Geschichte der Philosophie

 

 

G.W.F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie

 

Heidelberger Niederschrift (1816)

 

A. Bestimmung der Geschichte der Philosophie

 

[20] Über das Interesse dieser Geschichte können der Betrachtung vielerlei Seiten beigehen. Wenn wir es in seinem Mittelpunkt erfassen wollen, so haben wir ihn in dem wesentlichen Zusammenhang dieser scheinbaren Vergangenheit zu suchen mit der gegenwärtigen Stufe, welche die Philosophie erreicht hat. Daß dieser Zusam-menhang nicht eine der äußerlichen Rücksichten ist, welche bei der Geschichte dieser Wissenschaft in Betrach-tung genommen werden können, sondern vielmehr die innere Natur ihrer Bestimmung ausdrückt, daß die Begebenheiten dieser Geschichte zwar wie alle Begebenheiten sich in Wirkungen fortsetzen, aber auf eine eigentümliche Weise produktiv sind, dies ist es, was hier näher auseinandergesetzt werden soll.

 

Was die Geschichte der Philosophie uns darstellt, ist die Reihe der edlen Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Vernunfterkenntnis erarbeitet haben. Die Begebenheiten und Handlungen dieser Geschichte sind deswegen zugleich von der Art, daß in deren Inhalt und Gehalt nicht sowohl die Persönlichkeit und der individuelle Charakter eingeht – wie dagegen in der politischen Geschichte das Individuum nach der Besonderheit seines Naturells, Genies, seiner Leidenschaften, der Energie oder Schwäche seines Charakters, überhaupt nach dem, wodurch es dieses Individuum ist, das Subjekt der Taten und Begebenheiten ist –, als hier vielmehr die Hervorbringungen um so vortrefflicher sind, je weniger auf das besondere Individuum die Zurechnung und das Verdienst fällt, je mehr sie dagegen dem freien Denken, dem allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen angehören, je mehr dies eigentümlichkeitslose Denken

selbst das produzierende Subjekt ist. [20]

 

Diese Taten des Denkens scheinen zunächst, als geschichtlich, eine Sache der Vergangenheit zu sein und jenseits unserer Wirklichkeit zu liegen. In der Tat aber, was wir sind, sind wir zugleich geschichtlich, oder genauer: wie in dem, was in dieser Region, der Geschichte des Denkens [sich findet,] das Vergangene nur die eine Seite ist, so ist in dem, was wir sind, das gemeinschaftliche Unvergängliche unzertrennt mit dem, daß wir geschichtlich sind, verknüpft. Der Besitz an selbst-bewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern es ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein. So gut als die Künste des äußerlichen Lebens, die Masse von Mitteln und Geschicklichkeiten, die Einrichtungen und Gewohnheiten des geselligen und des politischen Zusammenseins ein Resultat von dem Nachdenken, der Erfindung, den Bedürfnissen, der Not und dem Unglück, dem Wollen und Vollbringen der unserer Gegenwart vorhergegangenen Geschichte sind, so ist das, was wir in der Wissenschaft und näher in der Philosophie sind, gleichfalls der Tradition zu verdanken, die hindurch durch alles, was vergäng-lich ist und was daher vergangen ist, sich als, wie sie Herder genannt hat, eine heilige Kette schlingt und [das,] was die Vorwelt vor sich gebracht hat, uns erhalten und überliefert hat.

 

Diese Tradition ist aber nicht nur eine Haushälterin, die nur Empfangenes treu verwahrt und es so den Nach-kommen unverändert überliefert. Sie ist nicht ein unbewegtes Steinbild, sondern lebendig und schwillt als ein mächtiger Strom, der sich vergrößert, je weiter er von seinem Ursprunge aus vorgedrungen ist. [21]

 

Der Inhalt dieser Tradition ist das, was die geistige Welt hervorgebracht hat, und der allgemeine Geist bleibt nicht stille stehen. Mit dem allgemeinen Geiste aber ist es wesentlich, mit dem wir es hier zu tun haben. Bei einer einzelnen Nation mag es wohl der Fall sein, daß ihre Bildung, Kunst, Wissenschaft, ihr geistiges Vermögen über-haupt statisch wird, wie dies etwa bei den Chinesen z.B. der Fall zu sein scheint, die vor zweitausend Jahren in allem so weit mögen gewesen sein als jetzt. Der Geist der Welt aber versinkt nicht in diese gleichgültige Ruhe. Es beruht dies auf seinem einfachen Begriff. Sein Leben ist Tat. Die Tat hat einen vorhandenen Stoff zu ihrer Voraus-setzung, auf welchen sie gerichtet ist und den sie nicht etwa bloß vermehrt, durch hinzugefügtes Material ver-breitert, sondern wesentlich bearbeitet und umbildet. Dies Erben ist zugleich Empfangen und Antreten der Erb-schaft; und zugleich wird sie zu einem Stoffe herabgesetzt, der vom Geiste metamorphosiert wird. Das Empfange-ne ist auf diese Weise verändert und bereichert worden und zugleich erhalten.

 

Dies ist ebenso unsere und jedes Zeitalters Stellung und Tätigkeit, die Wissenschaft, welche vorhanden ist, zu fassen und sich ihr anzubilden, und ebendarin sie weiterzubilden und auf einen höheren Standpunkt zu erheben. Indem wir sie uns zu eigen machen, machen wir aus ihr etwas Eigenes gegen das, was sie vorher war.

 

In dieser Natur des Produzierens, eine vorhandene geistige Welt zur Voraussetzung zu haben und sie in der Aneignung umzubilden, liegt es denn, daß unsere Philosophie wesentlich nur im Zusammenhange mit vorher-gehender zur Existenz gekommen und daraus mit Notwendigkeit hervorgegangen ist; und der Verlauf der Geschichte ist es, welcher uns nicht das Werden fremder Dinge, sondern dies unser Werden, das Werden unserer Wissenschaft darstellt.

 

Von der Natur des hier angegebenen Verhältnisses hängen die Vorstellungen und Fragen ab, welche über die Bestimmung der Geschichte der Philosophie vorschweben können. [22] Die Einsicht in dasselbe gibt zugleich den näheren Aufschluß über den subjektiven Zweck, durch das Studium der Geschichte dieser Wissenschaft in die Kenntnis dieser Wissenschaft selbst eingeleitet zu werden. Es liegen ferner die Bestimmungen für die Behand-lungsweise dieser Geschichte in jenem Verhältnisse, dessen nähere Erörterung daher ein Hauptzweck dieser Einleitung sein soll. Es muß dazu freilich der Begriff dessen, was die Philosophie beabsichtigt, mitgenommen, ja vielmehr zugrunde gelegt werden; und da, wie schon erwähnt, die wissenschaftliche Auseinandersetzung dieses Begriffs hier nicht ihre Stelle finden kann, so kann auch die vorzunehmende Erörterung nur den Zweck haben, nicht die Natur dieses Werdens begreifend zu beweisen, sondern vielmehr es zur vorläufigen Vorstellung zu bringen. [23]

 

Der Gedanke, der uns bei einer Geschichte der Philosophie zunächst entgegenkommen kann, ist, daß sogleich dieser Gegenstand selbst einen inneren Widerstreit enthalte. Denn die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unvergänglich, ewig, an und für sich ist; ihr Ziel ist die Wahrheit. Die Geschichte aber erzählt solches, was zu einer Zeit gewesen, zu einer anderen aber verschwun-den und durch anderes verdrängt worden ist. Gehen wir davon aus, daß die Wahrheit ewig ist, so fällt sie nicht in die Sphäre des Vorübergehenden und hat keine Ge-schichte. Wenn sie aber eine Geschichte hat, und indem die Geschichte dies ist, uns nur eine Reihe vergangener Gestalten der Erkenntnis darzustellen, so ist in ihr die Wahrheit nicht zu finden; denn die Wahrheit ist nicht ein Vergangenes.

 

Man könnte sagen, dies allgemeine Räsonnement würde ebensogut nicht nur die anderen Wissenschaften, sondern auch die christliche Religion selbst treffen, und es widersprechend finden, daß es eine Geschichte dieser Religion und der anderen Wissenschaften geben solle; es wäre aber über-flüssig, dies Räsonnement für sich selbst weiter zu untersuchen, [24] denn es sei schon durch die Tatsachen, daß es solche Geschichten gebe, unmittelbar widerlegt. Es muß aber, um dem Sinne jenes Widerstreits näherzukommen, ein Unterschied gemacht werden zwischen der Geschichte der äußeren Schicksale einer Religion oder einer Wissenschaft und der Ge-schichte eines solchen Gegenstands selbst. Und dann ist in Betracht zu nehmen, daß es mit der Geschichte der Philosophie um der besonderen Natur ihres Gegenstandes willen eine andere Bewandtnis hat als mit den Ge-schichten anderer Gebiete. Es erhellt sogleich, daß der angegebene Widerstreit nicht jene äußere Geschichte, sondern nur die innere, die des Inhaltes selbst treffen könnte. Das Christentum hat eine Geschichte seiner Ausbreitung, der Schicksale seiner Bekenner usf.; und indem es seine Existenz zu einer Kirche erbaut hat, so ist die[se] selbst [als] eine solche äußeres Dasein, welches in den mannigfaltigsten zeitlichen Berührungen begriffen, mannigfaltige Schicksale und wesentlich eine Geschichte hat. Was aber die christliche Lehre selbst betrifft, [25] so ist zwar auch diese als solche nicht ohne Geschichte; aber sie hat notwendig bald ihre Entwicklung erreicht und ihre bestimmte Fassung gewonnen, und dies alte Glaubensbekenntnis hat zu jeder Zeit gegolten und soll noch jetzt unverändert als die Wahrheit gelten, wenn [auch] dies Gelten nunmehr nichts als ein Schein und die Worte eine leere Formel der Lippen wäre. Der weitere Umfang der Geschichte dieser Lehre aber enthält nur zweierlei: einerseits die mannigfaltigsten Zusätze und Abirrungen von jener festen Wahrheit und andererseits die Be-kämpfung dieser Verirrungen und die Reinigung der gebliebenen Grundlage von den Zusätzen und die Rückkehr zu ihrer Einfachheit.

 

Eine äußerliche Geschichte wie die Religion haben auch die anderen Wissenschaften, ingleichen die Philosophie. Sie hat eine Geschichte ihres Entstehens, Verbreitens, Blühens, Verkommens, Wieder-auflebens, eine Geschichte ihrer Lehrer, Beförderer, auch Bekämpfer, ingleichen auch eines äußeren Verhältnisses häufiger zur Religion, zuweilen auch zum Staate. Diese Seite ihrer Geschichte gibt gleichfalls zu interessanten Fragen Veranlassung, unter anderen [zu der], was es mit der Erschei-nung für eine Bewandtnis habe, daß die Philosophie, wenn sie die Lehre der absoluten Wahrheit [sei], sich auf eine im ganzen geringe Anzahl von Individuen, auf besondere Völker, auf besondere Zeitperioden beschränkt gezeigt habe; wie gleicher Weise in Ansehung des Christentums der Wahrheit in einer viel allgemeineren Gestalt, als sie in der philosophischen Gestalt ist, die Schwierigkeit gemacht worden ist, ob es nicht einen Widerspruch in sich enthalte, daß diese Religion so spät in der Zeit hervorgetreten und so lange und selbst noch gegenwärtig auf besondere Völker eingeschränkt geblieben sei. Diese und andere dergleichen Fragen aber sind bereits viel speziellere, als daß sie nur von dem angeregten allgemeineren Widerstreit abhängen; und erst wenn wir von der eigentümlichen Natur der philosophischen Erkenntnis mehr werden berührt haben, können wir auf die Seiten mehr eingehen, die sich [26] mehr auf die äußere Existenz und äußere Geschichte der Philosophie beziehen.

 

Was aber die Vergleichung der Geschichte der Religion mit der Geschichte der Philosophie in Ansehung des inneren Inhaltes betrifft, so wird der letzteren nicht wie der Religion eine von Anfang an festbestimmte Wahrheit als Inhalt zugestanden, der als unveränderlich der Geschichte entnom-men wäre. Der Inhalt des Christentums aber, der die Wahrheit ist, ist als solcher unverändert ge-blieben und hat darum keine oder so gut als keine Geschichte weiter. Bei der Religion fällt daher der berührte Widerstreit nach der Grundbestimmung, wodurch sie Christentum ist, hinweg. Die Verirrungen aber und Zusätze machen keine Schwierigkeit; sie sind ein Veränderliches und ihrer Natur nach ganz ein Geschichtliches.

 

Die anderen Wissenschaften zwar haben auch dem Inhalte nach eine Geschichte. Sie enthält zwar auch einen Teil, welcher Veränderungen desselben, Aufgeben von Sätzen, die früher gegolten haben, zeigt. Allein ein großer, vielleicht der größere Teil des Inhalts ist von der Art, daß er sich erhalten hat; und das Neue, was entstanden ist, ist nicht eine Veränderung des früheren Gewinns, sondern ein Zusatz und Vermehrung desselben. Diese Wissenschaften schreiten durch eine Juxta-position fort. Es berichtigt sich wohl manches im Fortschritte der Mineralogie, Botanik usf. an dem Vorhergehenden; aber der allergrößte Teil bleibt bestehen und bereichert sich ohne Veränderung durch das Neuhinzukommende. Bei einer Wissenschaft wie der Mathematik hat die Geschich-te, was den Inhalt betrifft, vornehmlich nur das erfreuliche Geschäft, Erweiterungen zu erzählen, und die Ele-mentargeometrie z.B. kann in dem Umfang, welchen Euklid dargestellt hat, von da an als für geschichtslos geworden angesehen werden.

 

Die Geschichte der Philosophie dagegen zeigt weder das [27] Verharren eines zusatzlosen, einfacheren Inhalts noch nur den Verlauf eines ruhigen Ansetzens neuer Schätze an die bereits erworbenen; sondern sie scheint vielmehr das Schauspiel nur immer sich erneuernder Veränderungen des Ganzen zu geben, welche zuletzt auch nicht mehr das bloße Ziel zum gemeinsamen Bande haben. Vielmehr ist es der abstrakte Gegenstand selbst, die vernünftige Erkenntnis, welche entschwindet, und der Bau der Wissenschaft muß zuletzt mit der leeren Stätte die Prätention und den eitel gewordenen Namen der Philosophie teilen.

 

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Vorlesungen+%C3%BCber+die+Geschichte+der+Philosophie

 


 

(Selbst-)Kritische Philosophiegeschichte

 

Wie umgehen mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus in der klassischen deutschen Philosophie?

 

Prof. Dr. Andrea Esser, Dr. Hannah Peaceman und Maximilian Huschke

 

In vielen Werken philosophischer Klassiker treffen wir auf Stellen, Passagen und teils sogar ganze Abhandlungen, die – mindestens aus heutiger Sicht – als rassistisch, sexistisch, antijüdisch bzw. antisemitisch oder in anderer Hinsicht dis-

kriminierend zu beurteilen sind.

 

»Wie sollen wir heute in der universitären Forschung und Lehre mit diesem Erbe umgehen?« lautet die zentrale Frage des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligten Reinhart-Koselleck-Projektes, das im August 2022 am Arbeitsbereich für Praktische Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität begonnen hat (mit einer Förderdauer von fünf Jahren und einer Fördersumme von einer Million Euro).

 

Anstoß zu diesem Projekt gaben die gegenwärtig höchst kontrovers geführten Diskussionen um rassistisches, sexis-tisches und antisemitisches Erbe in der deutschen Gesellschaft, aber insbesondere auch in der Philosophie. Uns geht

es in diesem Projekt darum, aus der Philosophie heraus eine reflektierte, problembewusste Auseinandersetzung anzuregen. Damit meinen wir: eine selbstkritische Reflexion unseres philosophischen Erbes, unserer verwendeten Begriffe und Denkstrukturen. Aber nicht nur dies: Die Philosophie verfügt über ein Analyseinstrumentarium, mit dem

sie auch einen produktiven Beitrag zur öffentlichen Debatte leisten kann.

 

Ein philosophischer Beitrag könnte darin liegen, bereits die Fragestellungen kritisch zu betrachten, unter denen die

aktuellen Debatten jeweils geführt werden: So dominiert gegenwärtig etwa die auf einzelne Personen zentrierte Frage »War Kant, Hegel, … ein Rassist, Antisemit, Sexist …?« die öffentliche, aber auch die akademische Diskussion. Würde

man die Auseinandersetzung aber allein unter dieser Frage führen, liefe man Gefahr, das Thema von vornherein auf die jeweilige Person zu beschränken. Dies ist deshalb problematisch, weil es darauf hinauslaufen könnte, die Auseinander-setzung mit einer – viel zu schlichten – »Ja-nein-Antwort« abzuschließen.

 

Das Problem aber ist zu komplex, als dass man es in »Entweder-oder-Entscheidungen« und abschließenden Urteilen angemessen bearbeiten könnte. Ein weiteres mit diesem Vorgehen zusammenhängendes Problem besteht darin, dass es, wenn über einzelne Denker der Tradition geurteilt wird, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus vorrangig als Thema der Vergangenheit behandelt, ohne dabei auch unsere gegenwärtigen Prägungen in die kritische Reflexion einzubeziehen und sie als immer noch wirksame zum Thema zu machen. Sich in dieser Weise die Rolle von Richter:innen über die Philosophen der Vergangenheit anzumaßen, kann dazu verführen, sich in einer moralisch überlegenen und untadeligen Position zu wähnen, die vorgeblich dazu autorisiert, darüber zu entscheiden, wer noch gelesen werden darf und wer nicht. Die Suche nach in dieser Weise de-finitiven Antworten und abschließenden Urteilen wäre aber auch deshalb unangemessen, weil mit ihnen die Diskus-sion beendet würde. Stattdessen sollte sie aber fortgeführt, ja sogar auf Dauer gestellt werden, weil rassistische, sexistische und antisemitische Ideologien weiterhin wirken, tradiert werden und gerade deshalb kontinuierlich zum Gegenstand der Kritik gemacht werden müssen.

 

Es ist das Anliegen unseres Projektes, zu zeigen, dass wir auch andere Fragen stellen müssen – daher setzt das Projekt 3 Mitteilungen | Winter 2022 – Nr. 58 ein mit der Frage: »Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus (im Folgenden: RSA) in klassischen Werken der Philosophie?«

 

Uns ist wichtig, die gesellschaftliche und politische Dimension des Problems heraustreten zu lassen, die – so möchten wir zeigen – auch die Themen und Begriffe der Philosophie prägte und weiterhin prägt. Entsprechend begreifen wir RSA als Ideologien, die in der fortdauernden Interaktion zwischen Personen selbst traditions- und strukturbildend wirken.

Bestimmte Stereotypen und Assoziationsketten werden auch noch in unserer Gegenwart verwendet und gehören deshalb keineswegs der Vergangenheit an.

 

So gesehen muss man die Schriften der philosophischen Klassiker als ein Medium begreifen, in dem rassistische, sexis-

tische und antisemitische Vorstellungen bewahrt, in der Präsenz gehalten und – in einer unkritischen Rezeption – auch reproduziert werden. Die herabwürdigenden Stellen können dabei ihre diskriminierende und verletzende Wirkung auch heute noch entfalten und werden – mit Bezug auf die Autorität und das Ansehen, das ihren Autoren entgegengebracht wird – mitunter auch zur Rechtfertigung von heutigen RSA-Ideologien und Haltungen instrumentalisiert.

 

Uns geht es daher darum, den gegenwärtigen philosophischen, aber auch den öffentlichen Diskurs um die philo-

sophische Reflexion der politischen Dimension des Themas zu erweitern. Damit verbinden wir die Frage, wie wir im

philosophischen Diskurs, in Forschung und Lehre, aber auch in öffentlichen Diskussionen mit den Mitteln philo-sophischer Begriffs- und Reflexionsarbeit ein dauerhaftes Problembewusstsein entwickeln und bewahren können.

Erst dies würde aus unserer Sicht eine angemessene, (selbst-)kritische Haltung ausdrücken, die um ihre eigene, möglicherweise eingeschränkte Perspektive und deren Fehlbarkeit weiß – und: sich nicht durch ein einmal gefälltes Urteil beruhigen lässt.

 

Diese Überlegungen sind im Laufe mehrjähriger Auseinandersetzungen mit dem Thema zu einem Antrag gereift:

In einem Blockseminar zur Frage, wie eine reflektierte Thematisierung von RSA in Immanuel Kants Texten aussehen könnte, einem daran anschließenden Workshop bei der Jahrestagung der SWIP (Society for Women in Philosophy Deutschland) und einem Forschungsseminar zu Antisemitismus und Antijudaismus bei dem Philosophen Jakob

Friedrich Fries (gemeinsam mit Dr. P. H.-Breitenstein). Erste Resultate dieser Arbeit sind auf den Homepages der

Projekte zu finden (www. wieumgehenmitrsa.uni-jena.de und www.erinnerngestalten. uni-jena.de).

 

Im August 2021 haben wir schließlich bei der DFG unseren Antrag im Rahmen des Reinhart-Koselleck-Programms eingereicht und erhielten im März 2022 den positiven Bescheid. An dem Projekt beteiligt sind nun Prof. Dr. Andrea Esser (Leitung), Dr. Hannah Peaceman (Geschäftsführung), Dr. Sebastian Bandelin, Joël Ben-Yehoshua und Maximilian Huschke. Assoziierte Mitglieder der Arbeitsgruppe, die auch bei der Antragstellung mitgearbeitet haben, sind Danilo Gajic (Hochschule für Philosophie, München) und Dr. Peggy H.-Breitenstein (Institut für Philosophie, Jena).

 

Unser Arbeiten besteht sowohl aus Teilprojekten als auch aus gemeinsamer Forschung. In den Teilprojekten vertiefen wir verschiedene Dimensionen unserer Frage »Wie umgehen mit RSA in Werken der klassischen deutschen Philo-sophie?« Hannah Peaceman (Geschäftsführung) arbeitet zu einem methodisch reflektierten Konzept einer Public Philosophy. Neben theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit entwickelt sie experimentelle und kreative Formate der Vermittlung, die zu einer selbstkritischen 4 Mitteilungen | Winter 2022 – Nr. 58 Reflexion der Philosophie und zum Dialog zwischen Philosophie und Öffentlichkeit beitragen sollen.

 

Sebastian Bandelin arbeitet in seinem Teilprojekt zur Sakralisierung der Philosophie und der Produktion philosophischer Klassiker in der Zwischenkriegszeit. Seine Forschungsarbeit ist ein Beitrag zu einer (selbst-)kritischen Philosophie-geschichtsschreibung. Joël Ben-Yehoshua beschäftigt sich mit dem philosophischen Erbe des christlichen Antijudaismus und untersucht dazu die Transformation christlich-antijüdischer Stereotype und Figuren im Rahmen der Aufklärung mit besonderem Fokus auf die Klassische Deutsche Philosophie. Im Kontext der Kernfrage des Projekts entwickelt Max Huschke Denk- und Praxisformen einer selbstkritischen Reflexion der Philosophie.

 

Über die Beiträge zum öffentlichen Diskurs hinaus geht es uns darum, auch in der akademischen Philosophie einen institutionellen Lernprozess anzuregen. Dies bedeutet unseres Erachtens, einen reflektierten und differenzierten Umgang mit unserem RSA-Erbe fest in der Forschung und Lehre der akademischen Philosophie zu verankern. Dazu wollen wir neue, experimentelle Formate erkunden, die jeweils in Schulen und in der universitären Lehre eingesetzt werden können.

 

• Auf einer Website (noch im Aufbau) werden wir verschiedene Inhalte und Materialien öffentlich zur Verfügung stellen.

 

• Gemeinsam arbeiten wir zum Beispiel an einer Materialsammlung für Lehre, Forschung und Unterricht. Sie soll Grundlagen für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem RSA-Erbe in der Philosophie bereitstellen: In einem Verzeichnis werden problematische Textstellen gesammelt, verordnet und mit Schlagworten versehen. Diese Sammlung wird durch exemplarische Studien ergänzt, in denen verschiedene, sich mitunter gar widersprechende Lesarten bestimmter Passagen vorgestellt, aber auch Materialien für Lehre und Unterricht ausgearbeitet werden, um auf diese Weise konkrete Formen des Umgangs mit solchen Textstellen vorzuschlagen.

 

• Entscheidend für unser Forschungsprojekt ist der Dialog mit der Öffentlichkeit. Wir möchten nicht die Öffentlichkeit »über die Wahrheit in der Sache aufklären«. Vielmehr wollen wir mit Formaten experimentieren, die eine gemeinsame Reflexion zwischen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Philosoph:innen über die Verstrickungen mit dem RSA-Erbe ermöglichen – es ist zum Beispiel ein »Public Hearing« mit Aktivist:innen in Jena geplant, die sich schon seit längerem

mit dem kolonialen Erbe der Stadt auseinandersetzen. Hierzu gehört auch die Tradition des deutschen Idealismus, die durch Büsten, Plaketten und Straßennamen in das Selbstverständnis der Stadt eingeschrieben ist. Neben der lokalen Debatte interessieren wir für uns auch für die Diskussionen bundesweit und arbeiten z. B. an einer Ausstellung zu Immanuel Kant in der Bundeskunsthalle Bonn mit. Wir freuen uns über die Kooperationbereitschaft von Prof.  Dr. Micha Brumlik, Prof. Dr. Rolf Elberfeld , Prof. Dr. Frederek Musall, Prof. Dr. Marina Martinez Mateo, Prof. Dr. Franziska Dübgen und apl. Prof. Dr. Katrin Wille.

 

Information zum Projekt, Hinweise auf Veranstaltungen und Pressestimmen finden Sie auf unserer vorläufigen Homepage: philosophie.uni-jena.de/wieumgehenmitrsa.

 

Andrea Esser ist Professorin für Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller Universität Jena, Hannah Peaceman und Maximilian Huschke sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter:innen.

 

DGPhil Mitteilungen Nr. 58.pdf