Kosmopolitismus

 

 

 

 

Die Alternative sowohl zu Hobbes’ Anarchie als auch zum globalen Kosmopolitismus

lautet Kooperation von Nationalstaaten. Diese Kooperation kann die Form von

internationalem Recht, internationaler Schiedsgerichte und internationaler Agenturen annehmen

oder aber auch die von militärischen Allianzen. International bedeutet allerdings nicht supranational.

 

 

 

 

Wider den Kosmopolitismus

 

Michael Lind

 

Novo - Argumente für den Fortschritt - 25.01.2013

 

Gegen die kosmopolitische Utopie zur Überwindung der Nationalstaaten. Dies ist weder wahrscheinlich noch wünschenswert. Er plädiert für einen liberalen Internationalismus.

 

Für die Science Fiction ist klar, dass die historische Entwicklung letztlich in einer Vereinigung der Erde gipfeln wird. Die vereinigte Welt wird dann entweder von einem freundlichen Weltföderalismus oder von einer dystopischen globalen Tyrannei regiert. Für die prophetische Literatur der Moderne steht fest: Das Zeitalter der konkurrierenden National-staaten wird ein Ende haben. In der populären Kultur gibt es keine Vision einer Zukunft, in der fortgeschrittene Technik mit der fortgesetzten Souveränität und Konkurrenz von Nationalstaaten wie China, Indien und den USA oder Blöcken wie der Europäischen Union kombiniert wird. Das einzige Beinahe-Äquivalent ist George Orwells in 1984 dargestellte alptraumhafte Vision endloser Rivalitäten zwischen den drei totalitären Blöcken Ozeanien, Eurasien und Ostasien.

 

Die meisten gebildeten Menschen sind sich heute ähnlich einig und assoziieren den historischen Fortschritt mit der Zunahme unserer moralischen und politischen Bindungen. Die Individuen werden von den Gemeinschaften befreit, in die sie zufällig hineingeboren wurden. Der Stamm weicht der Nation und die Nation weicht der Menschheit. Die Geschichte wird bald in einem säkularen Millennium gipfeln, in einer postnationalen und globalen Gemeinschaft, deren Bürger emanzipierte Individuen sind.

 

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden hoffnungsvolle Zukunftsvisionen fast immer mit der Transzendenz der Nationalstaaten identifiziert. Anfang des 19. Jahrhunderts erwarteten viele im Westen die Erfüllung der von Alfred Tennyson in Locksley Hall (1842) dargestellten Vision vom „Parlament der Menschheit, dem Zusammenschluss der Welt“. Wendell Willkie prognostizierte 1943 in seinem Buch One World, auf den Zweiten Weltkrieg werde ein neues Zeitalter der Einheit folgen. Der Fall der Berliner Mauer löste eine weitere Welle von Behauptungen aus, dass eine postnationale Epoche im Kommen sei. Diese Prognosen nahmen seltsame Formen an, wie etwa Thomas L. Friedmans unscharfe Darstellung eines globalen Marktes, der die politische Konvergenz der Nationalstaaten erzwingt, oder die subtilere Behauptung des britischen Diplomaten Robert Cooper, vormoderne und moderne Gesellschaften würden den postmodernen Gesellschaften zunehmend weichen. [1]

 

Der philosophische Kosmopolitismus wird heute zwar generell mit säkularen Eliten assoziiert, aber er hat religiöse Wurzeln. Die Vorstellung, alle Menschen gehörten einer einzigen moralischen Gemeinschaft an, war Bestandteil der antiken Stoa. Aber die Stoiker haben nicht an den Fortschritt geglaubt. Stattdessen glaubten sie an ein zyklisches Universum, wie im Hinduismus, demzufolge die Welt periodisch vernichtet und neu geschaffen wird. Die Verbindung von Fortschritt und Kosmopolitismus geht zurück auf die apokalyptische Tradition des Zoroastrismus, der das apoka-lyptische Judentum des zweiten Tempels, das Christentum und den Islam beeinflusste. Laut dieser Denkrichtung wird zu einem vielleicht nicht allzu fernen Punkt in der Zukunft die Geschichte von Gott zu einem Ende gebracht, und dessen direktes Gesetz ersetzt dann die Uneinheitlichkeit der menschlichen Sprachen und Nationalitäten, die die biblische Tradition mit dem Mythos von Babel zu erklären pflegte.

 

Die Verbindung von moralischem Kosmopolitismus mit einem linearen Fortschritt ist das größte Erbe des Christentums für die säkulare Intelligenz. Die Vorstellung, eine moralische Person dürfe nicht selbstsüchtig lokalpatriotisch oder nationalistisch sein, sondern müsse ein persönliches Interesse am Wohlergehen armer, kranker und ferner Menschen haben, gab es im Rahmen des Christentums, lange bevor sie Eingang ins Denken säkularer Intellektueller fand, die sich daraufhin dann als Weltbürger verstanden, die alle kleinkarierten lokalen Loyalitäten und Interessen überwunden haben. In der säkularisierten Version nimmt die Vorsehung die Form sozialer Kräfte an, wie etwa Wirtschaft und Kultur, aber das Ergebnis ist das gleiche: die Entstehung einer einzelnen planetarischen Gemeinschaft, frei von Ethnozentris-mus, Kriegen und Handelskonflikten. Ein derartiger säkularer Vorsehungsglaube bestimmt die Philosophien zahlreicher Denker, einschließlich Immanuel Kant, G.W.F. Hegel, Karl Marx und in neuerer Zeit Martha Nussbaum, Ulrich Beck, Peter Singer und Kwame Anthony Appiah.

 

Die zugrunde liegende providentielle Struktur des Kosmopolitismus erklärt die Verbindung von Sicherheit und morali-schem Eifer, die man bei liberalen und sozialistischen Einweltlern findet. Im Christentum ist die Leugnung der göttlichen Vorsehung für die Welt eine Sünde, genauso wie die Behinderung der Entfaltung dieses Plans. Das Gleiche gilt für den säkularen Providentialismus. Globalistische Liberale und Sozialisten prognostizieren, unaufhaltsame soziale Kräfte werden unausweichlich eine einheitliche kosmopolitische Gesellschaft bringen, und dann verurteilen sie alle – Natio-nalisten oder Kapitalisten – die diesen Kräften widersprechen. Postnationale Liberale sagen uns, der Nationalstaat werde aussterben und verurteilen dann die Verteidiger der nationalen Souveränität dafür, dass sie den Beginn der dem Anspruch nach unausweichlichen Zukunft verzögern. Die Sonne wird morgen genau um 7.00 Uhr aufgehen, deswegen müssen wir ihr beim Aufgehen helfen und alle bekämpfen, die ihren Aufgang verhindern wollen.

 

Sollen und Sein

 

Unter Missachtung der humeschen Unterscheidung vermischt der zeitgenössische Kosmopolitismus das „Sollen“ mit dem „Sein“. Das „Sollen“ beinhaltet dabei die Ansicht, der Nationalstaat sei eine engstirnige Organisationsform, die durch umfassendere und inklusivere Loyalitätsstrukturen ersetzt werden soll. Das „Sein“ äußert sich in dem Anspruch, der Nationalstaat sei – ob es uns gefällt oder nicht – aufgrund unausweichlicher technologischer und wirtschaftlicher Kräfte zum Aussterben verurteilt.

 

Aber die Trends, die als Belege für eine historische Verlagerung hin zu einem postnationalen Kosmopolitismus dienen sollen, widersprechen dem Fortbestand des Nationalstaats als weltpolitischem Hauptakteur keineswegs. Vor allem sind Veränderungen in der globalen Wirtschaft kein Zeichen für Kosmopolitismus. Das populäre Konzept der Globalisierung ist zu einfach und außerdem irreführend. Wie Alan M. Rugman gezeigt hat, haben wir heute keinen einheitlichen globa-len Markt, sondern wir haben gewissermaßen eine balkanisierte Weltwirtschaft, die sich um die „Triade“ Europa, Nordamerika und Ostasien organisiert. [2]

 

Die aufstrebende Weltwirtschaft ist sehr regionalisiert und bleibt mit dem Nationalstaat verbunden. Einige Branchen, wie die Produktion von Computerelektronik, sind wirklich global, aber andere, wie etwa die Automobilindustrie, werden durch Unternehmen dominiert, deren Produktion und Umsatz sich vor allem auf einen der drei großen Blöcke konzen-trieren. Zu der bestehenden Triade könnten neue hinzutreten – etwa das um Indien zentrierte Südasien – aber es wäre naiv zu glauben, alle zwischen den Ländern und Regionen bestehenden Hürden für den freien Fluss von Kapital, Gütern und Arbeitskraft würden verschwinden.

 

Selbst multinationale Unternehmen sind letztlich gar nicht so multinational. Die 100 größten multinationalen Unter-nehmen des Jahres 2008 hielten 57 Prozent ihres Gesamtvermögens und 58 Prozent ihrer Belegschaft im Ausland, wobei der Umsatz im Ausland 61 Prozent des Gesamtumsatzes ausmachte. [3] Aber das bedeutet lediglich, dass die meisten multinationalen Unternehmen bestenfalls halb-global sind. Das typische multinationale Unternehmen hat nach wie vor eine klare nationale Identität, insofern etwa die Hälfte seines Vermögens, seiner Belegschaft und seines Umsatzes im heimatlichen Markt liegen. Tatsächlich tätigen nur sehr wenig multinationale Unternehmen den Großteil ihrer Geschäfte außerhalb ihres jeweiligen Heimatlandes.

 

Die globale Wirtschaft wird durch in den USA, Japan und Deutschland ansässige Unternehmen bestimmt – das sind die bevölkerungsreichsten industrialisierten Demokratien – und diese Tatsache zeigt, dass ein großer nationaler Markt eine sehr wichtige Basis für multinationalen Umsatz und multinationale Operationen ist. Die von den Libertären gefeierten und von Linken und Populisten verurteilten globalen Unternehmen haben also nach wie vor nationale Identitäten. Selbst die finanzielle Globalisierung ist erwiesenermaßen oberflächlicher als erwartet: Viele globale Banken wandten sich nach der Finanzkrise von 2008 bezüglich Bailouts an ihre nationalen Regierungen. Trotz des vorübergehenden Einflusses des Washington-Consensus hat die Epoche des wirtschaftlichen Nationalismus zu keinem Zeitpunkt geendet. Außerhalb der anglophonen Länder ist das das Zeitalter des Merkantilismus. Statt auf Zölle setzten die merkanti-listischen Nationen nach 1945 zum Schutz der inländischen Märkte und zur Unterstützung der exportorientierten Sektoren ihrer Wirtschaft auf Subventionen (Europa und die USA), andere Handelsbarrieren (Japan) und künstliche Unterbewertung der Währung, Subventionen und staatlich gesteuerte Kredite (China). Der Merkantilismus kann ohne einen „Gelackmeierten“ nicht funktionieren, und daher spielten die USA während und nach dem Kalten Krieg die Rolle des großen Konsumenten für die merkantilistischen Nationen. Diese Entscheidung basierte teilweise auf libertärer Ideologie, aber vor allem auf einer nationalen Strategie mit dem Ziel, zunächst Japan und Westdeutschland und dann China zu motivieren, eindimensionale zivile Produktionsmächte und nicht konkurrierende Militärmächte zu werden. Langfristig ist es wahrscheinlicher, dass die USA – vor 1945 die protektionistischste Nation weltweit – zum Merkanti-lismus zurückkehren, als dass China, Japan und Deutschland die Wirtschaftslehre des späten Milton Friedman adap-tieren.

 

Die derzeitigen Trends bei der Immigration sprechen nicht für die kosmopolitische Behauptung, dass die nationalen Grenzen zusammenbrechen. Weder die Tatsache, dass ein Land wie die USA beschließt, zahlreiche legale Immigranten zuzulassen, noch diejenige, dass es beschließt, zahlreiche illegale Immigranten zuzulassen, beweist, dass es nicht die Macht hätte, es anders zu machen. Angesichts transnationaler Arbeitskraftflüsse haben alle fortschrittlichen Industrie-länder einschließlich der USA Maßnahmen ergriffen – von der Ausgabe nationaler Identity Cards bis zum Bau von Grenzanlagen – um ihre Grenzen und Flughäfen gegen illegale Immigranten zu sichern. Die Behauptung effektiver staatlicher Kontrollen bezüglich der Immigration wird teilweise durch die Angst vor internationalem Terrorismus bestimmt, aber auch durch eine Reaktion gegen arme Immigranten seitens der in den entwickelten Ländern geborenen Bürger – diese Abwehrreaktion wird sich wahrscheinlich vertiefen, falls die große Rezession noch Jahre dauert.

 

Während industrialisierte Länder die unerwünschte Immigration reduzieren wollen, konkurrieren sie zugleich um gut ausgebildete Immigranten. Großbritannien, Australien und Kanada haben beispielsweise ein „Punktesystem“ einge-führt, demzufolge gebildete Immigranten gegenüber ungebildeten vorgezogen werden. Wenn man diese Trends zusammennimmt, dann ist das Ergebnis das Gegenteil der grenzenlosen Welt mit freien Flüssen der Arbeitskräfte, den die Propheten der Globalisierung vor zehn Jahren vorhergesagt haben. Im 21. Jahrhundert werden die meisten Länder wahrscheinlich eine strenge Haltung gegenüber illegaler Immigration mit einer selektiven legalen Immigration kom-binieren, die gut ausgebildete Arbeitskräfte bevorzugt.

 

Was ist mit den politischen Trends des 21. Jahrhunderts? Das historische Muster ist klar. Das Aufbrechen der habs-burgischen und Osmanischen Reiche nach dem Ersten Weltkrieg produzierte viele neue Nationalstaaten und einige neue multinationale Staaten wie Jugoslawien. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden durch die Entkolonisierung der europäischen Mächte in Asien und Afrika Dutzende neuer Staaten, von denen einige multinational waren (wie Nigeria und Pakistan, die genauso auseinanderbrechen können wie Jugoslawien). Mit dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens kamen erneut Staaten zur Generalversammlung der Vereinten Nationen dazu. Man kann darauf wetten, dass die Weltkarte 2050 und 2100 noch mehr unabhängige Länder als heute aufweisen wird.

 

Ein Gemeinplatz des heutigen Kosmopolitismus erklärt den ethnokulturellen Nationalismus zu einem barbarischen Relikt einer früheren Stufe der Zivilisation und behauptet, im Zuge der weiteren Verbreitung von Aufklärung und Wohlstand würden die Menschen kosmopolitischer werden. Der Nationalismus aber – definiert nicht als Aggression oder Xenophobie, sondern als die Bevorzugung des Nationalstaates als Basiseinheit einer legitimen Regierung – bleibt, alles andere als totgeweiht, für das dritte Jahrhundert in Folge die stärkste Kraft in der globalen Politik.

 

Nationalismus ist also keineswegs atavistisch, sondern vielmehr modern – genauso modern wie Industrialismus und Urbanismus. Der Trend zur Reorganisation der Welt vormoderner dynastischer Reiche und Stadtstaaten in eine Welt der Nationalstaaten, in der die meisten (wenngleich nicht alle) Staaten mit der ethnokulturellen Mehrheitsgruppe identi-fiziert werden, entspricht in der Welt der Wirtschaft dem Übergang von einer agrarischen zu einer industrialisierten Welt.

 

Wenn Gesellschaften urban und industriell werden, dann weichen die dörflichen Gesellschaften anonymen städtischen Gesellschaften, in denen sich die Individuen mit größeren „imaginierten Gemeinschaften“ identifizieren. Diese müssen nicht national sein – so identifizieren sich Islamisten beispielsweise mit der imaginierten Gemeinschaft der muslimi-schen ummah. Aber diejenige Gemeinschaft, die sich als besonders effektiv dabei erwiesen hat, die Loyalität der Individuen in modernen und großen Gesellschaften an sich zu binden, ist die Nation, die sich minimal durch eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Bräuche wie in den meisten liberalen Demokratien definieren lässt oder maximal durch eine gemeinsame „Rasse“ und/oder Religion wie beim illiberalen Nationalismus.

 

Daraus folgt: Wenn die Menschen gebildeter und wohlhabender werden, dann wären sie wahrscheinlich lieber Mitglieder der Mehrheit in einem Nationalstaat anstatt den Minderheiten im Nationalstaat von anderen oder einer von vielen zerstrittenen Nationalitäten in einem multinationalen Staat anzugehören. Mit der Steigerung des weltweiten Wohlstands wird es von den Schotten bis zu den Kurden wahrscheinlich nicht weniger, sondern mehr friedliche oder auch gewaltbereite auf die Gründung eines Nationalstaates gerichtete Bewegungen staatenloser Nationen geben.

 

Derzeit befinden wir uns wirtschaftlich in den frühen Phasen der technologischen Ära und politisch in derjenigen des Nationalstaates. Im 21. Jahrhundert werden wir jedoch sehr wahrscheinlich Zeuge des Abschlusses zweier seit dem 18. Jahrhundert bestehender Trends werden: der Konversion der Menschheit von einem agrarischen zu einem urban-industriellen Lebensstil und fast überall der Ersetzung vormoderner Formen politischer Organisation durch National-staaten.

 

Kosmopolitische Sympathien

 

Um die fortdauernde und sich wahrscheinlich erweiternde Hegemonie des Nationalstaats als der primären Einheit der globalen, ökonomischen und sozialen Organisation anzuerkennen, müssen wir die gleichzeitige Expansion kosmopolitischer Sympathien nicht leugnen. Die Liberalisierung der Regierungsaufsicht über Handel und Finanzen, zunehmende grenzübergreifende Immigration und weltweites Reisen sowie die Herausbildung von etwas, das durch die Massenmedienkommunikation einer globalen Öffentlichkeit mit seriellen kosmopolitischen „Momenten“ nahekommt, tragen allesamt zur Ausbreitung kosmopolitischer Empfindungen bei. Aber diese Sympathien werden wahrscheinlich neben nationalen Identitäten und Zugehörigkeitsgefühlen weiterexistieren.

 

Sicherlich waren globale Initiativen wie die Milleniumsentwicklungsziele und andere Armutsbekämpfungsprogramme oder die militärischen Interventionen im früheren Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan und in Libyen nach dem Kalten Krieg in einem gewissen Maß mit kosmopolitischen Gründen gerechtfertigt. Bei der US-Intervention in Libyen, um ein jüngeres Beispiel zu nennen, scheint es innerhalb der Obama-Administration eine langwierige Debatte zwischen Verfechtern der kosmopolitischen Auffassung von der „Verantwortung zu schützen“ und Pragmatikern gegeben zu haben, die gegen den Einsatz von US-Militär in Konflikten sind, bei denen es kein eindeutiges nationales Interesse gibt. Es sieht so aus, als hätten die Kosmopolitisten in dieser Debatte gesiegt.

 

Man sollte aber auch aufpassen, dass man in diese Beispiele nicht zu viel hinein liest. In nahezu jedem Fall bleibt der Nationalstaat die Institution, die ökonomische und militärische Ressourcen im Dienste der kosmopolitischen Ziele einsetzt. In vielen Fällen ist es schwierig zu entwirren, wo nationale Interessen enden und die kosmopolitischen beginnen. Die Kriege im Balkan und im Mittleren Osten können ebenso einfach mit den nationalen Interessen der Vereinigten Staaten und seinen Alliierten erklärt werden, die Unterstützer von terroristischen Attacken niederschlagen (Afghanistan), die regionale militärische Hegemonie der USA sichern (Irak und Libyen) und destabilisierende Flüchtlingsströme nach Europa abwenden wollten (eine Motivation für die europäische Teilnahme auf dem Balkan und in Libyen), wie auch mit kosmopolitischen Gründen. Diese Antworten tragen sicherlich nur weiter dazu bei, den Nationalstaat als Zentrum zu etablieren, in dem solche Entscheidungen gefällt werden, und als erste Institution, durch die solche Interventionen höchstwahrscheinlich durchgeführt werden. Das gilt sogar dort, wo kosmopolitische Ansichten erfolgreich darin sind, nationale oder internationale Bewegungen als Antwort auf die globalen und regionalen Herausforderungen zu initiieren..

 

Die daraus folgende Organisation der globalen Angelegenheiten lässt sich mit liberalem Internationalismus besser erklären als mit Kosmopolitismus. In dieser Perspektive sind Nationalstaaten, anders als Einzelpersonen, Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs), für die nächsten Generationen weiterhin die Hauptakteure der Weltpolitik (wenn auch sicher nicht die einzigen). Liberale Internationalisten behaupten, dass alle Menschen unveräußerbare Rechte haben, die von Regierungen geschützt werden sollen. Während diese die Rechte schützenden Regierungen verschiedene Formen annehmen können, ist der Nationalstaat die größte Einheit, die in der Lage ist, eine effektive Regierung mit der Solidarität unter den Bürgern zu verbinden. Die Nation, der der Staat entspricht, kann – im Sinne von gemeinsamer Kultur und Sprache – grob definiert werden und sie kann sich nationalen Minderheiten gegenüber großzügig zeigen, die ihre Gebiete nutzen. Es gibt aber einen Punkt, an dem sprachliche und kulturelle Diversität das Minimum einer Gemeinschaft untergraben, das notwendig ist, um das Gefühl einer gemeinsamen Nationalität aufrecht zu erhalten. Eine globale Regierung wäre ein Turm zu Babel, dem nur wenige gern gehorchen und den nur wenige gern mit Steuergeldern ausstatten oder mit Militärdiensten unterstützen möchten.

 

Der liberale Internationalismus beantwortet die Frage danach, wie die Welt organisiert sein könnte, wenn jedes Volk, wie auch immer man das definiert, ein Recht auf seinen eigenen souveränen, rechenschaftspflichtigen Nationalstaat hat. Die Alternative sowohl zu Hobbes’ Anarchie als auch zum globalen Kosmopolitismus lautet Kooperation von National-staaten. Diese Kooperation kann die Form von internationalem Recht, internationaler Schiedsgerichte und internatio-naler Agenturen annehmen oder aber auch die von militärischen Allianzen. International bedeutet allerdings nicht supranational. Länder können Befugnisse für verschiedene Ziele auf internationale Agenturen übertragen, aber solange diese Übertragungen zurückgenommen werden können, wird damit die Souveränität nicht preisgegeben.

 

Größe entscheidet

 

Die wichtigsten Unterscheidungen in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts werden auf Größe basieren. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts werden letztlich die Mächte die größten sein, die wie China, Indien und die Vereinigten Staaten die zumindest moderat entwickelten industriellen Ökonomien mit Bevölkerungszahlen von einer halben Milliarde oder mehr kombinieren bzw. kombinieren werden.

 

Die US-Investmentbank Goldman Sachs sagt voraus, dass China bis 2050 die größte Wirtschaft der Welt haben wird, gefolgt von den Vereinigten Staaten und Indien. Die nächste Stufe mag von Russland, Brasilien und Japan besetzt werden und eine dritte würde Deutschland, Großbritannien und andere einstmals große europäische wirtschaftliche Mächte beherbergen. [4] So wie die italienischen Stadtstaaten der Renaissance im 16. und 17. Jahrhundert von den nationalen Monarchien nördlich der Alpen in den Schatten gestellt und ins Abseits gedrängt wurden, werden die großen Nationalstaaten der Vergangenheit – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland und Japan – von den Titanen des 21. und 22. Jahrhunderts überragt werden.

 

Die Vereinigten Staaten werden ihre Position im Club der Titanen ihrem Bevölkerungswachstum verdanken, das durch Immigranten ermöglicht wird. Dadurch könnte die amerikanische Bevölkerung bis 2050 auf 400 bis 600 Millionen anwachsen. Die durchschnittlichen Fruchtbarkeitsschätzungen der Vereinten Nationen für 2010 deuten darauf hin, dass die bevölkerungsreichsten Länder im Jahr 2050 Indien (1,7 Milliarden) und China (1,3 Milliarden) sein werden, gefolgt von den Vereinigten Staaten (400 Millionen), Nigeria (400 Millionen) und Indonesien (300 Millionen). [5] Es sind also die europäischen Staaten und nicht die Vereinigten Staaten, die einem deutlichen verhältnismäßigen Rückgang in der Bevölkerung, im Wohlstand und in der Macht entgegensehen. Europa, auf das 1945 22 Prozent der Weltbevölkerung und 2000 12 Prozent entfielen, könnte im Jahr 2050 vielleicht nur noch 6 Prozent aufweisen. Weil das BIP vom Anteil der Bevölkerung im Arbeitsalter und deren Produktivität abhängt, auch dann, wenn die Europäer reicher werden, könnte der europäische Anteil an der Weltwirtschaft von den derzeitigen 22 Prozent auf – grob vergleichbar mit dem von den Vereinigten Staaten – lediglich 12 Prozent im Jahr 2050 zurückfallen. [6]

 

In den modernen Industriegesellschaften bündeln sich Technologie und Politik in dem, was Edward Luttwak „Geo-ökonomie“ genannt hat. Technologische Skaleneffekte belohnen riesige Unternehmen in großen, vereinheitlichten Märkten. Die Meister des Weltmarkts betonen unablässig, dass technologische und kommerzielle Skaleneffekte auf globaler Ebene am besten realisiert werden können. Psychologische und politische Skaleneffekte werden allerdings am besten durch Nationalstaaten realisiert.

 

Theoretisch könnten sowohl ökonomische als auch politische Skaleneffekte von multinationalen Blocks verwirklicht werden, praktisch ist dieser Ausgang unwahrscheinlich. Bereits in den 1840ern haben britische und französische Beobachter darüber spekuliert, dass die Zukunft von zwei gigantischen Staaten dominiert werden würde, nämlich von den USA und Russland. Der Imperialismus der industriellen Zeit von den 1870ern bis zum Zweiten Weltkrieg war, unter anderem, ein Versuch mittelgroßer Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Japan, wirtschaft-liche Territorien zu schaffen, die in der Größe mit denen vergleichbar waren, die innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten und des zaristischen Russlands, später der Sowjetunion, existierten.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg ächtete das internationale System die Bildung von Imperien alter Schule und zwar im Wesentlichen auf Drängen der Vereinigten Staaten. Aber auch wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts einen anderen Weg eingeschlagen hätte, ist nicht anzunehmen, dass multinationale Imperien, die von Repressionen zusammen-gehalten werden und im Fall von Seemächten wie Großbritannien oder Japan durch Ozeane getrennt sind, auf lange Sicht mit den riesigen Nationalstaaten hätten konkurrieren können.

 

Die früheren westeuropäischen Imperialmächte haben sich bemüht, dasselbe Ergebnis dadurch zu erreichen, dass sie ihre Souveränität teilweise in der Europäischen Union bündeln. Die europäischen Staaten erhalten ihre Souveränität in der Außenpolitik, was es unmöglich macht, bei Konflikten mit einer Stimme zu sprechen, etwa bei den Balkankriegen, dem Irakkrieg und dem Libyenkrieg. Zwischendurch hat die griechische Finanzkrise bewiesen, dass es der Europäischen Union an übergreifenden zentralen ökonomischen Einrichtungen mangelt, etwa einer Zentralbank mit der Möglichkeit zur Notfallkreditvergabe. Das wäre nötig dafür, dass die EU als eine effiziente monetäre und kommerzielle Union fungieren könnte. Wegen des weit verbreiteten Widerstands gegen die weitere politische Integration ist es nicht mehr wahrscheinlich, dass die Europäische Union zu dem erfolgreichen Äquivalent eines riesigen Nationalstaats gerät, das die früheren europäischen Imperien dargestellt haben.

 

Psychologische Skaleneffekte begünstigen Nationalstaaten mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl unter ihren Bürgern. Das bewirkt, dass sie bereit sind, in den Krieg zu ziehen, Steuern zu zahlen und Umverteilungen für das Gemeinwohl zu akzeptieren. China mit seiner großen Han-Mehrheit hat ein bedeutend größeres Gefühl für nationale Identität und Zusammengehörigkeit als viel kleinere multinationale Staaten wie Kanada und Belgien, die sich in der Gefahr befinden, entlang ethnischer Grenzen zu zerbrechen, wie es auch schon mit Jugoslawien und der Tschecho-slowakei geschehen ist.

 

Daraus ergibt sich, dass in der Zukunft – wie bereits in der Vergangenheit – die wirtschaftlichen Erträge aus Größen-vorteilen vor allem von denen geerntet werden, die gewaltige, freie Binnenmärkte entsprechend den politischen Grenzen haben. Sorgen über die nationale Sicherheit und die Binnenverteilung werden innerhalb von Nationalstaaten die Marktintegration immer einschränken. In einer post-imperialen, post-dynastischen Welt werden die erfolgreichsten Großmächte sehr große Nationalstaaten sein.

 

Aufgeteilte Welt

 

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Propheten des Kosmopolitismus ist es wahrscheinlich, dass die Welt künftig unter den großen souveränen Mächten aufgeteilt bleibt. Manchmal werden sie konkurrieren, manchmal zusammen-arbeiten, aber sie werden sicher nicht ihre Souveränität opfern, indem sie in einer einzelnen Weltregierung verschmel-zen. Wenn eine solche errichtet werden würde, sei es durch Gewalt oder durch Einschüchterung, würde sie vermutlich schnell auseinanderbrechen.

 

Die Ideen der Postmoderne und der zweiten Moderne beeindrucken vor allem Denker in den europäischen Staaten, wo es notwendig ist, Souveränität grenzüberschreitend zu bündeln, um mit den großen Nationalstaaten wie den Vereinig-ten Staaten und China konkurrieren zu können. Im Gegensatz dazu sind große Nationalstaaten wegen ihrer eigenen Bevölkerungen, Ressourcen und Ökonomien stark. Deshalb ist es kaum überraschend, dass sie keinen Vorteil darin sehen, ihre Staatshoheit an supranationale Organisationen zu übergeben, die von kleineren Ländern dominiert werden. In einer Welt der souveränen Nationalstaaten sind die größten souveräner als die anderen. Unilateralität ist für große Mächte natürlich. Wale fragen nicht die Seepocken an ihrer Seite oder die Schwärme kleiner Fische, die in ihrem Kiel-wasser schwimmen.

 

Der Aufstieg der Giganten wird vermutlich dafür sorgen, dass internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Welthandelsorganisation weniger, und nicht mehr, Bedeutung haben. Wenn in 50 oder 100 Jahren der Großteil der Weltwirtschaft auf die Vereinigten Staaten, China und Indien entfällt, dann werden sie es vorziehen, die Regeln für den Welthandel und Investitionen über bi- oder trilaterale Verhandlungen festzulegen. Warum sollten Giganten, bevor sie tätig werden, mit Dutzenden oder Hunderten von Zwergen konferieren? Für das internationale Recht haben sich traditionell neutrale Ländern kleiner oder mittlerer Größe (darunter auch die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert) eingesetzt. Sein Einfluss wird in einer Epoche, in der es wenige titanenhafte Kontinentalstaaten mit hunderten Millionen oder Milliarden Einwohnern gibt, zurückgehen.

 

Kosmopolitismus ist leider nicht nur ein idyllischer harmloser Glaube, dem globale Eliten anhängen. Das kosmopoliti-sche „Sollen“ wird mit dem kosmopolitischen „Sein“ vermengt und dies mündet in alle Arten verheerender, nicht durchdachter Politik. Wenn die Welt zum Beispiel kurz vor einer kompletten wirtschaftlichen und politischen Integration steht, dann dürfte es sinnvoll sein, wenn die Fertigungskapazitäten der USA nach China verlagert werden, ebenso wie es vernünftig sein könnte, dass ein Staat wie Kalifornien all seine Fertigungskapazitäten in andere US-Staaten verlagert. Sie haben gemeinsame Steuer-, Regulierungs- und Sozialsysteme, sie investieren im Inland gemeinsam in Infrastruktur und Bildung und sie teilen dieselben militärischen und nationalen Sicherheitsinteressen. Aber in einer Welt, in der National-staaten wahrscheinlich an ihrer Souveränität festhalten und in der weiterhin ökonomischer Nationalismus regiert, machen Handels- und Investmentstrategien, die eine Welt ohne Grenzen voraussetzen, überhaupt keinen Sinn.

Der kosmopolitische Fehler hat auf ähnliche Weise die internationalen Bemühungen verunstaltet, weltweite Heraus-forderungen anzugehen. Die internationale Klimapolitik scheitert permanent an den grundlegenden Realitäten einer internationalen politischen Ökonomie, die weiterhin von den Interessen der Nationalökonomien definiert wird. Die internationale Entwicklung und die Armutsbekämpfung der letzten Jahrzehnte haben ebenso darin versagt, sich den wesentlichen Interessen der Geberökonomien anzupassen. Der kosmopolitische Fehler hat also echte Konsequenzen sowohl für die nationalen Bemühungen um gesunde, gerechte Ökonomien als auch für die internationalen Bemü-hungen, ernste weltweite Probleme und Risiken anzugehen.

 

Das oft vorgebrachte Argument, dass extensive supranationale Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme notwendig sei, ist falsch. Ohne Frage sind destruktive Nullsummenrivalitäten zwischen Staaten eine Bedrohung für eine friedliche und wohlhabende Welt – darin stimmen liberale Internationalisten und liberale Kosmopolitisten überein.

 

Glücklicherweise können die meisten die Weltordnung betreffenden Ziele des Kosmopolitismus auch mit aufgeklärtem liberalem Internationalismus erreicht werden und zwar ohne die Notwendigkeit zu Opfern oder zur Schwächung des demokratischen Nationalstaats, der Organisation, in der während der letzten drei Jahrhunderte der Großteil der Ent-wicklung in Richtung Gleichheit und wirtschaftliche Sicherheit stattgefunden hat. Im Gegensatz zu den oft vertretenen Ansichten von Experten und Science-Fiction-Autoren ist es unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft eine Weltregierung oder ein echter Weltmarkt entsteht. Ein erfolgreicher und aufgeklärter liberaler Internationalismus würde uns hingegen erlauben, die Nutzen von beidem zu genießen, ohne die Kosten von beidem zahlen zu müssen.

 

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