Was sind Naturgesetze?
Der Ausdruck “Naturgesetze” stammt aus den Naturwissenschaften der frühen Neuzeit (nova scientia) und hat in den Common Sense und das popularwissenschaftliche Weltbild der Moderne Eingang gefunden. Aber gewöhnlich wird dieser ursprünglich theologische Ausdruck nicht in der Öffentlichkeit reflektiert, obwohl er in der modernen Physik und Kosmologie immer noch eine wichtige Rolle spielt. Dennoch ist in den zeitgenössischen Philosophie der Naturwissen-schaften umstritten, was er eigentlich bedeutet, und ob und wie er eigentlich verstanden und gebraucht werden sollte.
In der zeitgenössischen Philosophie der Naturwissenschaften wird aufgrund des methodischen Atheismus gemeinhin davon ausgegangen, dass der Ausdruck “Naturgesetze” aufgrund seines theologischen Ursprunges nicht mehr wört-lich, sondern nur noch metaphorisch verstanden werden kann. Da die modernen Naturwissenschaften nicht mehr davon ausgehen, dass es einen personalen Schöpfergott gibt, der die Naturgesetze geschaffen und seiner Schöpfung auferlegt hat, so wie ein Monarch seinem Land Gesetze gibt, denen die Untertanen Folge zu leisten haben, ist die
Vorstellung, dass zum Beispiel die Planeten unseres Sonnensystems mit ihren elyptischen Bahnen um die Sonne gewissen Naturgesetzen “gehorchen” nur noch metaphorisch zu verstehen.
Es handelt sich um einen Übertragung aus dem praktischen Bereich der rechtlichen Gesetzgebung im Sinne von
normativen Vorschriften, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten oder zu handeln auf den theoretischen Bereich der physikalischen Feststellung von Verhaltensregularitäten bei der Beobachtung der Planeten unseres Sonnensystems. Da Planeten jedoch weder intelligente Lebewesen geschweige denn menschliche Personen mit einem praktischen Verständnis für das eigene Verhalten, Tun und Unterlassen und damit auch für Regeln und Gebote,
Verbote und Erlaubnisse sind, die für ihr Verhalten und Handeln gelten, scheidet ein wörtliches Verstehen aus und
wird die übertragene Bedeutung erklärungsbedürftig.
Falls man dennoch weiterhin von "Naturgesetzen" sprechen möchte, weil man durch den Verweis auf Naturgesetze
gewisse reguläre oder wiederholbare Ereignisse oder Prozesse in der Natur erklären möchte, dann muss man sich klar machen, was man damit meint. Denn auch zu einem nur noch metaphorisch verstandenen Begriff der Naturgesetze gehört immer noch, dass bestimmte Ereignisse oder Prozesse stattfinden, weil sie unter eine gesetzmäßige Regularität fallen, sodass sie unter gewissen Normalbedingungen notwendigerweise geschehen müssen und nicht nur zufällig stattfinden, da ein bestimmtes Naturgesetz im Sinne einer gesetzmäßigen Regularität gilt.
Es handelt sich also darum, dass Naturwissenschaftler gute Gründe haben zu glauben, dass es bestimmte allgemeine und strukturelle Bedingungungen in der irdischen und außerirdischen Natur gibt, denen zufolge sich die Dinge, wie z.B. Planeten oder andere materielle Festkörper, notwendigerweise so-und-so verhalten müssen und nicht nur zufälliger-weise so-und-so verhalten. Wenn man also glaubt, gewisse Naturgesetze entdeckt zu haben, dann glaubt man, be-stimmte allgemeine und strukturelle Bedingungungen in der irdischen und außerirdischen Natur gefunden zu haben, die solche Notwendigkeiten etablieren.
Wie und warum können Naturwissenschaftler jedoch wissen, ob sie wirklich und zuverlässig bestimmte allgemeine und strukturelle Bedingungungen in der irdischen und außerirdischen Natur gefunden haben, die solche Notwendigkeiten etablieren? Der einzige allgemein anerkannte Grund für eine berechtigte und zuverlässige Annahme, dass es sich um eine wissenschaftliche Entdeckung allgemeiner und struktureller Bedingungungen handelt, die dazu taugen, Ereignisse und Prozesse als notwendige und nicht nur zufällige zu erklären, ist die praktische Fähigkeit der Wissenschaftler, auf-grund ihrer Annahme unter ähnlichen Normalbedingungen zukünftige Ereignisse und Prozesse vorhersagen zu können.
Das Erklärungspotential allgemeiner und struktureller Bedingungungen von naturgesetzlicher Art beruht damit auf dem Vorhersagepotential der Annahmen oder Hypothesen, zukünftiger Ereignisse und Prozesse desselben Typs unter ähnlichen Normalbedingungen. Was Normalbedingungen sind, variiert dann jedoch und hängt von den jeweiligen Bereich ab. Während z.B. in der Ballistik bestimmte invariante Normalbedingungen künstlich für die physikalische Experimente hergestellt werden können, ist das in der Astrophysik nicht der Fall. Denn in der Astrophysik müssen Naturwissenschaftler bisweilen auf bestimmte natürliche Planetenkonstellationen im Sonnensystem warten, die als Normalbedingung gelten können.
Daher können wir sagen, dass sog. Naturgesetze allgemeine und strukturelle Bedingungungen in der irdischen und kosmischen Natur sind, die ein durch Vorhersagepotential abgesichertes Erklärungspotential haben. Obwohl diese Potentiale jedoch die Fähigkeit zu Vorhersagen und Erklärungen von Physikern betreffen, also kognitives Denken und Handeln von Naturwissenschaftlern, bestehen die allgemeinen und strukturellen Bedingungungen in der irdischen
und kosmischen Natur selbst und werden dort nur entdeckt oder vorgefunden.
Die von Naturwissenschaftlern entdeckten und nachgewiesenen allgemeinen und strukturellen Bedingungungen in
der irdischen und kosmischen Natur bestehen unabhängig von dem kognitiven Denken und Handeln von Natur-
wissenschaftlern. D.h. kontrafaktisch, es gäbe diese allgemeinen und strukturellen Bedingungungen in der irdischen und kosmischen Natur auch dann, wenn sie nicht von ihnen entdeckt und nachgewiesenen würden und es gab sie
auch schon, bevor sie entdeckt und nachgewiesen wurden.
Es besteht daher kein Grund zu der anti-realistischen, empiristischen oder skeptischen Annahme, dass es diese allge-meinen und strukturellen Bedingungungen gar nicht wirklich unabhängig vom menschlichen Denken und Handeln in der irdischen und kosmischen Natur gibt, sondern dass es sich nur um geschickte Erfindungen von Hypothesen oder Modellen handelt, mit denen moderne Naturwissenschaftler die ihre sinnlichen Eindrücke oder beobachtbaren Phä-nomene interpretieren und systematisch ordnen.
Aus der wissenspsychologischen und wissenssoziologischen Tatsache, dass Naturwissenschaftler zuerst Hypothesen oder Modelle erfinden, um dann erst deren Potential zur Erklärung und Vorhersage von Ereignissen und Prozessen in der irdischen und kosmischen Natur experimentell zu prüfen, folgt nicht, dass es die dabei angenommenen allgemei-nen und strukturellen Bedingungungen gar nicht wirklich unabhängig vom menschlichen Denken und Handeln gibt. Vielmehr beweist das Potential zur Erklärung und Vorhersage von Ereignissen und Prozessen in der irdischen und
kosmischen Natur, dass es sie auch wirklich und unabhängig vom menschlichen Denken und Handeln gibt.
Nicht das Denken und Handeln der Naturwissenschaftler als psychische und mentale Dispositionen, einschließlich ihrer jeweiligen Emotionen und Motivationen, Intuitionen und Vorstellungen, sondern nur die erfolgreichen Experimente
entscheiden über Sein und Nicht-Sein, also darüber, was es da draußen in der Natur wirklich gibt und was nicht.
Wissenschaftliche Experimente dienen nämlich Naturwissenschaftlern gerade dazu, ihre eigenen psychischen und mentalen Dispositionen auf die Probe zu stellen, um herauszufinden, ob und inwieweit sie mit der Wirklichkeit überein-stimmen. Daher ist diese Selbstkritik mit Hilfe der methodischen Skepsis die erste Tugend intelligenter und kompetenter Naturwissenschaftler.
Mit dem Problem eines angemessenen Verständnisses der Naturgesetze eng verbunden ist auch die Frage nach dem Anfang des raum-zeitlichen Universums, ob es von Gott geschaffen wurde, wie der biblische Schöpfungsmythos lehrt oder ob es ohne Vorbedingungen aus dem sog. Big-Bang hervorgegangen ist. Allerdings gibt es zwei Auffassungen darüber, ob die Naturgesetze als allgemeine und strukturelle Bedingungungen für alle kontingenten Ereignisse und Prozesse, Potentiale und Tendenzen in der irdischen und kosmischen Natur ewig bzw. zeitlos sind oder ob sie selbst einem zwar kaum von Menschen beobachtbaren, aber dennoch langsamen kosmischen Veränderungen in dem sich von Anfang an ausdehnenden Universum unterliegen. Denn wenn das singuläre Universum wie nach dem sog. Big-Bang-Modell einen absoluten Anfang hatte, dann müssen nicht nur die sich ausdehnende Raumzeit irgendwann entstanden sein, sodern auch die Grundkräfte und Naturgesetze in diesem Universum.
Die schöpfungstheologische Vorstellung von einem anthropomorph vorgestellten und gedachten intelligenten Gott,
der das ganze Universum wie ein göttlicher Baumeister sein Kunstwerk (aus dem Nichts) geschaffen hat, ist biblischen und theologischen Ursprunges und muss daher in der philosophischen Kosmologie bzw. Kosmophilosophie durch
einen absoluten Urgrund ersetzt werden, aus dem das sich in der Raum-Zeit entfaltende Universum hervorgegangen ist.
Die neuzeitliche kosmologische Frage, ob das Universum von Gott (aus dem Nichts) geschaffen wurde oder ob es mit dem sog. Big-Bang aus einem solchen absoluten Urgrund spontan aus einer kosmischen Singularität entstanden ist,
ist jedoch eine verstandesmäßige Entweder-Oder-Alternative, der ein Sowohl-als-Auch entgegengesetzt werden kann.
Denn das ganze naturgeschichtliche Universum könnte auch eine viele Milliarden Jahre währende Creatio Continua
(lat. „fortgesetzte Schöpfung“, von creare „erschaffen“ und continua „zusammenhängend, ununterbrochen“) sein,
sodass die ganze Schöpfung nach Augustinus ein fortdauernder, nicht abgeschlossener Prozess wäre und daher die irdische Natur jederzeit für tätige Eingriffe Gottes offen wäre, wie sie sich in kausal und naturwissenschaftlich nicht erklärbaren Wundern zeigen würden.
Die gegenteilige Auffassung der Creatio Unica, die sich ebenfalls auf Aussagen des Augustinus stützen kann, besagt, dass Gott mit der Welt zugleich auch die kosmische Zeit erschaffen habe, weswegen der Schöpfungsakt Gottes einmalig und abgeschlossen sei, weil Gott als der einzige Ewige, selbst außerhalb der kosmischen Zeit existiert, sodass der An-fang, die Dauer und das Ende des ganzen Universums für Gott gleichzeitig gegenwärtig sind. Aus der Sicht der Men-schen jedoch, die als endliche intelligente Lebewesen an die Raum-Zeit gebunden sind, entfaltet sich das ganze kosmi-sche Universum nach den anfangs entstandenen Grundkräften und Naturgesetzen.
Gottfried Wilhelm Leibniz gebrauchte für diese deistische Schöpfungslehre das Gleichnis vom «göttlichen Uhrmacher», nach dem das ganze Universum wie ein von Gott geschaffenes perfektes Uhrwerk selbsttätig funktionierte und pole-misierte daher gegen Isaac Newton, dass ihm zufolge Gott ein schlechter Uhrmacher sein müsste, wenn die Welt stän-dig wundersame Eingriffe Gottes nötig hätte, um regulär zu funktionieren. UWD - März 2022