Nationale Interessen

 

 

Klaus von Dohnanyi: «Russland sollte nicht auf Dauer ein Feind bleiben»

 

Über Putin-Versteher, Entspannungsdiplomatie und divergierende Interessen zwischen Europa und den USA: Der Jurist und langjährige SPD-Politiker im Gespräch.

 

Hannah Bethke, NZZ, Hamburg 19.03.2022

 

Herr von Dohnanyi, in Ihrem neuen Buch «Nationale Interessen» beobachten Sie eine Renationalisierung der Politik – trotz der Globalisierung. Was meinen Sie damit?

 

Nationale Interessen werden in einer Welt der Vernetzung immer relevanter, weil jeder einzelne Staat von den internationalen Veränderungen unterschiedlich betroffen wird, auch innerhalb der EU: Frankreich will Atomenergie, Deutschland nicht. In Zeiten globaler Krisen und Umbrüche ist angesichts dieser Renationalisierung der Politik die internationale Kooperation besonders wichtig, gerade zwischen den Grossmächten USA, China und Russland.

 

Was bedeutet das für den Umgang des Westens mit Russland?

 

Es geht nicht nur um Russland; auch die Interessen von Europa und den USA sind nicht identisch. Die USA verlegen

ihre Priorität nach Asien, mit Rückwirkungen für Europa und die europäische Sicherheitslage. Denn Russland hat

seine Bedeutung für Europa nicht verloren und sollte nicht auf Dauer ein Feind bleiben.

 

Ihr Buch ist vor dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erschienen. Dort machen Sie den Westen mitverantwortlich für die zunehmende Entfremdung Russlands. Würden Sie das heute immer noch sagen?

 

Für den Krieg ist nur Russland verantwortlich. Aber als die Bedrohung eines Krieges für die Menschen in der Ukraine wuchs, waren die USA nicht bereit, über die zentrale Frage, ob die Ukraine in die Nato kommt, auch nur zu verhandeln. Heute scheint Selenski offenbar selber bereit, darauf zu verzichten. War der Krieg also vielleicht doch vermeidbar?

 

Manche halten Putin für unberechenbar.

 

Die USA haben doch wochenlang den Krieg vorausgesagt. War Putin in diesem Sinne dann doch berechenbar? Es ist zu spät, um darüber zu spekulieren, ob die USA auch wussten, wie man eventuell Putin von seiner fatalen Entscheidung hätte abhalten können. Die Nato-Frage wurde ja öffentlich nicht mehr diskutiert.

 

Aber es gab seitens der westlichen Partner, auch auf deutscher Seite, Bemühungen um Verhandlungen, bevor der Krieg ausgebrochen ist. Sehen Sie das nicht so?

 

Die Deutschen haben da nichts zu sagen und die Franzosen auch nicht: Washington und der Nato-Generalsekretär Stoltenberg bestanden doch darauf, man dürfe mit niemandem darüber verhandeln, wer in die Nato aufgenommen werden dürfe. Eine Art Ehrensache.

 

Was wäre denn die Alternative zur Nato-Erweiterung gewesen? Erweist sich der Weg jetzt nicht als genau richtig, um der imperialen Grossmacht Russland entgegenzutreten?

 

In dieser Frage teile ich die Auffassung des heutigen Chefs der CIA, William Burns, der noch 2019 die Fortsetzung der Nato-Erweiterung im Wesentlichen für eine sinnlose Provokation hielt. Ich teile auch die Auffassung von Professor Jack Matlock, der als US-Botschafter in Moskau im Februar 1990 dabei war, als Aussenminister James Baker Gorbatschow versprach, die Nato nicht über Deutschland hinaus zu erweitern. Gentlemen, don’t disagree about facts!

 

Welche Alternative hat die Ukraine, wenn sie nicht Mitglied der Nato wird?

 

Dieselbe Möglichkeit wie Österreich, Finnland, Schweden und Irland: Wir haben neutrale Staaten innerhalb der EU, die nicht in der Nato sind und die auch einen generellen Schutz geniessen. Der beste Schutz bleibt allerdings immer: Ver-ständigung mit dem Gegner.

 

Sie haben immer wieder gefordert, der Westen müsse sich bemühen, Russland und auch Putin «zu verstehen». Sind aber die vermeintlichen Putin-Versteher nicht gerade die Ursache für die gegenwärtige Eskalation?

 

Hätte man Putin verstanden, dann hätte man auch sehen können, dass er eventuell aggressiv wird, wenn man in der Nato-Frage nicht nachgibt. Verstehen heisst nicht billigen. Es heisst aber, dass man sich auch in den Kopf und in die Überlegungen des anderen hineinversetzt. Wer sagt, man müsse Putin nicht verstehen, der sollte mal darüber nach-denken, warum es den Krieg jetzt gibt; man hatte ihn offenbar nicht verstanden.

 

Wenn man aber jetzt versucht, Putin zu verstehen und ihn richtig einzuschätzen, müsste die naheliegende Antwort nicht die sein, Europa aufzurüsten und militärische Stärke zu zeigen?

 

Die Erfahrung, die wir jetzt gemacht haben, bedeutet natürlich auch, dass wir uns militärisch selbständiger machen müssen. Das ist richtig, aber ohne Entspannungsdiplomatie nicht ausreichend.

 

Was meinen Sie damit genau?

 

Die Nato muss aus der Ukraine-Krise auch lernen, dass offenbar militärisch allein der Frieden nicht gesichert werden kann.

 

Kann man denn überhaupt noch mit Putin verhandeln?

 

Natürlich, das macht die Ukraine doch gerade. Auch Kriege beendet man durch Verhandlungen.

 

Finden Sie es richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz das Sondervermögen von hundert Milliarden Euro für die Bundeswehr beschlossen hat?

 

Ja, das muss wohl sein. Wir dürfen aber nie aus dem Auge verlieren, dass Europa sich gegen Russland niemals so ver-teidigen könnte, dass Deutschland unversehrt bliebe: «Wir sind nicht daran interessiert, als zerstörtes Land erneut befreit zu werden.» Das schrieb Helmut Schmidt schon 1961. Die USA ihrerseits sind nicht gewohnt, auf eigenem Boden Kriege zu erfahren. Eine Nato-Politik, die einen grösseren Krieg in Europa in Kauf nähme, würde die USA nicht verletzen. Deshalb muss Europa eine Aussenpolitik der Nato vorantreiben, die uns durch Diplomatie eine Gegnerschaft mit Russ-land vom Halse hält.

 

Auf welchem Weg kann das passieren? Muss Europa sich jetzt nuklear aufrüsten?

 

Wer das fordert, versteht nichts von Verteidigung. Nukleare Waffen sind Abschreckung nur gegen nukleare Waffen!

US-Präsident Biden hat 2021 erneut deutlich erklärt, Amerika werde die Nuklearwaffen nur einsetzen, wenn sie selber getroffen würden. Jeder Einsatz von Atomwaffen würde bedeuten, dass man zwar mit einem «Erstschlag» den Gegner treffen könnte – um dann im «Zweitschlag» des Gegners selber getroffen zu werden. Die nukleare Abschreckung gibt es also für Europa überhaupt nicht. Es gibt sie nicht. Steht alles in meinem Buch. Wann kapieren wir das endlich?

 

Stimmt die Beobachtung, dass wir gerade in einer Zeitenwende leben?

 

Ja, wir befinden uns in einer Zeitenwende, die allerdings mehr von Entspannung braucht und nicht weniger. Wir sehen ja jetzt, was es bedeutet, dass die USA sich gleichzeitig mit China und Russland anlegten: China steht nun auf der Seite Russlands! Das europäische Russland ging verloren. Noch immer bestimmen die USA die Aussen- und Sicherheitspolitik Europas. Hatte Biden innenpolitisch nicht den Mut, die Nato-Frage in die Verhandlungen einzubeziehen? War ein ameri-kanisches Wahlergebnis am Ende wichtiger als eine friedliche Lösung der Ukraine-Krise?

 

Halten Sie es für richtig, dass die Nato keine Flugverbotszone über der Ukraine verhängt?

 

Natürlich. Die Nato darf sich nicht einmischen. Es ist unverantwortlich von Selenski, das zu fordern, und unverständlich, dass kein europäischer Staatsmann ihn hier auch öffentlich zurechtweist! Will er Bomben auf den Verkehrslinien Berlin nach Frankfurt an der Oder riskieren, wenn es dann um Nachschub in die Ukraine geht?

 

Der ukrainische Botschafter Andri Melnik ist sehr verärgert darüber, dass Deutschland ein Embargo russischer Gaslieferungen ablehnt. Er wirft der Bundesregierung Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit vor. Können Sie das verstehen?

 

Ich kann die Erregung der Ukraine verstehen. Das Land hat eine lange Geschichte mit wiederholten Versuchen, sich freizumachen von Beherrschung – entweder von Polen oder von Russland. Die Ukraine hat den Drang nach Selbst-bestimmung in ihren Genen. Insofern kann ich natürlich verstehen, dass man jetzt den Versuch macht, den Rest der Welt für die Ukraine zu mobilisieren. Aber hat die jahrelange Aufrüstung der Ukraine durch die USA die Ukraine vor Zerstörung geschützt? Hätte man nicht besser das Minsk-Abkommen realisieren sollen? Für das alles ist es nun zu spät, und nichts rechtfertigt den Krieg, den Putin begonnen hat.

 

In Ihrem Buch sprechen Sie sich entschieden gegen Sanktionen aus, weil Sie von deren politischen Wirkung nicht überzeugt sind. Gilt das immer noch?

 

Absolut.

 

Halten Sie auch die Sanktionen gegen Russland für falsch?

 

Wir werden sehen. Zunächst werden sie China und Russland weiter zusammenschweissen und auch der Welternährung schweren Schaden zufügen. Auch die Sanktionen gegen Iran haben dazu geführt, dass nach einem eher reformorien-tierten Präsidenten nun ein Hardliner am Ruder ist; die Sanktionen gegen China haben nur zu Spannungen geführt und nichts bewirkt – kein Uigure wird deswegen von China besser behandelt. Ich glaube, die meisten Sanktionen dienten der Selbstbestätigung gegenüber den eigenen Wählern und haben wenig politisch bewirkt.

 

War es in dieser Situation nicht dennoch richtig, Sanktionen gegen Russland zu verhängen? Es musste doch jenseits einer militärischen Eskalation alles versucht werden, um den Druck gegenüber Putin zu erhöhen.

 

Richtig, aber dann hätte man auch gleichzeitig verhandeln müssen. Strafdrohungen sind unzulängliche Politik.

 

Ist die politische Blindheit gegenüber Russland nur ein Problem der Linken?

 

Wir haben in gewisser Weise noch immer ein geteiltes Land in Deutschland. In Ostdeutschland gibt es eben Menschen, die auch von einem freundschaftlichen Verhältnis zu Russland geprägt sind.

 

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sehr lange an Nord Stream 2 festgehalten, und er ist da keine Ausnahme in seiner Partei. Woher kommt eigentlich diese Bedenkenlosigkeit der SPD, das Land von russischem Gas abhängig zu machen?

 

Es gab im Kalten Krieg keinen Fall, in dem die Sowjetunion Öl oder Gas nicht geliefert hätte. Diese Erfahrung bleibt wichtig. Es gibt im Übrigen ja auch eine gegenseitige Abhängigkeit. Sollen wir stattdessen Gas importieren, das mit klimaschädlichem Fracking hergestellt wird? Nord Stream 2 war für die USA ein bequemer Punkt, um Russland und Deutschland an die Kandare zu zwingen. Russland garantiert auch heute die Gaslieferungen. Teurer ist es übrigens

auch deswegen geworden, weil die EU auf kurzfristigen Abschlüssen zu Spottpreisen bestand.

 

Gibt es für eine Entspannungspolitik mit Russland noch eine Chance?

 

Ja, natürlich. Sonst würde doch die Ukraine nicht mit Russland verhandeln. Denn die zentralen Streitpunkte lassen sich nur durch Verhandlungen lösen, trotz Putins verbrecherischem Krieg. Die öffentliche Stimmung erschwert gegenwärtig natürlich jeden Verhandlungsschritt, und in Zukunft wird nichts wichtiger sein als die politische Fähigkeit, auch entgegen solchen Stimmungen die Vernunft walten zu lassen. Dazu gehört dann auch politischer Mut.

 

Welcher Politiker hätte heute den Mut, ungeachtet der Wählerstimmen eine vernünftige Politik durchzusetzen?

 

Ich habe einen Lieblingssatz für Politiker: Wer nicht bereit ist, zu fallen, der wird auch nicht stehen! Vielleicht überrascht uns Selenski, wenn er jetzt auf die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato verzichtet und dafür internationale Sicherheits-garantien bekäme. Das wäre sehr mutig, auch innenpolitisch.

 

Ist China jetzt für Europa nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine militärische Bedrohung?

 

Nein. China ist keine militärische Bedrohung für Europa. China ist vielleicht eine militärische Bedrohung für die USA, wenn die USA den Ratschlägen von Henry Kissinger nicht folgen, nämlich mit den Chinesen auf Augenhöhe zu verhandeln, über Abrüstung, über die Möglichkeiten eines Cyber-Krieges und den Einsatz der künstlichen Intelligenz.

 

Meine Generation ist mit dem politischen Selbstverständnis aufgewachsen, das Zeitalter klassischer Angriffs-kriege sei überwunden. Putin straft diese Annahme Lügen. Warum schreckt er auch vor brutalen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung nicht zurück?

 

Keine Angriffskriege? Was haben denn die USA im Irak 2003 gemacht? Oder der Krieg Irak gegen Iran in den 1980ern? Jeweils über eine Million Tote und Verletzte!

 

Sie würden also sagen, das, was Putin gerade macht, unterscheide sich nicht vom Irakkrieg der USA?

 

Es unterscheidet sich, weil es uns betrifft. Und da sieht man wiederum die nationalen Interessen. Wir müssen wissen, dass geografische Distanz auch etwas im Bewusstsein von Recht und Unrecht verändert. Aber tote Menschen bleiben tote Menschen, überall.

 

Wie wird die künftige Weltordnung aussehen?

 

Die USA werden sehr wichtig bleiben. Aber ein Staat, der politisch so gespalten ist und dann alle zwei Jahre wählt, ist ein äusserst unzuverlässiger Partner. Denn die grossen Aufgaben der Welt haben keine Chance, wenn die Grossmächte so gespalten bleiben.

 

Wie kann ein Zusammenwachsen der Welt gelingen?

 

Europa hat es doch gezeigt. Noch vor hundert Jahren haben wir Krieg mit Frankreich geführt. Wir haben begriffen, dass man zusammenhalten muss. Diese Chance hätte vielleicht auch mit Russland bestanden, wenn man nach 1990 nicht den Kalten Krieg mit anderen Mitteln fortgesetzt hätte.

 

Was verstehen Sie unter einem Kalten Krieg mit anderen Mitteln?

 

Entgegen den Zusagen wurde die Nato erweitert. Es gab eine Umkehr des berühmten Satzes von Clausewitz, Krieg sei eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie lautet: Auch Politik kann eine blosse Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein. Man hat den Kalten Krieg nicht in Entspannung, sondern in einen Sieg Amerikas umgewan-delt. Wie man heute sieht, hatte das katastrophale Folgen, auch psychologisch, siehe die deutsche Hysterie gegen-wärtig.

 

Wo sehen Sie diese Hysterie besonders?

 

Es wurden zum Beispiel Emigranten aus Weissrussland, die schon lange hier leben, nicht auf die Leipziger Buchmesse eingeladen. Das betrachte ich als eine Hysterie. Oder dass in Berlin die Russen angefeindet werden. Ich wünsche mir, dass da auch einmal der Bundestag eingreift. Die Russen, die hier sind, das sind nicht unsere Feinde.

 

Fürchten Sie, es könnte zu einer weltweiten Ausweitung des Krieges kommen?

 

Ich fürchte das schon. Aber ich hoffe, dass alle vernünftig bleiben und sehen, dass man die Nato unter allen Umständen raushalten sollte und dann versuchen muss, in der Ukraine selbst eine Verhandlungslösung zu finden.

 

https://www.nzz.ch/international/mehr-entspannung-wagen-interview-mit-klaus-von-dohnanyi-ld.1675261

 


 

Klaus von Dohnanyi und sein neues Buch „Nationale Interessen“ –

„Ich bin für mehr Realismus – und zwar überall“

 

17.01.2022 - SWR2 - Gespräch

 

Der ehemalige Minister in den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt, Klaus von Dohnanyi, drängt auf eine Rückbesinnung der deutschen Politik auf das Machbare. Im Gespräch mit SWR2 nennt der 93jährige anlässlich des Erscheinens seines neuen Buchs „Nationale Interessen“ als Beispiel: „Wir müssen sehen, dass die USA ein ganz anderes Sicherheitsinteresse haben als die Europäer. Denn Russland ist 5000 Seemeilen entfernt von den USA – aber von Europa trennt es nur ein paar Meter.“

 

Man hat Russland an die Seite Chinas gedrängt

 

In diesem Zusammenhang sei auch die aktuelle Krise mit Moskau um die Ukraine zu sehen. US-Präsident Bush habe Russland in den 90er Jahren eine Garantie gegeben, dass sich die NATO nicht ostwärts ausbreite. Dann aber sei das Gegenteil geschehen: „Man hat Russland immer weiter zurückgedrängt und Russland an die Seite Chinas gedrängt – das ist höchst gefährlich für Europa.“ Die NATO solle sich klar machen, dass sie die Ukraine gar nicht in ihr Bündnis aufnehmen wolle – dann lasse sich mit Russland auch über Sicherheitsfragen reden.

 

Eine Absage für eine werteorientierte Außenpolitik

 

Skeptisch zeigt sich der Politik-Veteran auch gegenüber Versuchen, Staaten wie Russland oder China mit Sanktionen zur Beachtung von Menschenrechten zu bewegen. Klaus von Dohnanyi glaubt im Fall von Peking: „Diese fast Orwell'sche Struktur eines Überwachungsstaats kann von uns weder durch Sanktionen noch durch Wirtschaftsentzug geändert werden.“ Deshalb erteilt von Dohnanyi einer werteorientierten Außenpolitik auch eine klare Absage: „Das war noch nie erfolgreich – und das wird auch in Zukunft nicht erfolgreich sein.“ Möglich sei allenfalls, eine Wertepolitik im eigenen Land zu betreiben, etwa Flüchtlinge aufzunehmen: „Aber wir werden nicht in der Lage sein, die Systeme zu ändern.“

 

Das Unterdrücken nationaler Interessen sei nicht möglich

 

Im Gespräch wehrt sich von Dohnanyi gegen den Verdacht, sein Plädoyer für das Betrachten – und Beachten – nationaler Interessen sei von gestern: „Ich empfehle keine Rückbesinnung – ich stelle nur fest: Frankreich hat zum Beispiel deutlich gemacht, dass es nationale Interessen hat (bei der Förderung von Atomkraft als nachhaltige Energie-form).“ Dohnanyi betont, dass Staaten die Basis der Demokratie blieben und sich einzubringen haben in die gemein-same Politik Europas. Nationale Interessen völlig zu unterdrücken sei jedoch nicht möglich.

 

Kein Bundesstaat in Europa

 

„Ich bin für mehr Realismus – und zwar überall", bilanziert Dohnanyi seinen Standpunkt und formuliert weiter: „Ich glaube nicht, dass wir in Europa einen Bundesstaat gründen können.“ Es gebe schließlich 27 verschiedene Staaten mit 24 verschiedenen Sprachen. Sein Credo: „Die nationalen Interessen bleiben ein wesentlicher Bestandteil von Politik.“

 

Klaus von Dohnanyi ist Jahrgang 1928. Der studierte Jurist gehört seit 1957 der SPD an. Er war von 1972 bis 1974 Wissenschaftsminister im Kabinett von Willy Brandt, von 1976 bis 1981 war er Staatsminister im Auswärtigen Amt und danach sieben Jahre lang Bürgermeister von Hamburg.

 

Das ganze Gespräch ist zu hören auf SWR2: https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/klaus-v-dohnanyi-und-sein-neues-buch-nationale-interessen-ich-bin-fuer-mehr-realismus-und-zwar-ueberall-100.html

 



 

Gezielte Zumutungen

 

Klaus von Dohnanyis Buch provoziert: Die Freundschaft zu Amerika sei ein Missverständnis. Eine wertegeleitete Außenpolitik eher hinderlich. Und eine harte Linie gegen Russland liege im Interesse der USA, nicht jedoch Europas.

 

Klaus von Dohnanyi, Ex-Minister und Regierender Bürgermeister von Hamburg, hat ein unbequemes Buch über Deutschlands „nationale Interessen“ geschrieben. Darin stellt er alte Bündnisse infrage, etwa zu den USA: „Es gibt im Establishment in Washington Leute, die seit Jahrzehnten nichts anders im Kopf haben, als Russland weiter zurückzu-drängen. Das mag in deren geopolitischem Interesse sein, in Europas Interesse ist es nicht. Und das müssten wir in Washington einmal deutlicher machen.“

 

Dies ist nur eine von mehreren überraschenden Aussagen des ehemaligen Ministers in den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Der 93-jährige Klaus von Dohnanyi ist zwar für deutliche Worte – auch gegenüber seiner eigenen Partei – bekannt, aber bislang nicht als scharfer Amerika-Kritiker ins Bewusstsein gerückt. Das scheint der Grandseigneur der deutschen Sozialdemokratie nun nachzuholen.

 

Die Freundschaft mit den USA: ein „Missverständnis“

 

Hören wir das richtig? Die USA und Europa sind keine so engen Freunde, wie das einer, der im Kalten Krieg groß ge-worden ist, eigentlich sagen müsste?

 

„Es ist nur natürlich, dass Amerika als stärkste Weltmacht seine eigenen Interessen verfolgt, auch im Umgang mit den Verbündeten in Europa. Wir Europäer sollten das endlich zur Kenntnis nehmen und das Missverständnis einer ‚Freund-schaft‘ zwischen den USA und Europa, also einer solidarischen Gemeinschaft, endlich klären, im eigenen Interesse. Nach meiner Überzeugung könnte dann eine Partnerschaft zwischen den USA und Europa besser gedeihen.“

 

Klaus von Dohnanyi hat ein „Buch ohne Schnörkel“ geschrieben, wie er selbst in der Einleitung sagt. Ein Buch, das Diskussionen auslösen soll und vor allem provozieren. Nach ein paar Seiten Lektüre kann man getrost sagen, dies ist ihm gelungen. Er eröffnet den Reigen der Zumutungen mit dem Bekenntnis, dass die geopolitischen Interessen der USA und der Europäer, insbesondere der Deutschen, schon lange nicht mehr auf einer Linie liegen. Als besonderes Beispiel führt er das Verhältnis zu Russland auf.

 

In einem Interview mit dem SWR erklärt er: „Wir müssen sehen, dass die USA ein ganz anderes Sicherheitsinteresse haben als die Europäer. Russland ist 5000 Seemeilen entfernt von den USA – aber Russland ist nur ein paar Meter von der europäischen Grenze entfernt.“

 

Viel Verständnis für Moskau

 

Davon ausgehend diagnostiziert von Dohnanyi einen gravierenden Fehler der USA: Die Ausweitung der NATO nach 1990 hätte nie geschehen dürfen. Dies – so argumentiert er auch in seinem Buch – habe der damalige US-Präsident George Bush auch der Führung in Moskau signalisiert, allerdings nur mündlich. Schriftlich niedergelegt wurde diese für Moskaus so wesentliche Sicherheitsgarantie jedoch nie. Dass sich Präsident Putin nun in seiner Argumentation genau darauf konzentriert, sei aus der Sicht Russlands nur verständlich.

 

Mutiert von Dohnanyi nun zum Putin-Versteher? So einfach macht es sich einer der letzten Zeitzeugen von Brandts Ostpolitik allerdings nicht. Auch wenn es angesichts der momentanen Situation widersinnig erscheint, unterstellt er Russland ähnliche Sicherheitsinteressen wie den USA. Nach dem Motto: Not in my backyard.

 

„Europa und der europäische NATO-Raum werden heute militärisch nicht bedroht. Auch das geografisch nahe Russland bedroht Europa militärisch nicht. Aber Moskau reagiert auf das Vordringen des westlichen Militärbündnisses NATO an die Grenzen der Russischen Föderation. Putin hat zwar mehrfach erklärt, dass die Ukraine ein Recht auf politische Selbstständigkeit habe, aber die Eingliederung der Ukraine in die NATO, also eines Gebietes, das über lange Zeit auch Teil des russischen Reiches und der Sowjetunion war, ist für ihn eine andere Sache.“

 

Deutschland müsste mehr Abstand wagen – zu den USA

 

Was also wären dann – nicht nur in diesem Konflikt – die deutschen „nationalen Interessen“? Die Antwort hat es in sich: Distanz. Nicht etwa zu Russland, sondern zu den USA. Dohnanyi sagt: „Eine entscheidende Konsequenz der Politik der USA nach 1990 ist doch, dass Russland, das bisher nach Europa orientiert war, sich nun nach China orientiert, dass sich sogar der chinesische Präsident in der Ukraine einmischt und in der NATO. Das ist die Folge der Politik der USA.“

Seine Schlussfolgerung: Gerade Deutschland müsse sich vom amerikanischen Leitbild, Russland sei ein „Evil Empire“ lösen und – jetzt passiert es doch – zum „Putin-Versteher“ werden. Fast schon könnte man denken, Klaus von Dohnanyi würde seiner Partei helfen, an der alten Ostpolitik festzuhalten. Er verteidigt sogar Nord Stream 2 als „legitimes deutsches Interesse“. Aber so leicht – wie gesagt – macht er es dann der Partei, der er seit 1957 angehört, doch nicht.

 

Das Ziel Europas: eine „allianzneutrale Position“

 

Die Vorstellung, Europa würde ein Machtfaktor im Spiel der Mächtigen wie USA, Russland oder China werden, wenn es sich nur einig wäre, sei eine „Illusion“. „Aber angesichts der realen Lage in Europa sollten wir festhalten: Europa kann durch militärische Kraft, sei es die der EU oder die der von den USA beherrschten NATO, nicht wirklich gesichert werden. Das Ziel Europas muss am Ende eine allianzneutrale Position sein. Wer sich selbst gegenüber einem Stärkeren nicht mehr wirkungsvoll verteidigen kann, für den ist es immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Größeren und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden.“

 

„Äquidistanz“ bedeutet in der Geografie, einen gleichen Abstand zu zwei Polen zu haben. Die Pole sind für den ent-täuschten Transatlantiker klar: die USA und China. Deutschland nationales Interesse gegenüber Russland hingegen könne nur im „Wandel durch Annäherung“ gewahrt werden. Eine „wertebasierte Außenpolitik“, wie sie die Regierungs-koalition verfolgt, ist für den Pragmatiker von Dohnanyi dabei eher hinderlich. „Das war noch nie erfolgreich – und das wird auch in Zukunft nicht erfolgreich sein. Wir werden nicht in der Lage sein, die Systeme zu ändern“, schreibt er als letzte Zumutung.

 

 https://www.deutschlandfunkkultur.de/dohnanyi-nationale-interessen-buchkritik-100.html

 


 

Klaus von Dohnanyi: „Nationale Interessen“

 

Nana Brink | 21. März 2022 | Deutschlandfunk

 

 

https://www.deutschlandfunk.de/klaus-von-dohnanyi-nationale-interessen-dlf-f3dbec87-100.html

 


 

Vergesst Amerika


Klaus von Dohnanyis einseitige Streitschrift zur Weltpolitik

 

Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2022


Der Begriff der nationalen Interessen ist ein Reizwort. Steht er doch scheinbar im Gegensatz zu allem, was eine auf Integration und Vergemeinschaftung angelegte europäische Politik ausmacht. Das Wiedererstarken der Nationalismen gilt derzeit als größter Hemmschuh für das Voranschreiten des Projekts Europa sowie, im globalen Maßstab, einer friedlichen und auf Ausgleich bedachten Weltordnung.


Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker und früherer Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg, sieht das ausdrücklich anders. Er plädiert dafür, das nationale Interesse dorthin zurückzuholen, wo es aus seiner Sicht hingehört – ins Zentrum deut-scher und europäischer Politik. Und es damit den anderen Weltmächten, allen voran den Vereinigten Staaten, China und Russland, gleichzutun. Dass das vielen in Deutschland und insbesondere auch in seiner eigenen Partei nicht gefallen dürfte, ist ihm bewusst; mit weiten Teilen des Koalitionsvertrages der neuen rot-grün-gelben Regierung hadert er, vor allem, was die Außen- und Sicherheitspolitik betrifft. Sein Verdikt: zu viel Wunschvorstellung, zu wenig Realitätssinn.


Am deutlichsten wird das für Dohnanyi im globalen Wettstreit mit China und Russland, zwei Konflikte, die für ihn maß-geblich von den Vereinigten Staaten befördert werden und bei denen Europa und die Nato als willfährige Handlanger agieren. Ein Präsident Biden unterscheide sich hier allenfalls im Ton von seinem Vorgänger Trump. Der amerikanischen Weltpolitik attestiert Dohnanyi eine „gefährliche Mischung aus dem Imperialismus eines Theodore Roosevelts verknüpft mit dem Missionarismus eines Woodrow Wilson.“


China und Russland hingegen werden mit Nachsicht bedacht. Im Agieren Chinas sieht Dohnanyi eine Analogie zum Aufstieg der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Das Land setze auf wirtschaftliches Wachstum, verzichte jedoch (bisher) auf militärisches Ausgreifen. Im aggressiven Vorgehen gegen die Nachbarn im südchinesischen Meer erkennt Dohnanyi eine Art chinesischer „Monroe-Doktrin“, demnach das Land keine militärisch und ideologisch fremden Kräfte in seiner Nachbarschaft zulassen könne – zumal China nicht über die einzigartige geografische Lage der Vereinigten Staaten verfüge.


Russland bescheinigt Dohnanyi, nach den Demütigungen der 1990er-Jahre um seinen Stolz und einen Platz auf der Weltbühne zu ringen. Dass Putin mit der Annexion der Krim gegen Völkerrecht verstoßen hat, räumt er ein, jedoch nicht ohne den Zusatz, dass auch die USA in jüngster Vergangenheit wiederholt widerrechtlich agiert hätten; und eine deut-liche Mehrheit der Krimbewohner sich eher Russland als der Ukraine zugehörig fühle. Anzeichen dafür, dass Putin die Westgrenzen seines Landes weiter verschieben möchte, sieht Dohnanyi nicht. Stattdessen schwere Fehler bei der Nato-Osterweiterung, die Russland in eine Position gebracht habe, wie einst die Vereinigten Staaten in der Kubakrise.


Nach diesem recht einseitigen Parforceritt durch das Weltgeschehen fragt man sich: Was hat das alles mit nationalen Interessen zu tun? Für Dohnanyi widerspricht die Art und Weise, wie mit den aktuellen geopolitischen Großkonflikten verfahren wird, fundamental den nationalen Interessen Deutschlands und Europas, sie diene ausschließlich dem Ziel der Vereinigten Staaten, ihre globale Vormachtstellung zu behaupten. Inklusive des bewusst in Kauf genommenen Risikos einer militärischen Eskalation mit China, deren Folgen Europa zu tragen hätte.


Ziel deutscher und europäischer Politik müsse es daher sein, Europa endlich von seiner „Illusion der Freundschaft“ mit den Vereinigten Staaten zu befreien und als souveränen Partner „allianzneutral“ in der Weltpolitik zu positionieren. Russland aus seiner Umklammerung mit China loszueisen und wieder an Europa heranzuführen, sei ebenso im deutschen Interesse wie die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit China weiter zu vertiefen – auch wenn dabei das normativ Wünschenswerte, Stichwort: Menschenrechte, bisweilen dem politisch Machbaren untergeordnet werden müsse. Schließlich gehe es in der Politik „um Ergebnisse, nicht um moralisierende Selbstbestätigung.“


Im Umgang der EU-Staaten miteinander mahnt Dohnanyi mehr Toleranz an. Der Nationalstaat bleibe weiterhin der Nukleus demokratischer Legitimation und sozialstaatlicher Absicherung. Aufgabe Europas sei der Zusammenhalt in grundlegenden Fragen sowie die Sicherstellung der wirtschaftlichen und technologischen Wettbewerbsfähigkeit. Politische Divergenzen zwischen den Staaten, wie jüngst in Fragen der polnischen Justizreform oder der ungarischen Sexualerziehung, dürften nicht zu einer die Gemeinschaft gefährdenden Prinzipienreiterei ausarten.


Sinn und Zweck einer Streitschrift ist es, mit Zuspitzungen eine als nötig erachtete Debatte zu befeuern. Mit der brand-aktuellen politischen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland über die Ukraine sowie über die künftige Nato-Sicherheitsarchitektur in Europa kommt Dohnanyis Buch genau zum richtigen Zeitpunkt. Dass er sich damit bei einer Regierung Scholz politisch Gehör verschaffen kann, ist aufgrund der Einseitigkeit seiner Urteile vor allem mit Blick auf die Vereinigten Staaten, China und Russland, aber auch auf die Bedeutung der EU als Wertegemeinschaft, jedoch eher unwahrscheinlich. Was Dohnanyi so vehement von der Politik einfordert, nüchternen Realitätssinn, hat er selbst beim Schreiben seines Buches an der einen oder anderen Stelle aus den Augen verloren.


FLORIAN KEISINGER


Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen.

Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche.

München: Siedler-Verlag 2022.


In einer Welt des rapiden machtpolitischen und technologischen Wandels müssen sich Deutschland und Europa strate-gisch neu orientieren: Im Wettkampf zwischen den USA und China gerät Europa bereits zwischen die Fronten. Und dies wird auch unser Verhältnis zu Russland verändern müssen. Jetzt ist ein nüchterner, illusionsloser Blick auf die neuen Realitäten notwendig, wie Klaus von Dohnanyi zeigt: Auf »Wertegemeinschaften« oder »Freundschaften« können wir nicht vertrauen, Deutschland und Europa müssen vielmehr offen ihre eigenen, wohl verstandenen Interessen formu-lieren und mit Realismus verfolgen. So fordert von Dohnanyi in seinem Buch grundsätzliche Kurskorrekturen - im Bereich der äußeren Sicherheit ebenso wie in der Industriepolitik, weg von einseitigen Abhängigkeiten, hin zu einer Politik der Eigenverantwortung. Ein ebenso provokantes wie anregendes Buch - von einer der herausragenden politi-schen Persönlichkeiten unserer Gegenwart.


DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München

 

»Selbstbewusst, souverän, auf die eigene Erfahrung bauend und in großer Ausführlichkeit und mit intellektuellem Tiefgang auf die Geschichte zurückgreifend formuliert [Dohnanyi] Einsichten und Ansichten in Sentenzen, die sich in solchem Freimut sonst kaum einer leisten würde.« Die ZEIT

 


 

„Wer soll denn über Deutschlands Schicksal entscheiden?

Ein Parlament in Brüssel?“

 

 

Klaus von Dohnanyi (SPD) erklärt den „Bundesstaat Europa“ zur Illusion. Und er sagt, warum die Verfolgung nationaler Interessen hierzulande verpönt sei. Für ihn steht fest: Es brauche eine deutsche Identität, aus der

sich eine „Kontinuität unserer Interessen“ ableiten lässt.

 

https://www.welt.de/politik/deutschland/plus236727709/Klaus-von-Dohnanyi-Nationale-Interessen-sind-ein-Fakt.html

 


 

Ein Realpolitiker holt zum Rundumschlag aus

 

Eine Kolumne von Theo Sommer

Klaus von Dohnanyi ist ein politisches Urgestein. Nun hat er ein Buch über deutsche Interessen geschrieben. Seine Thesen sind eigenwillig, aber ihre Debatte lohnt sich.

 

11. Januar 2022, DIE ZEIT

 

Klaus von Dohnanyi gehört zum politischen Urgestein der alten Bundesrepublik. Er ist der letzte noch lebende Minister des ersten Kabinetts von Willy Brandt, dem er 1972 bis 1974 als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft diente. Zwölf Jahre saß er im Bundestag; er war rheinland-pfälzischer SPD-Landesvorsitzender, Staatssekretär im Wirtschafts-ministerium, Staatsminister im Auswärtigen Amt, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg (1981– 1988), nach der Wiedervereinigung Beauftragter der Treuhandanstalt. Im Juni wird er 94 Jahre alt, aber noch immer erhebt er in Aufsätzen, Reden und in seinen Abendblatt-Interviews Dohnanyi am Freitag seine Stimme zu politischen Fragen. In dem nächste Woche bei Siedler erscheinenden Buch Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche hat er nun zu einem außenpolitischen Rundumschlag ausgeholt.

 

Dohnanyi nennt es ein "Buch ohne Schnörkel" und räumt ein, dass es ihm zur Streitschrift geraten ist. Es ist das Werk eines Realpolitikers, dessen Überlegungen viele teilen, andere jedoch, die Grünen zumal, zur Weißglut reizen werden. Ihm ist das nur recht. Das Buch soll Debatten eröffnen, ist sein Wunsch. Sie werden nicht ausbleiben.

 

Selbstbewusst, souverän, auf die eigene Erfahrung bauend und in großer Ausführlichkeit und mit intellektuellem Tief-gang auf die Geschichte zurückgreifend formuliert er Einsichten und Ansichten in Sentenzen, die sich in solchem Frei-mut sonst kaum einer leisten würde. Beispiel Nummer eins: Es sei eine Illusion, von Xi und Putin einen Wandel ihrer autoritären Regierungsformen zu erwarten; Sanktionen machten die Gegenseite nur störrischer und härter. Beispiel Nummer zwei: "Sollen die politischen Wege von Alexej Nawalny auch die Wege unserer Sicherheitspolitik bestimmen?" Beispiel Nummer drei: "Es sind nicht militärische Gefahren, die uns in erster Linie bedrohen – es sind wir selbst." Um sich zu behaupten, komme es darauf an, dass "das bessere Vorbild überzeugend gelebt wird."

 

Die Selbstüberhöhung Amerikas

 

Seine Erwägungen zur deutschen Identität mögen manche überraschen. Sein Vater, sein Onkel Bonhoeffer, viele Freunde wurden von den Nazis hingerichtet; Widerstand gegen jegliche braune Verführung ist Teil seiner DNA.

Aber der Nationalsozialismus ist nicht das ganze Deutschland. Dohnanyi sieht – und verteidigt – auch das andere, frühere Deutschland. Es habe in seinen vielen kleinen Einheiten schon rechtsstaatliche Strukturen gehabt, als es die

USA noch gar nicht gab, starke parlamentarische Beteiligung auch im Kaiserreich, und die Weimarer Demokratie sei weniger an mangelnden demokratischen Traditionen gescheitert als an den Folgen der von den USA ausgehenden Weltwirtschaftskrise – "schließlich hatten die Nationalsozialisten 1928 nur 2,6 Prozent der Stimmen".

 

In dieser Passage klingt schon eine amerika-kritische Einstellung an, die ein Grundzug des ganzen Buches ist. Dohnanyi hat an mehreren US-Universitäten studiert, in Yale einen Bachelor gemacht, in Detroit gearbeitet. Ihn störe jedoch die eingefleischte Selbstüberhöhung Amerikas als "exzeptionelle Nation". Das Antriebselement der US-Politik sieht er weder in humanitärem Engagement noch im Eintreten für Demokratie, sondern im nackten Verfolgen amerikanischer Großmachtinteressen.

 

Aus rein innenpolitischen Gründen wolle Washington die Spannung mit Russland aufrechterhalten und versuche ferner, Europa als Teil einer westlichen Wertegemeinschaft in seinen Weltmachtkonflikt mit dem erstarkenden China hineinzu-ziehen. Beides könne weder europäisches noch deutsches Interesse sein. Den Begriff Wertegemeinschaft setzt Doh-nanyi in Anführungszeichen, er ist ihm zu schwammig, weil er harte gegensätzliche Interessen übertüncht.

 

Die Dämonisierung Putins

 

Über Russland macht er sich keine Illusionen. Es könne nicht aus seinen autoritären Traditionen heraus und sei eine "demokratisch verbrämte Diktatur". Unter Putin suche es, noch immer die größte Atommacht, einen Weg zurück auf

die Weltbühne. Wie viele Kremlherrscher vor ihm – und überhaupt jede Nation – sei er darauf aus, in seinem geografi-schen Umfeld ein sicheres Glacis zu schaffen.

 

Eine militärische Gefahr für den Westen vermag der Autor jedoch nicht zu erkennen. Nach seiner Ansicht gibt es keine glaubhaften Belege dafür, dass ein Angriff auf Europa Bestandteil russischer Politik ist; weder in der Annexion der Krim noch in den jüngsten Manövern sieht er die Vorbereitung einer gewaltsamen Verschiebung der russischen Grenzen nach Westen. Die Verschlechterung des westlichen Verhältnisses zu Russland führt Dohnanyi auf die unbegrenzte Osterweiterung der Nato bis an die russische Türschwelle zurück. Da sie, wie er aus zahlreichen historischen Dar-stellungen referiert, entgegen den Zusicherungen an Gorbatschow erfolgt sei, habe sie die Beziehungen vergiftet und Moskau überdies in die Arme der Chinesen getrieben. Die Dämonisierung Putins, die Politik der Konfrontation, die Verhängung punktueller Sanktionen – das alles habe nichts erbracht. Es komme darauf an, Russland wieder dafür

zu gewinnen, sich für Europa zu engagieren. Nur im Dialog lasse sich erkennen, was der andere wolle.

 

Zum Umgang mit der aufsteigenden Weltmacht China hat Dohnanyi ebenfalls seine eigenen Vorstellungen. Es baue zwar seine Militärmacht auf, aber sein Interesse sei wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg, nicht militärische Expansion. Die Eingliederung der Inselwelt des Südchinesischen Meeres interpretiert der Autor eher als Ausdruck einer chinesi-schen Monroe-Doktrin; so wenig wie die USA in der Karibik wolle China in seiner unmittelbaren Nachbarschaft fremde Kräfte dulden. Pekings zielbewusste Einflusspolitik durch seine Seidenstraßeninitiative, die auch in Europa zu Friktionen führt, nimmt er indes nur am Rande wahr, einmal erwähnt er pauschal den "aggressiv-expansiven Ausbau von Handel und Logistik weltweit", und auch die prekäre wirtschaftliche Interdependenz zwischen China und dem Rest der Welt spielt in seinen Erwägungen bloß beiläufig eine Rolle. Vage spricht er von "möglicherweise vielen Jahrzehnten einer positiven Zusammenarbeit".

 

Der Weg der USA sei aussichtslos

 

Dies freilich – und das ist sein eigentliches Thema – wollten die USA verhindern, denn sie wollten erklärtermaßen die einzige Weltmacht bleiben und Europa in ihre Front gegen China eingliedern. Bidens Politik – "vielleicht etwas höflicher, aber nicht anders" – und besonders seine China-Doktrin seien erneut ein gefährlicher Fehler des Westens. Daran dürfe man sich nicht beteiligen. Der Weg der USA sei ohnehin aussichtslos. Auch die Nato hat nach Dohnanyis Meinung in Asien nichts zu suchen; in Europa müsse Entspannung mit Russland zum Grundsatz ihrer Politik werden.

 

Zum Thema Europa hat er gleichfalls eigenwillige Ansichten; man könnte sie gaullistisch nennen. Die Zielsetzung der neuen Bundesregierung, einen europäischen Bundesstaat zu schaffen, teilt er nicht. Statt eines zentralistischen Bundes-staates "Vereinigte Staaten von Europa" hält er eine "evolutionär fortschreitende Konföderation" für das pragmati-schere und lebensnähere Konzept – einen Staatenbund, dessen Fundament die souveränen Nationalstaaten bleiben. Die Vertretung nationaler Interessen in Europa sei nicht unbedingt gleichzusetzen mit Nationalismus; da zeigt er sogar ein Maß an Verständnis für Ungarn und Polen und macht der EU-Kommission mangelnden Respekt vor der Selbst-bestimmung der souveränen Mitgliedsstaaten zum Vorwurf. Er plädiert dafür, den Zusammenhalt im Großen nicht durch Brüsseler Rechthaberei, durch Gleichschaltung und Beschneidung der nationalen Handlungsfreiheit im Einzelnen zu gefährden.

 

Dohnanyi geht in seinem Buch auf eine Überfülle weiterer Probleme ein: Globalisierung, Klimawandel, Migration, Iden-tität, Wirtschaftsmacht, Sozialstaat, Geschichte und Gegenwart. "Finden die wirklich wichtigen Debatten überhaupt noch statt?", fragt er beim Blick auf die deutsche politische Szene. Er glaubt es nicht. Dies will er ändern.

 

Die Fragen, die er stellt, harren der Antwort. Sein Buch über unsere nationalen Interessen bietet jedenfalls viel Stoff zum Nachdenken, zu Einverständnis wie Gegenrede, zu fruchtbarem Streit also über viele notwendige Richtungsentschei-dungen. Die Debatte ist damit eröffnet.

 

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"Europa kann nur überleben wenn Deutschland und Frankreich es gemeinsam in die Hand nehmen".

 


 

Klaus von Dohnanyi hat ein richtungsweisendes Buch geschrieben, das interessierte und verständige Leser durch ein geschichtliches Verständnis für die deutsche Politik vor und nach der zwölfjährigen Schreckensherrschaft der National-sozialisten (1933-1945) bereichert.

 

Dieses Buch ist frei von den üblichen modischen Floskeln des seichten Zeitgeistes, denn ideologische Schlagwörter wie "Wertegemeinschaft" oder "wertebasierte Außenpolitik" oder gar "feministische Außenpolitik" haben in (s)einem ge-diegenen politischen Sachverstand keinen Platz. Das ist zu begrüßen, da sie nur handfeste Interessen verschleiern und irreführende Nebelkerzen anzünden.

 

Außerdem werden diese modischen Vokabeln seit dem brutalen Krieg in der Ukraine die nächsten Jahre nicht über-stehen. Auch daher handelt es sich um das politische Handbuch eines Visionärs für das kommende Zeitalter nach dem Sturz des russischen Diktators Wladimir Putin und seiner plutokratischen Oligarchenmafia, die das heutige Russland und das russische Volk schamlos ausbeuten, um sich selbst zu bereichern.

 

Nach Putin wird es dann hoffentlich auch in Russland kluge und mutige Politiker vom Schlage des christlich und patrio-tisch gesinnten Alexei Nawalny geben, die den vielfältigen Interessen des post-sowjetischen Vielvölkerstaates an der  Entstehung und Entwicklung einer echten Demokratie, eines unabhängigen Rechtstaates und einer sozialen Markt-wirtschaft dienen wollen. Das wird jedoch im schlimmsten Fall erst nach 2035 möglich werden, falls sich Putin noch so lange an der Macht halten kann.

 

Es kann sein, dass man Klaus von Dohnanyis Buch erst in einigen Jahren begreifen und wertschätzen wird. UWD