Das politische Kernproblem der EU

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Flaggen vor dem EU-Parlament

© picture-alliance, imageBROKER


 

 

 

Das politische Kernproblem der EU

 

Rudolf Brandner

 

Selbst nach Euro-, Migrationskrise und Brexit scheinen es die politischen Eliten der EU nicht begriffen zu haben: Die institutionelle Konstruktion der EU erweist sich als geschichtlich kontraproduktiv für die Herausbildung einer politischen Gemeinschaft der Europäer.

 

 Indem sie die realgeschichtlichen Differenzen durch abstrakte Wertvorgaben & Gesetze aufzulösen sucht, stößt sie auf den Widerstand ihrer Bürger, die sich um das Selbstbestimmungsrecht ihrer bildungsgeschichtlichen Eigenart betrogen fühlen. Der Souveränitätsverlust wird als hegemoniale Fremdbestimmung erfahren und erzeugt eine Bewegung poli-tischer Opposition, die als «europafeindlicher Populismus» verfemt wird. Aber die geographische, geschichtliche und kulturelle Wirklichkeit Europas ist das eine; der Versuch, ihr eine einheitliche politische Gestaltung zu geben, das andere. Beides äquivok ineins zu werfen ist intellektuell unredlich und dient als Gebaren einer autokratischen Führungselite nur der moralischen Herabsetzung alternativer Politikkonzepte, die Europa nicht als supranationalen Einheitsstaat («Verei-nigte Staaten von Europa») denken.

 

Denn ein solcher widerspricht dem geschichtlich ausgebildeten Freiheitsbewußtsein politischer Selbstbestimmung,

das die unveräußerliche Souveränität europäischer Nationalstaaten gegen jede hegemoniale Fremdherrschaft definiert. Die Veräußerung der Souveränität an eine supranationale EU-Ebene erfolgt so immer nur freiwillig und bedingungs-weise zum Wohl der eigenen Gemeinschaft und wird jederzeit aufgekündigt, sobald diese Bedingung nicht mehr erfüllt ist oder im Wechsel der Regierungen politisch inopportun erscheint. Die Labilität eines solchen politischen Konstrukts ist offenkundig. Die Vereinigung souveräner Nationalstaaten zu einer politischen Gemeinschaft kann nicht durch die Preisgabe jener Souveränität erfolgen, die der Vereinigung selbst zugrunde liegt, ohne die Freiheitsgrundlagen der Gemeinschaft selbst zu zerstören – also in Zwangsherrschaft zu enden.

 

Ganz in diesem Sinne wird die «Irreversibilität» des europäischen Eingungsprozesses beschworen und notfalls mit der juristischen und ökonomischen Peitsche bekräftigt. Aber keine politische Konstruktion ist geschichtlich «irreversibel», und schon gar nicht, wenn ihre Konstrukteure selbst als souveräne Staatssubjekte agieren. Der untilgbare Souverä-nitätsvorbehalt bezeichnet die innerste Aporetik der EU und erhält durch die tiefgreifenden sozioökonomischen, politischen und kulturgeschichtlichen Disproportionen europäischer Völker ein umso stärkeres Gewicht, als diese die realgeschichtlichen Grundlagen bilden, die noch weitgehend in den geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und ihren Ressentiments zentriert bleiben. Indem es kein «europäisches Volk» gibt, fehlt der EU das realgeschichtlich lebendige, ethische Subjekt, das ihre Politik tragen könnte. Eine Politik ohne ethisches Subjekt aber ist keine, in der es seine gegenständliche Objektivierung zu einer lebendigen Rechtsgemeinschaft erzeugen könnte, um daran das Selbstbewußtsein ihrer Freiheit zu haben. Ihr bleibt dann nur, als äußerliche Metainstanz die Gleichschaltung von Verhältnissen zu verfügen, die auf den Widerstand ungleicher Subjekte stoßen.

 

Wenn dagegen nun behauptet wird, ein «Volk» sei ohnehin nur ein «Konstrukt», und dies herzustellen, sei eben Aufgabe der EU-Politik, dann ist dies zwiefach verfehlt: Denn erstens ist «Volk» ein vor-politischer Begriff, der jeder politischen Vereinigung zum «Staatsvolk» schon als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrundeliegt. «Völker» sind primär sprachlich-kulturell geeinte Gemeinschaften, die aus ihrer Jahrhunderte wenn nicht gar Jahrtausende übergeifenden Erfahrungs- qua Bildungsgeschichte als ethische Subjekte hervorgehen, aber nicht notwendig auch eine politische Gemeinschaft bilden. Beispiele bieten in der Antike Griechenland, in der Neuzeit Italiener und Deutsche. Zweitens sind geschichtliche Bildungsprozesse keine «technokratischen» des «Konstruierens», die äußerlich verfügt werden könnten. Nur hege-moniale Machtpolitik weist Züge des «Konstruierens» auf, indem sie auf Unterwerfung und Vereinnahmung beruht. Indem die Basiseinheiten des EU-Konstrukts die neuzeitlich konstituierten Nationalstaaten sind, die als gleichberechtigte souveräne «Kon-strukteure» ihre politische Vereinigung anstreben, kommt es notwendig zu Spannungen im Verständ-nis von «Souveränität», die den eigentlichen Brennpunkt der innereuropäischen Gegensätze ausmacht. Worum geht es?

 

Ein geschichtlicher Rückblick mag hilfreich sein. Schon innerhalb der indo-europäischen Völker lassen zwei politische Leitparadigmen ausmachen: Es gibt solche sprachlich-kulturelle Gemeinschaften, die ganz offenkundig partikularistisch und regional orientiert all umfassenden Staatsbildungen von sich weisen: Das antike Indien, das antike Griechenland – aber auch gerade die germanischen Verhältnisse sind dafür aufschlußreich. Man kann sich gegen einen gemeinsamen Feind einen – die Griechen gegen die Perser, die Germanen gegen die Römer; aber man strebt ganz bewußt keine alle sprachlich-kulturell Verwandten vereinigende Staatsbildung an. Im Gegensatz dazu gibt es andere sprachlich-kulturelle Gemeinschaften, die eine starke zentralistische Vereinigung zu einem umfassenden Staatsgebilde verfolgen und dabei auch als Hegemonialmächte der Unterwerfung anderer Völker auftreten. In der Antike Persien und Rom, in der Neuzeit Frankreich. Der regional-partikularistische Zug, den etwa noch der Bürger (citoyen) des Stadtstaats Genf (Rousseau) in seiner politischen Theorie vertritt, kennzeichnet in der Neuzeit vorwiegend Deutsche, aber auch Italiener; dagegen steht der schon im Absolutismus fundierte und dann auch während der französischen Revolution von den Jakobiner und ihrem Erbe: Napoleon – fortgeführte dirigistisch-zentralistische Zug von Frankreich, auch Spanien. Zwischen beiden Polen wechselhaft oszillierend – die Briten.

 

Projiziieren wir den Gegensatz dieser politischen Leitparadigmen auf die EU-Politik, dann läßt sich auch kurz von einem französisch-zentralistischen und einem deutsch-föderalistischen Ansatz sprechen; und eben dies ist auch der Gegensatz, der seit Jahren und nunmehr verstärkt durch sogenannte «Populisten» (und was man ihnen sonst noch für Schimpf-wörter hinterher geworfen hat: «Nationalisten», «Anti-Europäer», «Anti-Demokraten» etc.) ausgetragen wird, Versach-lichen wir diese Polemik und sprechen lieber von «Zentralisten» und «Föderalisten»: Infrage steht, ob die national-staatliche Souveränität im ganzen an einen supranationalen Zentralstaat übereignet oder im Verzicht auf eine solche Staatsbildung im föderalen Konsens eines Staatenbundes ausgeübt wird.

 

Vieles spricht dafür, daß der bisherige zentralistische Zug nun durch einen föderalistischen Gegenzug ausbalanciert wird. Ein Drama ist das nicht, auch keine Schicksalswahl, sondern der unumgängliche Weg geschichtlicher Prozesse, erst im Hindurchgang durch die Gegensätze einen stabilen Ausgleich zu finden, der die Gemeinschaft im ganzen befriedet. Umso wichtiger wird deshalb auch ein neuer sprachlicher Umgang mit dem politischen Gegner, der ihn nicht mehr mit moralischen Schimpfworten aus dem politischen Diskurs ausschließt, sondern in einen sachlichen Streit um das allgemeine Gute einbindet. Es könnte zur Sache einer neuen Diskurskultur werden, auf alle nazi-assoziativen Begriffe von «Rechten» zu verzichten und den politischen Streit als Gegensatz von «Zentralisten» und «Föderalisten» (oder «Souveränisten») auszutragen, um Alternativen einer politischen Verfassung Europas auszuloten.

 

Prof. Dr. Rudolf Brandner, Philosoph, Jg. 1955. Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris-Sorbonne und Heidelberg. Zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien.

 


 

Die EU könnte sich verrechnet haben

 

Gastbeitrag von Ronald G. Asch in CICERO ONLINE am 26. Dezember 2019

 

Gerade wir Deutschen werden den Brexit Großbritanniens bedauern. Dabei sollten wir vor allem die EU und

ihre politischen Entscheider bedauern. Denn sie scheinen noch immer nichts aus der Misere gelernt zu haben.

Sie halten fest an der Zentralisierung Europas.

 

Scheidungen sind selten erfreulich. So war auch der Prozess der Trennung Großbritanniens von der EU von Anfang an kein sehr erbauliches Spektakel. Immerhin, die jüngste britische Unterhauswahl hat zumindest Klarheit geschaffen. Auch jetzt noch mag man in Westminster den Preis, den man am Ende für die Wiederherstellung der nationalen Souveränität wird zahlen müssen, unterschätzen, aber Illusionen gibt es auch aufseiten der EU.

 

Allzu lange hat man sich mit der Erklärung beruhigt, wenn ein Mitgliedsland wie Großbritannien die EU verlasse, könne es nicht mit rechten Dingen zugehen. Man redete sich ein, nur deshalb, weil üble Demagogen den naiven Wählern ihre Lügenmärchen aufgebunden hätten, habe sich 2016 eine Mehrheit entschieden, der EU den Rücken zu kehren. Sicher-lich, die Mehrheit für den Austritt war denkbar knapp. Hätte die Abstimmung nicht auf dem Höhepunkt der Flüchtlings-krise stattgefunden, hätte sie sehr wohl anders ausgehen können. Auch seinen jüngsten Wahlerfolg verdankte der Premierminister Boris Johnson ganz wesentlich dem Umstand, dass das Lager der Brexit-Gegner gespalten war. Über-dies dürften nicht wenige Remainers für Johnson gestimmt haben, weil ihnen die Aussicht auf eine Regierung Corbyn mit ihrem sozialistischen Programm allzu bedrohlich erschien.

 

Einigungsprozess war nie so konsensfähig

 

Den Wahlerfolg Johnsons freilich mit der Machtergreifung Hitlers zu vergleichen, wie es die famose Ulrike Guérot tat, zeigt nur die Maßlosigkeit der fanatischen Gegner jeder nationalstaatlichen Ordnung. In Wirklichkeit war der euro-päische Einigungsprozess in dem Maße, wie er über wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausführte, in Großbritannien nie konsensfähig. Schon Anfang der 1960er Jahre, als das Vereinigte Königreich den ersten Antrag auf Aufnahme in die EWG stellte – den de Gaulle abwehrte –, äußerte der damalige Führer der Labour Party, Hugh Gaitskell, massive Bedenken. Eine tausendjährige nationale Geschichte könne man nicht einfach auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen, so formulierte er es in einer berühmten Rede auf dem Parteitag der Labour Party 1962. Wenn man es doch tue, reiche kein einfacher Parlamentsbeschluss. Das Wahlvolk müsse direkt entscheiden.

 

So neu ist der Gedanke, das Volk direkt zu befragen, also nicht. Nun könnte man argumentieren, dass die politische Lage 1962, kurz nach der Auflösung des britischen Empire, eine ganz andere war als im 21. Jahrhundert. Dabei vergisst man jedoch, dass das englische Parlament schon 2011 ein Gesetz verabschiedet hatte, das den weiteren Verlust von Kompe-tenzen an die EU eindämmen sollte. Weitere wesentliche Kompetenzverschiebungen sollte es nur nach einem Referen-dum geben. Jeder weitere Machtzuwachs für die EU sollte an die ausdrückliche Genehmigung des Parlamentes ge-bunden sein. Experten indes hatten schon damals gesagt, dass dieses Gesetz nur eine rhetorische Bedeutung haben werde. Niemand könne den EuGH daran hindern, stillschweigend nationales durch europäisches Recht zu ersetzen. Dieser stille „competence creep“ ist auch in Deutschland schon gelegentlich vom Bundesverfassungsgericht und von führenden Juristen wie Dieter Grimm als fundamentales Problem identifiziert worden.

 

Die EU hat nichts gelernt

 

In England wurde dieser Prozess von jeher als besonders problematisch angesehen, weil dem englischen Verfassungs-recht traditionell die Beaufsichtigung des Parlamentes durch Gerichte fremd ist. Das Parlament war bis zum Beitritt zur EU eigentlich vollständig souverän. Kontrolliert wurde es nur durch den Wähler. Das hat sich im Laufe der letzten 40 Jahre geändert. Auch und gerade wegen der Mitgliedschaft in der EU können nun Gerichte, insbesondere der EuGH, Parlamentsgesetze aufheben. Ob man diese Europäisierung der britischen Verfassung nach dem Austritt der EU einfach zurückdrehen kann, bleibt zweifelhaft.

 

Dennoch: Die EU hat das Ihre dazu getan, in Großbritannien bei vielen EU-Skeptikern den Eindruck zu erwecken, dass man jetzt drastische Maßnahmen ergreifen müsse, um zu vermeiden, dass aus dem ältesten Parlament Europas eines Tages ein bloßer Landtag in einem imperialen Bundestaates wird. Es gibt vieles, was man am Brexit namentlich als Deutscher bedauern wird. Mit zum Schlimmsten gehört aber die völlige Unfähigkeit der EU und ihrer politischen Eliten, aus dem Austritt Großbritanniens etwas zu lernen. Solange man daran festhält, dass die Antwort auf jedes Problem in Europa immer nur „Mehr Europa“ ist, steuert die EU auf weitere Krisen zu. Es würde in den USA niemand auf die Idee verfallen, die Lösung für alle Probleme des Landes bestünde darin, den Bundesstaaten immer weitere Kompetenzen zu entziehen.

 

Die EU als dysfunktionaler Bundesstaat

 

In Brüssel und Luxemburg herrscht vor allem im Parlament und beim Europäischen Gerichtshof, zum Teil aber auch in der Kommission, eine Philosophie vor, für die Zentralisierung und Homogenisierung Selbstzweck sind. Dass es da zu Revolten kommt, darüber sollte man sich nicht wundern, wobei für viele Länder die Sabotage von Innen aussichts-reicher ist als ein Austritt. Dazu muss man nur auf Polen, Ungarn und Italien blicken, wo sich diese Vorgehensweise als durchaus erfolgreich erwiesen hat.

 

So bedauerlich der Austritt Großbritanniens aus der EU auch ist, kann das Land auf Dauer vielleicht doch zu einem Gegenmodell zu einer Gemeinschaft werden, die den Sinn für das rechte Maß zunehmend verliert. Ist Großbritannien außerhalb der EU halbwegs erfolgreich, wäre man in Brüssel vielleicht eines Tages genötigt, darüber nachzudenken, ob nicht ein funktionsfähiger Bund von Nationalstaaten besser ist als ein dysfunktionaler Bundesstaat, wie er sich jetzt als Endpunkt der Entwicklung der EU deutlich am Horizont abzeichnet.

 

https://www.cicero.de/aussenpolitik/brexit-eu-grossbritannien