Edvard Munch, Verzweiflung
Was ist Verzweiflung?
Ulrich W. Diehl
Zusammenfassung
Im Alltag scheinen wir normalerweise ganz gut zu bemerken, ob jemand verzweifelt ist. Trotzdem fällt es auf Anhieb nicht leicht, genauer zu bestimmen, was Verzweiflung ist. Eine gelungene Definition des Begriffs der Verzweiflung müsste die wesentlichen Merkmale der psychischen Situation von Menschen erfassen, die verzweifelt sind. Im Folgenden versuche ich eine angemessene Definition der Verzweiflung zu geben. Dazu setze ich mich sowohl mit Søren Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode sowie mit Friedhelm Dechers neuerer Monographie Verzweiflung. Anatomie eines Affektes auseinander. Kierkegaards Versuch einer Zurückführung jeder Art von Verzweiflung auf eine Verzweiflung am Selbst scheint phänomenologisch unangemessen zu sein und führt nicht zu einer überzeugenden allgemeinen Definition der Verzweiflung. Dechers enzyklopädischer Durchgang durch die gesamte Philosophiegeschichte liefert in systematischer Hinsicht auch kein ganz befriedigendes Resultat. Sowohl nach gewöhnlichem Verständnis als auch nach der Auffassung einiger namhafter Philosophen ist Verzweiflung ein seelischer Zustand der Hoffnungslosigkeit, der meistens nicht nur aufgrund eines bestimmten Selbstverhältnisses, sondern in einer schwierigen Situation oder vitalen Notlage eintritt, die jemandes momentane Handlungsmöglichkeiten auf eine bedrohliche Art und Weise einschränken. Ob und warum jemand einer bestimmten Situation verzweifelt, hängt jedoch nicht nur von den objektiv erkennbaren Verhältnissen der Situation ab, sondern auch davon, wie jemand selbst seine noch verbleibenden Chancen zur Lösung der Probleme subjektiv einschätzt.
Schlüsselwörter: Verzweiflung, Phänomenologie, Definition, Ausweglosigkeit, Hoffnung, Chancen
What is desperation?
Abstract
In everyday life we seem to realize quite well, if someone is desperate. Nevertheless, it is not easy to define the notion of despair or desperation. Asatisfying definition would have to cover all the essential marks of the psychological situation of someone who is desperate. In the following I am tyring to give an adequate definition of the notion of despair or desperation. For this purpose I examine Søren Kierkegaard's Die Krankheit zum Tode as well as Friedhelm Decher's more recent philosophical study Verzweiflung. Anatomie eines Affektes. Kierkegaard's reduction of all kinds of desperation to a despair about oneself is phenomenologically inadequate and does not lead to a convincing general definition of the notion of desperation. However, Decher's encyclopedian survey of the whole history of philosophy does not lead to convincing results either. According to common sense and to some well received philosophers desperation is a state of hopelessness which in most cases does not only occur because of some kind of relation to oneself, but rather in difficult situations of personal distress or of vital emergency. However, whether or not someone is desperate in some specific situation does not only depend on the state of affairs which are objectively known, but also by their own subjective estimation of the chances to find a solution to his or her problem.
Key Words: Desperation, phenomenology, definition, doubt, hopelessness, hope, chances
Wenn wir uns im Alltag über jemanden verständigen, der verzweifelt ist, sagen wir gewöhnlich solche Dinge wie: “Er war wirklich verzweifelt.”; “Dann verzweifelte sie... “; “es war aber auch wirklich zum Verzweifeln”, etc. Normalerweise können wir ganz feststellen, ob jemand verzweifelt ist. Aber wie machen wir das eigentlich? Wie und woran können wir feststellen, ob jemand Anderes verzweifelt ist? In der Regel achten wir dabei auf das leibliche Verhalten und die mimischen oder sprachlichen Äußerungen eines Menschen, dem gerade etwas widerfährt, das er auf eine bestimmte Art und Weise non-verbal oder verbal ausdrückt. D.h. wir achten auf seine Gestik und Mimik, auf seine leibliche Haltung und den Klang seiner Stimme oder auch auf bestimmte sprachliche Äußerungen über seine eigene emotionale und motivationale Befindlichkeit.
Was wir als „Verzweiflung“ erkennen und bezeichnen, ereignet sich also zuerst als Ausdruck der Befindlichkeit eines Menschen in einer bestimmten Situation, soweit sie aus seinem Verhalten, Handeln und Sprechen erschlossen werden kann. Nur, wenn wir selbst verzweifelt sind, ist es ohne die Rückmeldung eines Anderen, der bei uns feststellen kann, ob wir selbst verzweifelt sind, gar nicht so leicht zu bemerken, in was für einem seelischen Zustand wir uns selbst gerade befinden. Aber selbst dann, wenn wir meistens in der Lage wären, auch bei uns selbst zu bemerken, ob wir gerade verzweifelt sind, wäre es immer noch schwer, genauer zu bestimmen, was denn Verzweiflung eigentlich ist. Denn die Frage nach dem Wesen oder der Natur der Verzweiflung isr allgemeiner und theoretischer Art. Sie bedarf psychologi-scher bzw. philosophischer Reflexion und ist deswegen nicht jedermanns Sache.
1. Was ist Verzweiflung?
Mit der Frage, nach dem Wesen oder der Natur der Verzweiflung, fragen wir nach einer bestimmten Art von psychischer Befindlichkeit eines Menschen. Wir fragen explizit was wir im Allgemeinen über diese bestimmte Art von psychischer Befindlichkeit mit Fug und Recht sagen können. Solange das noch nicht geklärt ist, wissen wir höchstens intuitiv und implizit, worüber wir eigentlich sprechen, wenn wir von jemandem im Alltag sagen, dass er gerade verzweifelt sei. Um zu verstehen, um was für eine Art von Befindlichkeit es sich eigentlich handelt, müssen wir sie jedoch zumindest intuitiv und implizit von anderen Arten von Befindlichkeit, wie z.B. von Angst oder Furcht, von Ärger oder Groll, von Traurigkeit oder Langeweile unterscheiden können.
Ich gehe davon aus, dass es sich bei der Verzweiflung um eine bestimmte phänomenale Ausdrucks- und Erlebnisqualität einer psychischen Befindlichkeit handelt, die den ganzen Menschen in leiblichen, emotionalen, motivationalen und kognitiven Hinsichten erfasst, und die sich von der phänomenalen Qualität anderer Befindlichkeiten unterscheiden lässt. Um auf diese Art und Weise zu erkennen, ob man selbst oder jemand Anderes verzweifelt ist, muss man dann zwar bestimmte phänomenale Qualitäten introspektiv oder am Verhalten des Anderen wahrnehmen, aber man muss nicht wissen, was sich kausal oder funktional, hormonell oder neuronal in Gehirn und Nervensystem dieses Menschen ab-spielt.
Die Frage nach dem Wesen der Verzweiflung wurde in der philosophischen Literatur auch schon vor Søren Kierkegaards herausragender berühmter Abhandlung Die Krankheit zum Tode behandelt. 1 In seiner „christlichen psychologischen Erörterung“ (S. 1), die ihrem Untertitel zufolge der Erbauung und Erweckung dient, hat er versucht, das Wesen der Verzweiflung philosophisch als „Krankheit zum Tode“ (Erster Abschnitt) und theologisch als „Sünde“ (Zweiter Abschnitt) zu bestimmen. Außerdem hat Kierkegaard erstmals zwischen zwei Grundformen der Verzweiflung am Selbstsein unterschieden: verzweifelt man selbst sein zu wollen und verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen. Weiterhin hat er zweitens zwischen unterschiedlichen Gestalten der Verzweiflung unterschieden: bewusste und unbewusste V.; V. der Unendlichkeit, und V. der Endlichkeit sowie V. der Möglichkeit und V. der Notwendigkeit. Darin liegt sein originärer Beitrag zu einem differenzierteren Verständnis der Verzweiflung, mit dem er jedenfalls weit über die philosophischen Abhandlungen vor ihm hinausgegangen ist. 2
Allerdings scheint es mir auch zwei wesentliche Aspekte seiner Auffassungen zu geben, die nicht nur in philosophischer, sondern auch in theologischer Hinsicht problematisch sind. Denn Kierkegaard hat den Begriff der Verzweiflung einer-seits semantisch zu weit aufgefasst, wenn er sie theologisch mit der „Sünde“ im christlichen Sinn schlechthin identifiziert und deswegen behauptet, dass eigentlich jeder Mensch solange als unbewusst oder bewusst verzweifelt gelten muss, solange er noch nicht zum christlichen Glauben gekommen sei. Diese Auffassung scheint insofern problematisch zu sein, weil es (1.) auch (gläubige) Christen gegeben hat, die in bestimmten Situationen verzweifelt waren, wie z.B. Martin Luther in seinem legendären seelisch-geistigen Ringen um das verlorene Zutrauen in die Gnade Gottes angesichts seiner Ängste und psychischen Konflikte, geistlichen Anfechtungen und theologischen Zweifel. 3 Außerdem wäre es (2.) ziemlich gewagt zu behaupten, dass Atheisten oder Menschen anderer Religionen alleine schon deswegen verzweifelt sind, weil sie (noch) keine gläubigen Christen sind. Allerdings kann man sicher zugestehen, dass ein gesunder und stärkender Glaube an Gott für Juden, Christen und Muslimen in belastenden Grenzsituationen eine psychische Ressource gegen Verzweiflung sein kann.
Andererseits hat Kierkegaard er aber auch das Phänomen der Verzweiflung sachlich zu eng aufgefasst, wenn er ver-sucht jede Verzweiflung als reflexive Verzweiflung am Selbstsein aufzufassen, als ob es gar keine Verzweiflung an etwas Anderem als sich selbst, wie z.B. über eine bestimmte tragische Situation oder Entwicklung in der Welt gäbe. Weil nun aber Kierkegaard das Phänomen der Verzweiflung – zumindest nach gewöhnlichem Verständnis dessen, was wir normalerweise unter Verzweiflung verstehen – auf diese Weise verfehlt hat, ist es nach wie vor die vorrangige Aufgabe, sich noch einmal zu fragen und zu untersuchen, was denn Verzweiflung überhaupt ist. Es scheint diese allgemeine Sachfrage zu sein, die Kierkegaard gerade nicht gestellt und untersucht hat, weil er eigentlich gar keine wissenschaftlich-psychologische oder phänomenologisch-philosophische Untersuchung über das Wesen der Verzweiflung anstrengen wollte. Das liegt daran, dass er eigentlich einen außerwissenschaftlichen Zweck verfolgte, wenn er als Christ zum christlichen Glauben erwecken und im Sinne des christlichen Glaubens erbaulich sein wollte.
In jüngerer Zeit hat sich Friedhelm Decher in seiner Monographie Verzweiflung. Anatomie eines Affektes nicht nur intensiv mit den wichtigsten philosophischen Auffassungen über die Natur der Verzweiflung von Augustinus und Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza und Kant, Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu Kierkegaard auseinander-gesetzt. Friedhelm Decher hat sich darüber hinaus auch ausführlich und eingehend mit den moderneren Unter-suchungen von Karl Jaspers, Max Sack, Otto Friedrich Bollnow, Ernst Bloch, Wilhelm Weischedel, Michael Theunissen und Emile M. Cioran befasst. Aus diesem Grunde knüpfe ich in meinen Überlegungen und Ausführungen zunächst an Dechers neuere Monographie an. Allerdings bin ich in der Auseinandersetzung mit seinen Überlegungen zu der Auffassung gekommen, dass auch Decher die unumgänglichen Fragen nach dem Wesen und den Grundformen dieser personalen Befindlichkeit nicht zufrieden stellend geklärt hat. Das liegt daran, dass Decher zwar kursorisch fast die gesamte überlieferte Literatur zum Thema behandelt hat, die kierkegaardschen Fragen nach dem Wesen, Grundformen und Gestalten der Verzweiflung aber nicht klar und deutlich untersucht hat. Eine enzyklopädische und philosophie-geschichtliche Übersicht über die bisherigen Meinungen der Philosophen führt eben noch lange nicht zu einer phäno-menologisch angemessenen Arbeit am Begriff. 4
2. Etymologische und semantische Vorüberlegungen
In methodischer Hinsicht reichen jedoch auch etymologische und semantische Analysen kaum hin, um zu einem besseren sachlichen Verständnis des Wesens, der Grundformen und der Gestalten der Verzweiflung im Sinne Kierke-gaards zu gelangen. Anders als Martin Heidegger bin ich nicht der Auffassung, dass sich etymologische Analysen, die altertümliche Ausdrücke mystifizieren und die eigene Muttersprache glorifizieren, als solche schon zu einem angemes-seneren Verständnis der Phänomene, Sachen und Probleme beitragen. Vor allem eröffnen sie keinen besonders privilegierten oder gar unfehlbaren Zugang zum Wesentlichen der Phänomene, Sachen und Probleme. Gleichwohl können etymologische Analysen auf einen gewissen „Wink der Sprache“ aufmerksam machen, der jedoch selbst wiederum auf seinen haltbaren Sach- und Problemgehalt hin zu prüfen ist.
In dieser Hinsicht scheint mir Wittgensteins sprachphilosophische Auffassung, dass die wahrheitsfunktionale Bedeutung eines Ausdrucks im Wesentlichen durch seine konventionelle und individuelle Funktion in der lebendigen, gesprochenen Sprache bestimmt wird, überzeugender zu sein. Gleichwohl schließt Wittgensteins Auffassung auch nicht aus, dass eine etymologische Analyse oder ein semantischer Sprachvergleich aufzeigen können, welche teilweise unterschiedlichen Bedeutungsmerkmale bei einem Sprachvergleich im Spiele sein können und welche verschiedenen Assoziationen bei weitgehend bedeutungsgleichen Ausdrücken emotional mitschwingen können. Solche kognitiven und emotionalen Differenzen können dann auch etwas zu unterschiedlichen Auffassungen und Überzeugungen bezüglich der Sachen und Probleme beitragen. 5
Friedhelm Decher hat in seiner Monographie zwar zurecht darauf hingewiesen, dass sich das deutsche Wort Ver-zweiflung aus dem germanischen Wortstamm twi-flan herleiten lässt, was sich aus twi = zwei und fla = fach zusammen-setzt und daher so viel wie zwei-fach bedeutet. Dieser Wortstamm bildet auch den Kern des deutschen Wortes Zweifel. Decher ist der Auffassung, dass sich Zweifeln von seiner Wortgeschichte her auf die folgende Weise verstehen lässt: Zweifeln heißt „zweifachen Sinnes sein, sich in der Schwebe zwischen zwei Möglichkeiten halten. Wer zweifelt, steuert also nicht zielgerichtet auf etwas los, ergreift nicht unüberlegt und rasch eine der dargebotenen Möglichkeiten, sondern lässt sich Zeit, wägt die Alternativen, gewichtet das Für und Wider, lässt die Entscheidung vorerst offen.“ (Decher, 2002, S. 52) Diese etymologische Beobachtung offenbart nach Dechers Auffassung insofern auf einen zutreffenden Sach-verhalt, als „der Grundsinn“ von Zweifeln ein seelisch-geistiges „Sich-präsent-Halten“ ist, dass „etwas auch anders sein könnte, als es de facto ist oder sich den Anschein gibt“. (ebd., S. 52)
Weil der Zweifel des Skeptikers nicht nur die eigenen Meinungen, Ansichten und Urteile über Sachverhalte und Situa-tionen, sondern auch in Handlungssituationen die eigenen Präferenzen, Intentionen und Entscheidungen möglichst lange in der Schwebe zu halten versucht, kann nach Augustinus „das damit einhergehende Hin- und Herschwanken“ (ebd., 2002, S. 57) zumindest potentiell in eine emotionale und kognitive Ruhelosigkeit hineintreiben, die der Verzweif-lung zumindest ähnlich ist, sobald sie perpetuiert und intensiviert wird. Diese seelische Ruhelosigkeit ist zwar an sich selbst noch keine echte Verzweiflung. Zur Verzweiflung kann ein solches ruheloses Zweifeln aber führen, wenn der Zweifelnde in eine subjektiv oder objektiv hoffnungs- und auswegslose Situation hineingerät. Denn in einer solchen Situation wird der Zweifelnde aufgrund seines Sich-Präsent-Haltens von bloß theoretischen Möglichkeiten und praktischen Alternativen ohnmächtig und muss kapitulieren. Das Kaleidoskop der Möglichkeiten erweist sich als illusionär und der Spielraum der Alternativen als chimärenartig. Erst in dem Moment, in dem das realisiert wird, kann sich dann auch der „Verzweiflungsaffekt“ (Decher) einstellen, der langfristig zu einer Befindlichkeit der Verzweiflung führen kann.
Nach Decher hat Kierkegaard dieser zutreffenden Auffassung aus den Confessiones von Augustinus dann aber auch noch die weitere Beobachtung hinzugefügt, dass der anhaltende, extensive und intensive Zweifel selbst auch in eine Verzweiflung hinein treiben kann. Denn nach Kierkegaard ist zweifeln nicht nur „ein spielerisches Ausprobieren“ (ebd., S. 57) von Möglichkeiten und Alternativen, sondern kann auch „eine äußerst schreckliche Gestalt annehmen“ (ebd., S. 57) Denn, wenn es „beim prüfenden Umherspähen auf den verschlungenen Wegen des Zweifels“ (ebd., S. 57) objektiv keinen Ausweg gibt und jemand deswegen notgedrungen in eine Sackgasse geraten muss, dann kann es nicht nur sein, dass jemand in die Gemütslage der Verzweiflung hineingerät, sondern dann muss es früher oder später auch gesche-hen, dass er wirklich verzweifelt. Nach Kierkegaard geschieht dies eben gerade beim religiösen Zweifel an der Existenz Gottes, weil der Glaube an Gott seiner christlichen Auffassung zufolge der tragende Grund der Persönlichkeit ist. In dieser existenziellen Situation des menschlichen Lebens muss der unterscheidende, abwägende und reflektierende Verstand mit all seinem Zweifel als Sich-Präsent-Halten von bloßen theoretischen Möglichkeiten und praktischen Alternativen irgendwann scheitern und kapitulieren.
Allerdings reicht die von Decher wiedergegebene etymologische Verwandtschaft der deutschen Ausdrücke Zweifel und Verzweiflung auch nicht viel weiter als bis zu der Auffassung von Augustinus und Kierkegaard, dass zumindest in existenziellen oder religiösen Angelegenheiten der skeptisch zweifelnde Verstand zu einer Verzweiflung führen kann, wenn auch nicht unbedingt führen muss. Andere wesentliche Momente der Verzweiflung können durch die etymo-logische Analyse des deutschen Ausdrucks für dieses Phänomen und sich anschließende semantische Reflexionen kaum gewonnen werden, weil sprachlicher und sachlicher Befund divergieren.
Nach Decher handelt es sich nämlich bei der Verzweiflung vorwiegend um einen emotionalen Zustand, den er etwas allzu einfach als einen Affekt bzw. eine affektive Stimmung eines Menschen zu bestimmen versucht. Dieser Affekt stellt sich ihm zufolge ein, sobald sich jemand in einer mehr oder weniger hoffnungs- und ausweglosen Notlage befindet, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass er oder sie „keine Wahl mehr hat, dass ihm jegliche Freiheit der Entscheidung genommen ist. Verzweiflung wäre demzufolge zugleich Verlust von Wahl- und Entscheidungsfreiheit.“ (ebd., S. 60) Insofern gleicht sie dann aber gerade eher dem Ende eines jeden skeptischen Sich-Offen-Haltens für verschiedene theoretische Möglichkeiten und praktische Alternativen.
Für unsere Frage nach dem Wesen der Verzweiflung ist nun jedoch entscheidend, dass man in der rein etymologischen und semantischen Analyse des deutschen Wortes Verzweiflung nicht zu dem für die Verzweiflung wesentlichen Moment der Hoffnungs- und Ausweglosigkeit gelangt, obwohl es auch nach Decher ein untrügliches Wesensmerkmal der Verzweiflung ist, dass „der Verzweifelte in Entscheidungen, Situationen, Lebensumstände und dergleichen hinein-gezwungen ist, die jegliche realen Alternativen ausschließen. (ebd., S. 121) Anders verhält es sich nach Decher in den wichtigsten romanischen Sprachen sowie im Englischen, in denen sich die Ausdrücke für das gleiche Phänomen wortgeschichtlich aus dem lateinischen Wort desperatio herleiten lassen. Das lateinische Wort desperatio besteht aus der negierenden Vorsilbe de- und aus dem Ausdruck spes für Hoffnung. Das gilt für das italienische Wort disperazione, das französische désespérance oder désespoir, das spanische desesperación und das englische Wort despair. Vom seinem lateinischen Wortstamm her wird die Verzweiflung sowohl in den romanischen Sprachen als auch in der verschiedenen Versionen des Englischen assoziativ als Gegenteil der Hoffnung gedacht und rein etymologisch über-haupt nicht in irgendeine Verbindung mit dem Zweifeln gebracht. Dieser sprachliche Befund hat auch nach Decher einen sachlich zutreffenden Kern: „verzweifelt zu sein heißt, bar jeder Hoffnung zu sein. Angelangt auf dem Grund seiner Verzweiflung, wird der Verzweifelte gewahr, wie ihm jegliche Hoffnung zuschanden geht. Der Zustand der Verzweiflung ist mithin ganz wesentlich ein Zustand der Hoffnungslosigkeit.“ (ebd., S. 14-15)
Eine Verbindung zwischen germanischer und lateinischer Etymologie ließe sich nur nachträglich herstellen, indem man Verzweiflung in einem religiösen Sinn als ein Zweifeln an dem letzten und tiefsten Grund der Hoffnung deutet. Aber diese Verbindung ergibt sich nicht mehr aus der einen oder anderen etymologischen Analyse und ihren semantischen Konsequenzen, sondern aus einer empirischen Hypothese über ein allgemein menschliches Phänomen, von dem wir aus eigener Lebenserfahrung intuitive Vorkenntnisse besitzen. Aus diesem Grunde kommt man mit etymologischen und semantischen Überlegungen an dieser Stelle nicht mehr weiter und sollte man die Phänomene, Sachen und Probleme untersuchen, um mit Kierkegaard Wesen, Gestalten und Grundformen der Verzweiflung zu unterscheiden. 6
3. Auf der Suche nach einem angemessenen Verständnis der Verzweiflung
In meinen bisherigen Überlegungen bin ich davon ausgegangen, dass die meisten Menschen mit gesundem Menschen-verstand und hinreichender Lebenserfahrung intuitiv und implizit ganz gut erkennen können, ob jemand Anderes oder sie selbst verzweifelt sind. Dazu gehört dann auch, dass sie die Verzweiflung auch von anderen Arten von Befindlichkeit, wie z.B. von Angst oder Furcht, von Ärger oder Groll, von Traurigkeit oder Langeweile unterscheiden können. Das alleine genügt jedoch nicht, um explizit sagen zu können, was Verzweiflung eigentlich ist. Die angänglichen etymologischen und semantischen Vergleiche zwischen dem Deutschen und dem Lateinischen bzw. den romanischen Sprachen haben dann ergeben, dass Verzweiflung wesentlich ein Verlust von Hoffnung aufgrund fehlender Chancen und Perspektiven zur Lösung anstehender und bedrängender Lebensprobleme ist. Ob jemand Anderes gerade verzweifelt ist, können wir an bestimmten verbalen Äußerungen oder aber an nonverbalem Verhalten, wie z.B. am wilden Haareraufen oder angsterfülltem Schreien, erkennen.
Allerdings scheint es auch eine stille Verzweiflung zu geben, die sich nicht so drastisch in unruhigem äußeren Verhalten, sondern nur in einem Verlust des inneren Friedens zeigt. Ein Beispiel dafür ist das Gretchen in Goethes Faust, die vor sich hin klagt:
Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.
Wo ich ihn nicht hab’,
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.
Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt.
Mein Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.
Was ist los mit Gretchen, die alleine am Spinnrad sitzt und ganz verloren vor sich hin redet? Was fehlt ihr? Gretchen hat offensichtlich Liebeskummer. Aber ist sie deswegen auch schon verzweifelt? Gewisse Anzeichen dafür gibt es schon: Das Leben scheint für sie ohne „ihren Faust“ keinen Sinn mehr zu haben, keine seelische Erfüllung. Eine innere Leere scheint sich in ihr breit zu machen. Die Welt wird ihr gleichgültig, wie sie sagt. Sie sehnt sich nach dem Grab, um dort wenigs-tens die innere Ruhe wieder zu finden, die sie einst empfunden hatte. Der Tod soll für sie zur Lösung werden, weil ihr Leben nicht ans Ziel zu kommen scheint. Verzweiflung hat ann offensichtlich auch mit schmerzvoll erlebter Sinnlosigkeit zu tun. Wo das Leben seinen Sinn verloren zu haben scheint, bietet sich anscheinend der Tod als Ausweg an. (Goethe, 1965, S. 100) Gretchens Liebeskummer grenzt an Verzweiflung und enthält Spuren von Verzweiflung. Auch nach Kierke-gaard gibt es eine milde Form von Verzweiflung, die noch zu schwach ist, um sich ihrer als Verzweiflung bewusst zu werden.
Um noch weitere charakteristische Merkmale der Verzweiflung als spezifischer seelischer Befindlichkeit herauszufinden, möchte ich im Folgenden drei drastischere Beispiele untersuchen:
1. Manche Philosophen mögen zuerst einmal zutreffend behaupten, Verzweiflung sei vor allem ein Zustand der Hoff-nungslosigkeit. Man denke dabei etwa an die Szene des Films Der Untergang der Titanic: In dem Moment als der Archi-tekt der Titanic, der sich bei der Jungfernfahrt nach Amerika selbst auch an Bord befunden hatte, erfuhr, dass der gestreifte Eisberg den vorderen Rumpf des Schiffes bis hin zur fünften Schiffskammer aufgerissen hatte, musste er folgern, dass die Titanic aufgrund der kontingenten Faktenlage und naturgesetzlicher Notwendigkeiten sinken würde. Es gab keine wirkliche Hoffnung mehr, die in der faktischen Lage des Schiffes und in den verbleibenden Handlungs-möglichkeiten der Crew begründet gewesen wäre: Die Titanic war nicht mehr zu retten. Jetzt kam es nur noch darauf an, möglichst viele Menschen in die wenigen, jedoch nicht für alle ausreichenden Rettungsboote zu bringen. Die Offiziere der Titanic, die die Rettungsaktion durchzuführen hatten, gingen dabei nach der Maxime vor: „Frauen und Kinder zuerst“.
Da es an Bord drei verschiedene Decks gab, die die nach drei Klassen geschichtete englische Gesellschaftsordnung widerspiegelte, waren die Überlebenschancen unterschiedlich gut verteilt. Im einfacher ausgestatteten Unterdeck befanden sich vor allem die Tagelöhner, Arbeiter und Handwerker, von denen nicht wenige dabei waren, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, um dort ein besseres Leben zu finden. In dem etwas bequemeren Mitteldeck befanden sich die Reisenden aus dem bürgerlichen Mittelstand, die nicht zur Auswanderung gezwungen waren, sich aber erstmals eine solche Schiffsreise leisten konnten. Im reichlich luxuriösen Oberdeck vermischten sich Passagiere aus dem alteingesessenen englischen Adel mit guten Manieren mit etwas weniger manierlichen neureichen Engländern und Amerikanern, für die es sich meistens nur um eine reine Vergnügungsreise mit Rückfahrkarte handelte. Viele, wenn auch nicht alle Passagiere an Bord der Titanic reagierten offensichtlich verzweifelt, je nach ihrem jeweiligen Kenntnis-stand über die tatsächliche Lage des Luxusliners, je nach dem Verlust ihrer Illusion der vermeintlichen Unsinkbarkeit der Titanic und je nach anderen weltanschaulichen Überzeugungen.
Einige verhielten sich wie der schwermütige Kapitän resigniert und stoisch bis zum erwarteten Untergang, den er fatalistisch als sein unausweichliches Schicksal hinnahm. Nach Kierkegaard entspricht dieses stoische Verhalten der Verzweiflung der Notwendigkeit des Deterministen, dem jede weiterführende Phantasie im Hinblick auf eine bisher unerkannte oder unerwartete Möglichkeit abgeht. Einige andere Passagiere, wie z.B. die eher übermütigen Musiker verhielten sich auf geradezu phantastische Art und Weise trotzig vergnügt, als ob gar nichts Furchtbares geschehen wäre. Sie spielten auch noch auf dem sinkenden Schiff zu einem letzten Tanz auf, der wohl eher an mittelalterliche Totentänze erinnert, bis sie mitsamt dem Schiffsrumpf von den Wassermassen verschlungen wurden. Nach Kierkegaard entspricht dieses phantastische Verhalten der Verzweiflung der Möglichkeit des empiristisch gesinnten Skeptizisten, dem ein tieferes Verständnis für situationsbedingte und naturgesetzliche Notwendigkeiten abzugehen scheint.
Wiederum einige andere Passagiere haben sich, wie die beiden jungen Hauptfiguren, eher realitätsbezogen verhalten, indem sie die Chancen und Risiken abgewogen haben und zwischen den unbeeinflussbaren Notwendigkeiten und den noch offen stehenden Handlungsalternativen gesucht haben, um sich selbst und möglichst vielen anderen Passagieren das Leben zu retten. Während die ersten beiden Gruppen auf unterschiedliche Art und Weise verzweifelt reagiert haben, kann man das von der dritten Gruppe nicht zutreffend behaupten. Natürlich mögen auch sie verzweifelte Momente erlebt haben, als sie sich noch einen der letzten Plätze in den nicht ausreichend vorhandenen Rettungsbooten gesucht oder erkämpft haben. Gleichwohl hatten sie noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben und gewannen daraus die Kraft zum zweckrationalen und solidarischen Handeln. Obwohl die Situation der Titanic insgesamt ausweglos war und sie nicht mehr vor dem Untergang gerettet werden konnte, gab es angesichts dieser Katastrophe immer noch bestimmte zweckrationale und solidarische Handlungsspielräume, um dann noch die Rettung möglichst vieler Menschen zu organisieren.
Die erste Definition lautet: Verzweiflung ist eine ganz bestimmte seelische Befindlichkeit ist, die man als einen psychischen Zustand der Hoffnungslosigkeit angesichts einer schwierigen Situation oder ausweglosen Notlage verstehen kann.
Gleichwohl reagieren nicht alle Menschen angesichts ein und derselben schwierigen oder gar ausweglosen Situation und bei gleichem Kenntnisstand in gleicher Weise verzweifelt. Manche mögen verzweifelt reagieren, andere nicht und es wird bei verschiedenen Menschen in ein und derselben Situation vermutlich immer gewisse Grade der Verzweiflung geben. Persönlichkeitsbedingte Individualität und Gradualität der Verzweiflung gehören also dazu, wenn man das Wesen der Verzweiflung untersucht. Verzweiflung ist demzufolge zwar eine psychische Reaktion auf eine schwierige Situation oder Notlage, die als hoffnungs- oder ausweglos empfunden und eingeschätzt wird. Aber gerade als psychi-sche Reaktionsbildung ist sie keine bloß mechanische oder quasi-mechanische, rein kausal-analytisch erfassbare Reaktion auf eine bestimmte Notlage, die man ohne eine hermeneutische Kenntnisnahme der individuellen Differenzen zwischen einzelnen Persönlichkeiten und Persönlichkeitstypen erklären und verstehen könnte. Die auf empirische Verallgemeinerung abzielenden, nomothetischen Methoden der naturwissenschaftlichen Objektivierung und Quanti-fizierung stoßen an ihre impliziten Grenzen, wo es um das psychologische und idiographische Erklären und Verstehen individueller Persönlichkeiten, ihres graduierbaren Verhaltens und ihres intentionalen Denkens, Fühlens und Handelns geht. Es bedarf sowohl verstehender Persönlichkeitspsychologie als auch geisteswissenschaftlicher Reflexionen, um ein solches allgemein menschliches Phänomen angemessen erfassen, verstehen und erklären zu können.
2. Andere Philosophen mögen hingegen ergänzen, zur Verzweiflung gehört aber auch das Ausgeliefertsein an eine auswegslose Situation, aus der sich jemand nicht mehr selbst befreien kann. Hier könnte man an den Film Das Boot denken: Der Kapitän des U-Bootes der deutschen Marine hatte beschlossen, des nachts bei Gibraltar durch die Front der Engländer hindurch zu stoßen, um sich dann mit Hilfe der tieferen Fluten durch die Meerenge hindurch treiben zu lassen, um schließlich den rettenden Heimweg nach Deutschland anzutreten. Einige Schiffe der englischen Flotte hatten jedoch das U-Boot entdeckt, angegriffen und mit Unterwasserminen bombardiert. Deswegen saß es in der Meerenge vor Gibraltar auf Meeresgrund und es sah für Stunden ganz und gar nicht danach aus, dass es jemals wieder flott gemacht werden könnte. Die Lage schien für einige Zeit ausweglos zu sein. Man saß in einer tödlichen Falle und hatte sich sogar im wahrsten Sinne des Wortes selbst hinein manövriert.
Die zweite Definition lautet: Verzweiflung ist eine seelische Befindlichkeit sei, die sich angesichts einer gewissen Situation der Ausweglosigkeit einstellen kann, aber nicht einstellen muss.
Insofern ist Verzweiflung eine potentielle psychische Befindlichkeit, die sich unter gewissen psychischen Bedingungen aktualisieren kann, unter anderen psychischen Bedingungen jedoch auch ausbleiben kann. Auch diese Differenz zwischen Potentialität und Aktualität der Verzweiflung gilt es zu bedenken, wenn man das Wesen und die Gestalt der Verzweiflung verstehen will. Verzweiflung ist dann also nicht nur eine bestimmte Art von menschlichem Verhalten nonverbaler oder verbaler Form, das man im Geiste des Positivismus und Behaviorismus als eine gewisse Reihe von beziehungslosen Fakten erfassen, beobachten und untersuchen könnte. Vielmehr bedarf es einer ganz bestimmten intentionalen Einstellung der personalen Bezogenheit, die anders als die apersonale Aufmerksamkeit auf eine Sache (ein Gegenstand, ein Ereignis oder ein Prozess) eine Zuwendung zu einer lebendigen Person mit einer gewissen personalen Identität in Raum und Zeit darstellt, mit der ich durch Empathie in eine kommunikative Beziehung eintrete, die unter günstigen Umständen dann auch zu einer wechselseitigen Anerkennung und mitmenschlichen Begegnung führen kann. Auf diese Weise kann man dann auch wie Kierkegaard feststellen, dass es nicht nur eine bewusste Verzweiflung gibt, deren sich jemand im akuten und aktualisierten Zustand als eigener momentaner Befindlichkeit bewusst geworden ist, sondern dass es auch eine mehr oder weniger unbewusste Verzweiflung gibt, die zwar als Potentialität unterschwellig wirksam ist, die sich jedoch angesichts mangelnder Herausforderungen der Persönlichkeit durch schwierige Situationen und desillusionierende Notlagen der Hoffnungs- und Ausweglosigkeit noch nicht vollständig aktualisieren konnte und damit auch hinreichend bewusst werden konnte.
3. Wiederum andere Philosophen werden weder auf den personalen Zustand der subjektiven Hoffnungslosigkeit noch auf faktische Situationen der objektiven Ausweglosigkeit hinweisen, sondern auf bestimmte Akte der Verzweiflung, wie z.B. solche, in denen sich jemand selbst das Leben nimmt. Wir können uns dazu an einige schreckliche Fernsehbilder vom 11. September 2001 erinnern. Sie zeigten Menschen, die sich aus einem der beiden Türme des World Trade Center hinaus stürzten. Sie hatten offensichtlich keine andere Wahl. Da sie sich offenbar unmittelbar oberhalb der in Flammen lodernden Einsturzstelle befanden und sich die Flammen immer weiter nach oben ausgebreitet hatten, wollten sie anscheinend der furchtbaren Qual eines Verbrennungstodes in der sich nähernden Flammenflut entkommen und stürzten sich aus dem Fenster in den eben so sicheren Tod. Vielleicht erlebten sie noch einen kurzen Rausch des freien Falles, der erst durch einen tödlichen Aufprall auf unbestimmtem Grund beendet wurde. Vielleicht kam ihnen dabei eine Ohnmacht zuvor und betäubte sie. Eine reale Hoffnung auf Überleben hatten sie angesichts der beträchtlichen Höhe der Gebäude jedenfalls kaum und vermutlich wussten sie das auch. Wir wissen nicht, wie viel Zeit ihnen zum Nach-denken und Überlegen gegeben war. Wir wissen auch nicht, wie verzweifelt sie gewesen waren, um diesen letzten Sprung zu wagen. Aber wir dürfen angesichts ihrer bekannten Situation vermuten, dass es sich wahrscheinlich um einen letzten Akt der Verzweiflung gehandelt haben könnte. Nicht ganz auszuschließen ist, dass es sich in vielen Fällen eher um eine bloße Panikreaktion gehandelt haben könnte, die nicht über die für eine bewusste und geplante Handlung notwendigen und hinreichenden psychologischen Merkmale verfügt.
Die dritte Definition lautet: Verzweiflung ist nicht nur eine bestimmte Art von seelischer Befindlichkeit, nämlich ein psychischer Zustand der Hoffnungslosigkeit, der sich als psychische Reaktionsbildung auf eine vermeintlich oder wirklich ausweglose Situation einstellen kann und in dem sich jemand passiv befindet; es gibt auch Verzweiflungsakte, die nicht alleine als quasi-mechanische psychische Reaktionen auf äußere Umstände zu verstehen sind.
Dass es auch Akte der Verzweiflung gibt, legt nahe, dass es selbst unter den gleichen Umständen der wirklichen oder vermeintlichen Ausweg- oder Hoffnungslosigkeit nicht nur individuell und graduell verschiedene affektgesteuerte Verhaltensweisen, sondern auch individuelle und graduelle verschiedene intentionale Handlungen (inklusive Denk-, Willens- und Sprechakte) geben kann, die als die eigentümlichen Antworten bestimmter Menschen auf diese spezifische Situation gelten dürfen. Dabei gilt es dann auch zu beachten, dass diese Antworten immer schon von ihrer jeweiligen perspektivischen Wahrnehmung und subjektiven Interpretation der jeweiligen realen Situation abhängen wird und dass sie von einer gewissen von Interesse geleiteten Einschätzung dieser realen Situation als mehr oder weniger ausweg- oder hoffnungslos abhängt. Auch dann, wenn eine Situation gewissermaßen von außen betrachtet objektiv als ausweglos einzuschätzen ist, kann und wird es vorkommen, dass die betroffenen Personen aufgrund ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen sowie aufgrund ihrer unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen können. Dies ist vor allem dadurch bedingt, dass Menschen aufgrund ihrer verschiedenen Persönlichkeiten auch unterschiedlich psychologische Potentiale und Kompetenzen zur Überwindung der jeweiligen Notlagen verfügen, bevor sie mehr oder weniger verzweifelt resignieren.
4. Versuch einer angemessenen Definition von Verzweiflung
Wir haben in drei vorläufigen Definitionsversuchen Antworten auf die Frage erwogen, was das Wesen der Verzweiflung ist. Diese Antworten wurden anhand von einem harmloseren literarischen Beispiel und anhand von drei drastischeren filmischen Beispielen illustriert. Bei den ersten beiden Szenarios handelte es sich um fiktionale Filmszenen, beim letzten Szenario um wirkliche Szenen aus den Live-Übertragungen von Fernsehnachrichten. Wenn wir uns jetzt angesichts dieser vier Antworten wiederum fragen, was Verzweiflung ist, können wir die verschiedenen zutreffenden Teilaspekte dieser Antworten zusammenfügen und antworten:
Verzweiflung ist als seelische Befindlichkeit ein psychischer Zustand der Hoffnungslosigkeit, der in einer mehr oder weniger extremen psychischen Notsituation oder vitalen Notlage eintritt, die den objektiven Verhältnissen nach oder zumindest der subjektiven Einschätzung zufolge durch eine gewisse Ausweglosigkeit dominiert wird und deswegen oftmals zu bestimmten nonverbalen oder verbalen Verhaltensweisen und Handlungen führt, die selbst einen Ausdruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit darstellen und bisweilen zu einer Sehnsucht nach dem Tod als Ausweg aus der Situation oder als Lösung des Problems führen können bis hin zu dem schlimmsten Falle des versuchten oder realisierten Suizids als ultima ratio.
Es gibt also offenbar drei notwendige und hinreichende Merkmale, die vorliegen müssen, damit es sich in einem bestimmten Fall tatsächlich um Verzweiflung und nicht etwa um einen Fall von Angst oder Furcht, Trauer oder Depression, Enttäuschung oder Verstimmung handelt: (1.) bei der seelischen Befindlichkeit der Verzweiflung handelt es sich um einen psychischen Zustand, der durch einen (meist auch spürbaren) Mangel an Hoffnung bis hin zur vollständigen Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist; (2.) bei der Situation oder Lebenslage muss es sich um eine wirkliche Notlage handeln, die von der betreffenden Person auch als mehr oder weniger seelisch belastend, hoffnungslos und ausweglos erlebt wird. Das bedeutet: nicht die objektive, von Beobachtern aus der Perspektive der dritten Person eingeschätzte seelische Belastung, der Hoffnungs- oder Ausweglosigkeit der Situation ist psychologisch entscheidend, sondern die subjektive Einschätzung der betreffenden Person selbst, die sich seelisch auf die Schwere der Belastung auswirkt; (3.) bestimmte für Verzweiflung charakteristische Verhaltens- und Handlungsweisen müssen vorliegen, wie z.B. Gesten und Mimik, Gedankenmuster und Redeweisen der Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, die angespannte Suche nach einem Ausweg aus einer Sackgasse, aufkommende Todesfurcht und Gedanken an den Tod, eventuelle Todessehnsüchte oder Verklärung der Toten, der Vergangenheit und des Jenseitigen, überhaupt resignierte Abwendung vom Leben und allem Lebendigen, eventuell Erwägung des Freitodes bzw. Selbstmordes als letzter Ausweg oder als endgültige “Lösung” aller Lebensprobleme.
Die Enzyklopädie Wikipedia definiert das Phänomen der Verzweiflung zutreffend wie folgt: „Verzweiflung ist ein Zustand der emotionalen oder psychischen Verfassung in einer als aussichtslos empfundenen Situation sowie ein Zustand völliger Hoffnungslosigkeit.“ 7 Die weiteren Ausführungen beruhen angesichts fehlender Einträge in den meisten philosophischen und theologischen Lexika der Gegenwart auf dem von H. A. Pierer herausgegebenen Universal-Lexikon von 1848 (Bd. 33, S. 62):
„Verzweiflung ist der – mit der Vorstellung von völliger Hoffnungslosigkeit oder vom eigenen Unvermögen, einen Zustand länger zu ertragen, einhergehende – höchste Affekt von Angst oder Schmerz, der das Gemüt in eine solche Verwirrung versetzt, dass, wer verzweifelt, sich entweder völlig ratlos den wildesten Ausbrüchen des Schmerzes überlässt, oder auf eine bloße Möglichkeit augenblicklicher Rettung hin (sei es auch die Wahrscheinlichkeit gerettet zu werden noch so gering und selbst die Gefahr vorhanden, in einen noch unglücklicheren Zustand zu geraten) ohne Überlegung jedes Mittel ergreift, wenn es nur rasch zur Entscheidung führt, oder endlich (um nur um jeden Preis sein Leiden zu enden) sich das Leben nimmt.“ (a.a.O.)
Neu an dieser Definition sind drei weitere wesentliche Merkmale, die m.E. auch zur Verzweiflung gehören: (a.) der Aspekt der subjektiv empfundenen Unerträglichkeit der eigenen Situation, (b.) die psychologische Nähe zur Angst sowie (c.) die kurz- oder langfristige Verwirrung des Gemüts. Interessanterweise ergänzen die unbekannten Autoren dieses Lexikoneintrages auch noch eine Bemerkung zu den sozialen und psychischen Folgen der Verzweiflung für Andere:
„Zeigt sich jemand verzweifelt, so wird er für sein soziales Netzwerk zu einem Problem. Versetzte man sich in ihn hinein, dann konfrontierte man sich womöglich selbst mit einer objektiv fürchterlichen Notlage. In diesem Fall sähe sich, wer Verzweiflung bei anderen als ein Extrem der Normalität anerkennt (etwa weil er mit der/dem Verzweifelnden in enger Gemeinschaft lebt und sie (ihn gut kennt), selber ethisch und praktisch einer schweren, wenn nicht unlösbaren Aufgabe gegenüber (vgl. Liebeskummer, Konkurs, Sterbehilfe). Daher die Redensart: „Verzweiflung steckt an“. Dies wird gern vermieden und „Verzweiflung“ also oft vereinfachend beantwortet: Wer verzweifelt, weiß es dann nicht besser, ist krank oder ein Übeltäter.“ (a.a.O.)
Wer von der Verzweiflung eines Anderen überfordert ist und eine eventuelle „psychische Ansteckung“ vermeiden will, bedient sich dann mehr oder weniger erfolgreicher Abwehrstrategien, die von Kontaktvermeidung bis hin zu Verur-teilung reichen.
„Gegen Unwissenheit wird Belehrung und Überredung eingesetzt, so oft im Familien- oder Freundeskreis. ... Behördlich wird „Verzweiflung“ vorzugsweise als eine Krankheit (vgl. Depression) aufgefasst und der institutionellen Psycho-therapie überstellt. In einigen Berufsgruppen wird jede Äußerung von Verzweiflung als Mangel einer zentralen Tugend angesehen und entsprechend schwer geahndet (Priester, Ärzte, Soldaten im Einsatz, Politiker u.a.m.)“ (a.a.O.)
Unerwähnt bleibt hier leider, dass kompetente Psychiater und Psychotherapeuten einen verzweifelten Menschen kaum als psychisch krank diagnostizieren. Das wäre genau so abwegig, wie einen trauernden Menschen, der einen angemes-senen Grund zur Trauer hat, im psychopathologischen Sinne als depressiv zu diagnostizieren und mit dann mit antidepressiv wirkenden Medikamenten zu behandeln. Problematisch wäre es aber auch, wenn Pfarrer und Priester einem verzweifelten Menschen einfach einen Mangel an Glauben oder Gottvertrauen unterstellen oder seinen seeli-schen Zustand voreilig als Sünde oder zumindest als Folge sündhaften Verhaltens brandmarken. Bei Soldaten und Politikern gilt der verzweifelte Mensch jedoch oftmals als jemand, der für die erfolgreiche Ausübung seines Berufes im Umgang mit politischen Machtkämpfen und militärischer Gewaltanwendung nicht mehr tauglich zu sein scheint. Wer jedoch von Politikern und Soldaten erwartet, dass sie in extremen Notlagen nicht auch einmal verzweifelt sind oder eine sich anbahnende Verzweiflung mit stärkenden Sprüchen und Verhaltensweisen abzuwehren versuchen, der stellt psychologisch unrealistische Ansprüche, die die meisten Menschen kaum erfüllen können. 8
5. Emotionale Befindlichkeit und kognitiver Beitrag
Der psychische Zustand der Verzweiflung mag zwar primär emotionaler Natur sein. Auch handelt es sich offenbar um eine Art von emotionaler bzw. genauer affektiver Befindlichkeit, die den ganzen Menschen erfassen kann. Wie aber schon der Stoiker Epiktet in seinem Enchiridion (§ 5) schrieb: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.“ 9 Da nun aber alle Situationen, in denen sich Menschen befinden sowohl von ihnen selbst als auch von anderen, außen stehenden Beobachtern interpretiert und diagnostiziert werden müssen, spielen bei der Interpretation und Diagnose immer auch schon bestimmte kognitive Leistungen eine wesentliche Rolle.
Phänomene der Verzweiflung können wir deswegen nicht alleine von der emotionalen Befindlichkeit her verstehen, wenn sie erstens von der Interpretation und Diagnose der jeweiligen Situation als mehr oder weniger ausweg- oder hoffnungslose Notlage abhängen und wenn sich zweitens dann auch bestimmte Verzweiflungsakte mit charakteristischen Verhaltens- und Handlungsweisen aufweisen lassen. Wer auf diese Weise nicht nur nach der emotionalen Befindlichkeit, sondern auch nach den charakteristischen Verhaltens- und Handlungsweisen verzweifelter Menschen fragt, wird bei einer kritischen Prüfung der klassischen und modernen Beiträge zu einer angemessenen Analyse und Wesensbestimmung der Verzweiflung feststellen müssen, dass sie meistens entweder das Eine oder das Andere zu kurz kommen lassen. Sie neigen nämlich entweder dazu, die Verzweiflung bloß der psychologischen Dynamik der Emotionen zuzuschlagen und sie dann noch etwas undifferenziert als eine emotionale Einstellung (Thomas von Aquin), genauer als eine gedrückte Stimmung bzw. Verstimmung (Otto Friedrich Bollnow) oder als einen Affekt (Friedhelm Decher) aufzufassen.
Einige Philosophen bestimmen die Verzweiflung vorwiegend emotivistisch als etwas, was bloß mit uns geschieht und von daher dann auch angeblich unser ganzes Denken, Wollen und Handeln bestimmt. Bollnows emotionspsycho-logisches Verständnis der Verzweiflung als eine personale Stimmung ist jedoch zu einseitig und irreführend, weil er zu sehr auf den emotionalen Zustand der Person und die jeweilige „Atmosphäre“ bezogen bleibt und zu wenig die konkrete lebensweltliche Situation des verzweifelnden Menschen und die damit verbundenen vitalen, ökonomischen und politischen Randbedingungen bedenkt. Decher hingegen hat die Verzweiflung hauptsächlich als einen Affekt, gelegentlich jedoch auch als eine Stimmung aufgefasst. Dechers psychologische Deutung der Verzweiflung als Affekt ist jedoch ebenfalls nicht ganz zutreffend, da es immer der ganze Mensch ist, der mit seinem Denken, Fühlen und Handeln in einer bestimmten lebensweltlichen Situation verzweifelt ist. Deswegen gibt es auch ein spezifisches Denken und Wollen, Verhalten und Handeln des verzweifelnden Menschen in einer konkreten Notlage, die als hoffnungslos empfunden und als ausweglos eingeschätzt wird. 10
Andere Philosophen neigen dazu, die Verzweiflung bloß der psychologischen Dynamik des Kognitiven zuzuordnen und sie dann als eine „Krankheit des Geistes“ bzw. als ein bloßes Selbstverhältnis (Søren Kierkegaard) zu deuten, und vernachlässigen damit die faktische Macht und potentielle psychologische Wirksamkeit der konkret vorhandenen Situationen, die entweder objektiv hoffnungslos oder ausweglos sind oder zumindest subjektiv oder intersubjektiv als hoffnungslos oder ausweglos empfunden und eingeschätzt werden. Verzweifelnde haben eben nicht nur, wie Kierkegaard meint, ein bestimmtes Selbstverhältnis im Geist oder im Selbst, sie reagieren zumindest auch auf die realen und konkreten Situationen, in denen sie sich befinden, weil sie diese als mehr oder weniger bedrohlich erleben, interpretieren und diagnostizieren. Bedrohlich sind solche Situationen nämlich auch nicht nur für ihren Geist und ihr Selbst, sondern für ihre aktuellen Handlungsüberlegungen in bestimmten Handlungsspielräumen bis hin zu ihren langfristigen Lebensplänen und Lebenszielen, die zwar auch mit ihrem Selbstbild und Menschenbild sowie mit ihrem Weltbild und Gottesbild verbunden sind, aber darin bestimmt nicht einfach aufgehen. 11
Aus psychologischen und philosophischen Gründen scheint es mir anthropologisch unangemessen und fragwürdig, die emotionale und motivationale Verfassung einer Person von seinem potentiellen und aktuellen Denken, Wollen und Handeln strikt zu trennen. Deswegen scheint es mir auch im Hinblick auf das angemessene Verständnis der Verzweiflung ratsam zu sein, immer die unterschiedlichen polaren Gegensätze des Passiven und Aktiven bzw. der Widerfahrnisse und der Handlungspotentiale im Blick zu behalten. Für ein angemessenes Verständnis der Verzweiflung als einer von außen betrachtet zwar einheitlichen, aber von innen betrachtet hoch komplexen seelischen Dynamik, braucht man in methodischer Hinsicht nicht nur angemessene und differenzierte phänomenologische Deskriptionen, sondern auch aufschlussreiche semantische, epistemologische, methodologische und ontologische Reflexionen. Ausschließlich naturalistisch-reduktionistische, aber auch rein phänomenologisch-subjektivistische Denkansätze sind dafür nicht so gut geeignet wie z.B. die methodisch pluralistischen Untersuchungen von Karl Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie oder in seiner Psychologie der Weltanschauungen. 12
Auf der einen Seite: Wenn jemand verzweifelt ist, dann geschieht zumindest auch etwas mit ihm, was sich offensichtlich seinem willentlichen Denken, Entscheiden und Handeln weitgehend entzieht und was er nicht willentlich beeinflussen und „in den Griff bekommen“ kann. Dabei kann es sich um die Ursachen und Gründe für seinen eigenen emotionalen Zustand und sein Selbstverhältnis handeln oder um Ursachen und Gründe, die außerhalb seiner Person im Gegenüber einer anderen konkreten Person, einer erlebten Gemeinschaft, der er als Teilnehmer oder Mitglied angehört, der begrifflich vorgestellten Gesellschaft, in der er lebt, bis hin zur abstrakten Vorstellung von der Menschheit als Ganzer oder zu seiner besonderen Vorstellung von Gott als einem „absoluten Du“ (Martin Buber). Dass da etwas geschieht, was sich der jeweils eigenen unmittelbaren willentlichen Kontrolle im Denken, Entscheiden und Handeln entzieht, gilt nicht nur für jemanden, der verzweifelt oder hoffnungsvoll ist, sondern auch für jemanden, der traurig oder fröhlich ist, der verstimmt oder ausgeglichen ist, der schlecht oder gut gelaunt ist oder der depressiv oder manisch ist.
Auf der anderen Seite: Wenn jemand verzweifelt ist, dann kann es sein, dass sie etwas denkt, überlegt, entscheidet, will oder tut, was nicht bloß ganz einfach so mit ihr geschieht, sondern, was sie im Zustand der Verzweiflung willentlich denkt, überlegt, entscheidet, plant oder tut. Anders gesagt, es gibt (a.) charakteristische Gedankenmuster der Verzweifelten (wie z.B. Das ist das Ende der Fahnenstange! Jetzt ist alles aus! Es war alles umsonst! Es gibt keine Ausweg mehr! Es ist hoffnungslos! Es ist alles sinnlos!); es gibt aber auch (b.) charakteristische Überlegungsmuster von Verzweifelten (wie z.B. Wenn jetzt auch noch das passiert, dann gebe ich auf. Wenn Du mir das antust, dann nehme ich mir das Leben. Wenn ich schwer so krank werde, dann hat mein Leben keinen Sinn mehr. Wenn ich nicht wieder gesund werden kann, dann kann ich mich gleich umbringen! Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Falls es keinen Gott gibt, hat das Leben keinen Sinn!). Es gibt (c.) charakteristische Entscheidungsmuster und typische Handlungsweisen von Verzweifelten, wie z.B. sich selbst aufgeben, seine eigenen Freiheitsspielräume einschränken, sich durch bestimmte Entscheidungen unbewusst selbst sabotieren oder ins Abseits manövrieren, sich keine hoffnungsvolle Zukunft zutrauen, sich selbst „die Fülle des Lebens“ versagen oder sogar sich selbst das Leben nehmen wie beim Selbstmord aus Verzweiflung.
Fazit
Niemand hat es gerne mit verzweifelten Menschen zu tun, weil Verzweiflung als psychisch „ansteckend“ gilt und in es bis zu einem gewissen Grad auch „ansteckend“ ist. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass das Thema der Verzweiflung sowohl bei Philosophen und Theologen als auch bei Psychologen und Psychiatern immer noch allzu gerne tabuisiert wird. Die Gefahr der psychischen Ansteckung kann jedoch wie bei anderen ähnlichen Phänomenen vor allem durch nüchterne Betrachtung, begriffliche Klarheit und distanzierende Objektivierung gebannt werden. Dadurch können sowohl unreflektierte Vorurteile über Verzweiflung als auch deplazierte Vorwürfe gegenüber verzweifelten Menschen überwunden werden. Dazu bedarf es jedoch eine möglichst adäquaten Bestimmung dessen, was Verzweiflung eigentlich ist, welche psychosozialen Gestalten und Grundformen es gibt. Deswegen habe ich so sehr darauf wert gelegt, erst einmal eine angemessene Definition der Verzweiflung zu geben.
Auch wenn diese Untersuchung in diesem Rahmen Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode als der wichtigsten Abhandlung über die verschiedenen Grundformen der Verzweiflung nicht vollständig gerecht werden konnte, habe ich nachzuweisen versucht, dass dessen Zurückführung jeder Art von Verzweiflung auf eine auf sich selbst bezogene Verzweiflung am Selbst phänomenologisch unangemessen ist und nicht zu einer überzeugenden allgemeinen Definition der Verzweiflung führen kann. In der neueren Literatur verdient Dechers Durchgang durch die Philosophiegeschichte zwar eine Anerkennung für einen enzyklopädischen Überblick, liefert in systematischer Hinsicht jedoch kein befriedigendes Resultat. Deswegen habe ich versucht, theoretische Abhilfe zu schaffen und bin nun zu folgendem Ergebnis gelangt:
Verzweiflung ist sowohl nach alltagspsychologischem Verständnis als auch nach der Auffassung einiger namhafter Philosophen ein mehr oder weniger tiefer und dauerhafter persönlicher Zustand der Hoffnungslosigkeit ist, der meistens nicht nur aufgrund einer geistigen oder intellektuellen Aporie oder einem bestimmten Selbstverhältnis, sondern in einer schwierigen Situation der Ausweglosigkeit oder gar einer lebensbedrohlichen Notlage eintritt. Solche Situationen schränken die Handlungsmöglichkeiten eines Menschen auf eine empfindliche Weise ein und können dadurch zu schweren psychischen Konflikten führen. Verzweiflung hat jedoch nicht nur den Charakter eines Widerfahrnisses, sondern es gibt auch spezifische Akte der Verzweiflung. Schließlich basiert jede Verzweiflung immer schon auf einer persönlichen Interpretation des verzweifelten Menschen von der bedrängenden Lage, in der er oder sie sich befindet.
Ob und wie sehr Menschen in einer bestimmten Situation verzweifeln, hängt nicht nur von den auch von Außenstehenden objektiv erkennbaren Verhältnissen der Situation ab, sondern vor allem davon, wie sie selbst ihre noch verbleibenden Möglichkeiten zum befreienden Handeln und zur Lösung der Probleme subjektiv einschätzen. Da solche Interpretationen unweigerlich vom persönlichen Selbstbild sowie von Glaube, Menschenbild und Weltanschauung abhängen, kann der persönliche Glaube an Gott als ein Grund der Hoffnung zwar bis zu einem gewissen Grad vor Verzweiflung schützen, aber der Glaube ist weder Allheilmittel noch magischer Zauber. Da das Maß an alltäglichem Leiden, an der Schwere von Krankheit und der Bedrohung durch den Tod zu den häufigsten Bedingungen gehören, in denen Menschen verzweifeln können, gilt es immer auch die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen zu bedenken, die den Menschen bestimmte Auswege aus ihrer konkreten Notlage entweder abschneiden oder aber eröffnen. Wo Verzweiflung droht oder eintritt, gilt es meistens konkrete Chancen zu eröffnen, damit jemand möglichst aus eigener Kraft wieder seiner Notlage entrinnen kann.
Literatur
Beabout, G.R. (1996). Freedom and Its Misuses. Kierkegaard on Anxiety and Despair. Milwaukee: Marquette University Press.
Bollnow, O.F. (1956). Das Wesen der Stimmungen. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Klostermann.
Castañeda, H.-N. (1980). On Philosophical Method, Bloomington: Noûs Publications.
ders. (1982). Sprache und Erfahrung. Texte zu einer neuen Ontologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Decher, F. (2002). Verzweiflung. Anatomie eines Affekts. Lüneburg: zu Klampen.
Epiket (1984). Handbüchlein der Moral. Hg. und übersetzt von H. Schmidt. 11. Auflage. Stuttgart: Kröner.
Erikson, E.H. (1975), Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goethe, J.W. (1965). Werke, Dritter Band, Faust. Eine Tragödie, Erster Teil, Frankfurt a.M.: Insel.
Green, R.M. (1992). The Hidden Debt. Kierkegaard and Kant, Albany: State University of New York Press.
Jaspers, K. (1959). Allgemeine Psychopathologie. 7. Auflage. Heidelberg / Berlin: Springer.
ders. (1985). Psychologie der Weltanschauungen. München: Piper.
Kierkegaard, S. (2005). Die Krankheit zum Tode. Hamburg: Meiner.
Löwith, K. (1962). Wissen, Glaube und Skepsis. 3. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Ringleben, J. (1995). Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Theunissen, M. (1991). Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
ders. (1993). Der Begriff der Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Anmerkungen
1 Kierkegaard, S., Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, Hamburg 2005.
2 Obwohl Kierkegaard zweifelsohne die Grenzen zwischen einer philosophischen Untersuchung hin zur theologischen Unterweisung überschritten hat, bleibt er in vielen anderen Hinsichten gerade einer philosophischen Begrifflichkeit verhaftet, die nicht nur durch Hegel und Schelling geprägt wurde, sondern noch viel stärker von Kants Kategorienlehre abhängig ist. Vgl. R.M.Green, The Hidden Debt (1992).
3 E.H.Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, 5. Kap. Erste Messe und Sackgasse, S. 138-186.
4 Friedhelm Decher, Verzweiflung. Anatomie eines Affektes, Lüneburg 2002.
5 In dieser methodischen Hinsicht knüpfe ich an Hector-Neri Castañeda an, der mit seinen logisch-semantischen Vergleichen zwischen verschiedenen natürlichen Sprachen die methodische Fixierung der sog. Analytischen Philosophie auf die eigene Landessprache oder aber auf formalisierte Idealsprachen überwunden hat. Vgl. Castañeda, H.-N., On Philosophical Method, Bloomington: Noûs Publications 1980; teilweise übersetzt und wieder aufgelegt in: Castañeda, H.-N., Sprache und Erfahrung. Texte zu einer neuen Ontologie, Frankfurt a.M. 1982, S. 21-54.
6 Auch wenn die von Kierkegaard untersuchten Phänomene der existenziellen Angst und der egozentrischen Verzweiflung am Selbstsein oftmals miteinander verquickt sind, kann es existenzielle Angst ohne Momente von Verzweiflung geben, aber vermutlich keine tiefe Verzweiflung ohne eine unbestimmte Angst und ohne konkrete Furcht. Wie sich Angst und Verzweiflung zueinander verhalten und wie sie sich zu der immer auch missbrauchbaren Freiheit sowohl im existenziellen und sittlichen als auch im religiösen und insbesondere im christlichen Sinn verhalten, hat G.R. Beabout in seiner Studie Freedom and Its Misuses. Kierkegaard on Anxiety and Despair (1996) untersucht.
7 http://de.wikipedia.org/wiki/Verzweiflung (10.12.2010)
8 Wikipedia schließt seinen Artikel mit der interessanten wissenssoziologischen Vermutung ab, dass es „diese Verzwicktheit und mangelnde soziale Anerkennung“ (a.a.O.) der Verzweiflung ist, die dazu führt, dass sogar hochwertige Enzyklopädien lexikalische Einträge unter dem Schlagwort „Verzweiflung“ überhaupt vermeiden.
9 Epiket, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Hg. und übersetzt von Heinrich Schmidt, Stuttgart: Kröner 11 1984, S. 24.
10 Vgl. dazu Bollnow, O.F., Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a.M. 1956, S. 48 f. sowie Decher, F., Anatomie eines Affekts, Lüneburg: zu Klampen 2002, S. 120 f.
11 Kierkegaard, S., Die Krankheit zum Tode, Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, Hamburg 2005, S. 9 f.
12 Jaspers, K., Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen, Berlin: Springer 1913, ²1920, ³1923; völlig neu bearbeitete vierte Auflage: Berlin und Heidelberg 1946 sowie mehrere unveränderte Auflagen; ders. Psychologie der Weltanschauungen, Berlin: Springer 1919 bzw. München: Piper 1994.
http://www.jp.philo.at/texte/DiehlU2.pdf