischen Verständnis der Funktion und Wirkung von Vorurteilen und Gerüchten.

 

Alle fünf Psychiater und Psychologen sollten heute wieder mehr auch von Philosophen studiert werden. Denn immer noch leidet die Philosophie der Psychologie sprachanalytischer Provenienz nicht nur an einem naturalistischen Reduktionismus, sondern auch an einer gewissen Scholastik im Hinblick auf die sicher notwendige, aber nicht hinreichende logische und epistemologische Analyse der ontologischen und methodologischen Grundlagen der empirischen Psychologie und Alltagspsychologie. Dabei fehlt es oft an einer phänomenologischen Angemessenheit und hermeneutischen Reichhaltigkeit in der Wahrnehmung und Kenntnis der Fülle und Komplexität der psychischen Phänomene.

 

 

  © Ulrich Diehl, Halle an der Saale im Januar 2010

 

 


 

Karl Jaspers

 

Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen, Berlin: Springer 1913 sowie 4., neu bearb. Auflage 1946, seitdem zahlreiche weitere unveränderte Auflagen

 

Psychologie der Weltanschauungen (1919), Berlin: Springer 1985

 

Die geistige Situation der Zeit (1932), Berlin/Leipzig: Göschen 1979

 


 

Erich Fromm

 

Die Furcht vor der Freiheit (1941), München: DTV 1990

 

Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik (1947),

München: DTV 1982

 

Psychoanalyse und Religion (1950), München: DTV 2004

 

Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (1964),

München: DTV 1988

 


 

Viktor Frankl

 

Ärztliche Seelsorge

Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse

Frankfurt am Main: Fischer 1975

 

Die Sinnfrage in der Psychotherapie

München: Piper 1981

 

Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn.

Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk

München: Piper 2006

 


 

Erik Erikson

 

Einsicht und Verantwortung (1964), Frankfurt a.M.: Fischer 1971


Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp ²1973


Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975.


Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewaltlosigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.

 

Der vollständige Lebenszyklus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp ²1992

 


 

Gordon W. Allport

 

The psychology of rumor (with L. Postman): New York: Henry Holt 1947

 

The individual and his religion, New York: Macmillan 1950.

 

Persönlichkeit. Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Persönlichkeit, Stuttgart: Klett-Cotta 1949, ²1985

 

The Nature of Prejudice, Reading, MA : Addison-Wesley ²1979.

 

Werden der Persönlichkeit, München: Kindler 1974.

 

Gestalt und Wachstum der Persönlichkeit, Meisenheim a.G.: Hain 1985

 


 

 

Beiträge zur Philosophie und Ethik der Psychiatrie

 

Ulrich Diehl, Ist Jaspers ein Kantianer?

in: Knut Eming / Thomas Fuchs (Hg.)
Karl Jaspers. Philosophie und Psychopathologie
Heidelberg: Winter 2008, S. 169-181

 

Ulrich Diehl, Lebensekel, Sinnkrise und existenzielle Freiheit. Philosophische Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres Roman „Der Ekel" in: Hermes A. Kick (Hg.), Ekel, Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Hürtgenwald: Pressler 2003

 

Ulrich Diehl, Leiden an der Zeit
Rezension von: Thomas Fuchs, Zeit-Diagnosen.
Philosophisch-psychiatrische Essays,
Zug: Die Graue Edition 2002

 

Ulrich Diehl & Hermes A. Kick, Klinische Phänomenologie und therapeutische Situation

Fundamenta Psychiatrica 1998: 12, S. 53-57

Stuttgart: Schattauer 1998

 

Ulrich Diehl, Person und Personwürde in der klinischen Psychiatrie

Fundamenta Psychiatrica 2000: 2, S. 59-67 / 20-28

Stuttgart: Schattauer 2000

 

 


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Kick & Diehl, Klinische Phänomenologie u
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Diehl, U., Person - Würde - Psychiatrie.
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