Rechtsradikale

 

 

Der Blick nach rechts unten und seine Tücken

 

Julien Reitzenstein in CICERO ONLINE am 12. Oktober 2020

 

Mit großer Selbstgefälligkeit schauen die Demokraten in der Mitte auf den Bodensatz des rechten Randes.

Doch die wahren Demokratiegegner sind jene ideologieprägenden bildungsbürgerlichen Funktionseliten,

die unter dem Radar medialer Aufmerksamkeit bleiben. Denn deren ideologisches Vorgehen wiederholt das zentrale Erfolgsmoments der NS-Ideologien.

 

Unter den meisten Historikern gilt als Konsens, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Als Konsens gilt auch, dass es die NS-Ideologie nicht gab. Verschiedenste Ideologien aus dem völkischen und rechten Spektrum changierten innerhalb der NSDAP und später unter dem NS-Regime. Vor allem aber gibt es weithin Konsens, dass die Shoah und das NS-Regime mit nichts gleichgesetzt werden könne, schon gar nicht mit gegenwärtiger Politik und deren Akteuren. Es dürfte zudem wenige begründete Zweifel daran geben, dass die Weimarer Demokratie nicht an „den Nazis“ scheiterte, sondern an ihrer mangelnden Wehrhaftigkeit – und an einer zu großen Zahl von Bürgern, die sich nicht entschließen konnten, für demokratische Errungenschaften einzutreten.

 

Jedoch ist es sinnvoll, aus der Geschichte zu lernen. Insofern ist eine profunde Kenntnis von Mustern und Dynamiken der Vergangenheit hilfreich bei der Bewertung der Gegenwart. Betrachtet man einige der (rechts-)populistischen Bewegungen in Europa und in Deutschland, lassen sich Muster und Dynamiken erkennen, die in der Geschichte schon mehrfach erfolgreich waren.

 

Opportunistische Flexibilität des NS-Regimes

 

Immer wieder marschierten politisierte Gruppen wenig intellektueller, dafür aber umso lauter grölender Vertreter politischer Ränder in aggressiver Weise auf. Ihnen ist die mediale Aufmerksamkeit sicher. Der bürgerliche Leser oder Zuschauer schreckt kurz auf und versichert sich dann, dass er selbst sich deutlich von diesem „Pöbel“ unterscheidet. Gern amüsiert er sich auch über Posts dieses „Pöbels“ in den sozialen Medien. Diese Posts zeichnen sich oft aus durch politische Radikalität, Rechtschreibfehler, bemerkenswerte Häufungen von Großbuchstaben und appellativen Ausrufe-zeichen. Die intellektuelle Selbstgerechtigkeit gegenüber derartigen Äußerungen ist nicht völlig falsch – aber gefährlich.

 

Das NS-Regime hielt sich nicht durch grölende Fanatiker zwölf Jahre an der Macht, sondern trotz dieses Bodensatzes von rechts unten. Die Eliten des neuen Staatssystems nach 1933 hatten in der Großen Depression nach der Weltwirtschafts-krise durch Perspektivlosigkeit erhebliche destruktive Tendenzen entwickelt. Als sich das System nach der Machtüber-nahme 1933 nicht zu einer monolithischen Diktatur, sondern einem personalisierten Herrschaftsverband ent-wickelte, konnte diese Destruktivität sich Raum greifen. Die bürgerlichen Ideale mischten sich mit völkischen Elementen und bewirkten eine bemerkenswerte Radikalisierung. Dies führte zum Überspringen der bestehenden Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen und schuf heterogene Gruppen, die sich gegenseitig auf der Basis persönlicher Abhängigkeiten Macht zu verschaffen suchten. In einer solchen Struktur wäre es hinderlich gewesen, eine klare, bis ins Detail definierte Staatsideologie festzulegen.

 

Die ungeheuerlichen Verbrechen durch diese Gruppen basierte zu großen Teilen gerade darauf, dass die politische Ideologie oft vage blieb. Zweifelsfrei gab es die verschiedenen Flügel verbindende Dogmen wie Antisemitismus oder deutschnationale Stereotype – jedoch eine gewisse opportunistische Flexibilität.

 

Funktionseliten statt mordlüsterne Schergen

 

Es gab nicht die eine von Beginn bis Ende klar definierte und abgegrenzte NS-Ideologie. Folglich taugen monokausale Erklärungen nicht für die Antwort auf die entscheidende Frage, wie die NSDAP an die Macht kam, sich dort erhielt und mit erschreckender Effizienz die ungeheuerlichsten Verbrechen beging. Jedoch gibt es zahlreiche gut illustrierende Beispiele für diese Fragen. Eines davon ist die Wannseekonferenz.

 

Am 20. Januar 1942 trafen sich in einer Villa am Wannsee fünfzehn Vertreter des nationalsozialistischen Regimes, um den beschlossenen Mord an 11 Millionen Menschen zu koordinieren. Nichts weniger als die Ausrottung aller Juden in Europa war Ziel des Regimes. Die anwesenden Männer sollten sicherstellen, dass es mit der Gründlichkeit deutscher Ministerialbürokratie umgesetzt wird. Nur wenige Teilnehmer wurden erst vom NS-Regime in hohe Positionen gespült. Viele waren promoviert, viele schon vor 1933 in wichtigen Positionen des Staatsapparates. Das Verstörende ist, dass die fünfzehn Männer, die am 20. Januar 1942 den Massenmord organisierten, eben keine mordlüsternen Schergen waren, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kamen. Wähler, die von den rapiden Veränderungen einer immer komplexeren Welt überfordert waren, hatten diese Funktionseliten auch an die Macht gebracht.

 

Was AfD und NSDAP gemein haben

 

Es ist heute oft zu hören, man dürfe die Parteien am rechten Rand nicht mit der verbrecherischen NSDAP vergleichen. Vor allem wird gern auf die bürgerlichen Exponenten rechtspopulistischer Parteien verwiesen. Diese hatten nichts gemeinsam mit jenen unempathischen, kriminellen Rohlingen, die in Auschwitz Gaskammern bedienten.

 

Das ist nicht falsch, verstellt aber den Blick auf ein wichtiges Detail: Die Funktionseliten des NS-Regimes, die Mehrheit der Teilnehmer der Wannseekonferenz, hatten ebenfalls kaum Gemeinsamkeiten mit jener Sorte von Verbrechern. Allerdings ermöglichten diese kultivierten, gebildeten Spitzenbeamten und Strategen durch effizientes Verwaltungs-handeln dem Bodensatz rechts unten gemeinsam mit aufstiegswilligen Parvenüs, die größten Verbrechen der Mensch-heitsgeschichte zu begehen. Durch vage und flexible Ideologien hatten all diese Soziotope ein verbindendes Element.

 

Viele Historiker sind überzeugt, dass die Nationalsozialisten selbst keinerlei neue Ideologien erschaffen haben, sondern lediglich vor 1919 geschaffene ideologische Versatzstücke bündelten. Die Nationalsozialisten waren auch deshalb erfolgreich, weil sie diese bestehenden Ideologien dergestalt bündelten, dass sie das Potential entfalteten, möglichst breite Zielgruppen anzusprechen. Dabei wurden sie in sich so vage gehalten, dass sie für möglichst viele Milieus innerhalb dieser Zielgruppen anschlussfähig blieben.

 

Vage und somit anschlussfähige Ideologien

 

Das Erfolgsmoment von bewusst vagen und deshalb für viele Milieus anschlussfähigen Ideologien, die sich vor allem gegen vermeintliche und echte Feinde zunächst im Inneren und bald auch nach außen richten, ist insofern nicht neu. Die Medien subsumieren solche Trends heute unter dem aus der Weimarer Zeit stammenden Begriff „Querfront“.

 

Das Argument, Partei- und Wahlprogramme dieser oder jener rechtspopulistischen Partei und Bewegung unserer Tage seien grundverschieden von den völkischen Narrativen des Nationalsozialismus und deren mörderischen Auswir-kungen, verfängt nicht. Die NSDAP ist nicht mit der Forderung in die Wahlkämpfe der 1920er und 1930er Jahre gezogen, Gaskammern zu errichten und den größten Krieg aller Zeiten zu entfachen. Hingegen verfingen viele Forderungen in jener frustrierten Mitte der Gesellschaft, die die Auswirkungen der Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise, sowie ihre Schutzlosigkeit vor internationalen Entwicklungen und die steigende Komplexität der Welt vor allem der aus ihrer Sicht dysfunktionalen deutschen Demokratie anlastete.

 

Der Blick nach rechts unten

 

Die Abwesenheit einer dogmatischen Ideologie, gepaart mit völkischen Narrativen und einem programmatischen Opportunismus bei gleichzeitig steigender Frustration in der Mitte wird dann besonders problematisch, wenn alle in dieselbe Richtung schauen – nach rechts unten. Geschieht dies zur Selbstvergewisserung der eigenen moralischen Überlegenheit, so wird der Blick auf die Akteure im Zentrum des rechten Randes verstellt: Menschen in der Mitte ihres Lebens, ruhend auf dem Erfolg von Lebensläufen, mit denen sich viele Demokraten identifizieren können, absolut überzeugt von der Gewissheit, das Richtige zu tun, und zwar so sehr, dass sie Angriffe, Beleidigungen und Diffamie-rungen aushalten, um den „Volkswillen“ durchzusetzen.

 

Sie haben keinen Zweifel, genau zu wissen, was die Mehrheit der Bevölkerung in Wahrheit wünscht und sie zweifeln auch nicht daran, dazu berufen zu sein, dieser vermuteten Mehrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Dieses Sendungs-bewusstsein ist oft mit ideologischen Versatzstücken verbunden, die bewusst vage gehalten werden und so zu erstaunlichen Koalitionen verschiedenster Demokratiegegner führen können.

 

Lehren aus dem Untergang der Weimarer Demokratie

 

Es empfiehlt sich daher, die bürgerlichen Exponenten populistischer Parteien und deren möglicherweise allzu flexiblen Wahl- und Parteiprogramme auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Zudem sollte aus dem Untergang der Weimarer Demokratie gelernt werden. Es gibt so vieles an der gegenwärtigen Demokratie, worauf die Bürger der politischen Mitte stolz sein können, etwa auf eine Demokratiegeschichte, die von der Frankfurter Paulskirchenverfassung über den Aufbau der längsten Friedensphase der deutschen Geschichte bis zur Wiedervereinigung reicht.

 

Doch Stolz auf die demokratischen Institutionen und auf eine Rechtsordnung, um die uns zahlreiche Länder beneiden, ist nur eine Seite der Medaille. Die Demokratie muss wehrhaft sein und wachsam. Sie muss eben deshalb die Muster und Dynamiken beim Untergang der Weimarer Republik im Blick behalten. Und der sollte sich nicht nur nach rechts unten richten.

 

https://www.cicero.de/innenpolitik/nationalsozialismus-in-deutschland-demokratie-neonazis-weimarer-republik