„Blut ist ein ganz besondrer Saft“, sagt Mephistopheles. Und Johann Faust entgegnet ihm: „Nur keine Furcht, daß ich dies Bündnis breche!“ Das sei auch gar nicht nötig, behauptet der Philosoph Karl Heinz Haag in seinen nachgelassenen Notizen. Denn die Gegenleistung Mephistos, das weiß Faust, wird den blutigen Vertrag ohnehin ungültig machen.
Die Struktur des Teufelspaktes in Goethes Faust
Karl Heinz Haag
Wette
Fausts Bedingung für seine Wette mit Mephisto ist seine Befreiung aus der Hölle, aus der Bedeutungs- und Sinnlosigkeit der bürgerlichen Welt, in der er sich befindet. Diese Bedingung muss Mephisto erfüllen, wenn er Fausts Seele, den Preis der Wette, haben will. Mephisto erhält die Seele Fausts dann, wenn er Faust aus seinem eigenen Machtbereich heraus-führt. Gelänge das aber, würde in jener anderen Welt der Anspruch Mephistos verfallen.
Diesen Widerspruch erkennt Mephisto nicht.
Aber Faust weiß, dass er das „Verweile doch“ erst dann ausspricht, wenn ihn Mephisto aus der Hölle heraus in jene andere Welt geführt hat. Dann befindet sich Faust nicht mehr in dessen Machtbereich. Der Augenblick ist dann kein Augenblick dieser Welt mehr, sondern bereits Augenblick des Jenseits, d. h. ein Ein-für-alle-Mal. Dieses Jenseits ist nicht transzendent. Es ist eine Welt, die nicht vom Zeitvertreib und sinnlosem Konsum beherrscht wird, sondern in der das Verweilen sich lohnt.
Die Verführungskraft Mephistos wird jedoch essentiell nicht ausreichen, ihm die erhoffte Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, zu bringen. Damit kann Mephisto nicht den höchsten Augenblick der Glückseligkeit bescheren: Erkenntnis (Anschauung) Gottes und Auferstehung in Ewigkeit (ewige geistige und sinnliche Erfüllung). Könnte Mephisto die Welt des Nihilismus wirklich negieren, schüfe er damit eine Welt, in der die Dinge ein göttliches Wesen besäßen. Faust ist sicher, dass er das nicht kann: „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt“ (468).
Die Vorstellung von Gott verdankt Faust der abendländischen Tradition mit allen Prädikaten, die Gott zugefügt werden. Diese Vorstellungswelt beherrscht Faust, macht sein Gottesbild aus, das im Innersten der Dinge gegenwärtig ist („Gott, der mir im Busen wohnt“), wovon er nicht abstrahieren kann. Aber dieser Gott in seinem Innern kann „nach außen nichts bewegen“, kann die Welt, die Faust sinnlos erscheint, nicht verändern.
Um zu gewinnen, muss Mephisto Faust aus seinem Machtbereich herausführen. Damit aber gibt er die Seele Fausts preis. Dieser Widerspruch ist eine Konstruktion der Diplomatie Goethes: Das Scheitern Mephistos ist vorgegeben und Faust kann deshalb ganz sicher sein, die Wette zu gewinnen.
Im Anfang bereits – im Teufelspakt selbst – sind Fortgang und Ende der Tragödie vorweggenommen.
Die Wette entsteht, weil sie vergleichsweise vernünftiger ist als Selbstmord. Der Selbstmord ist die abstrakte Negation des eigenen Ichs. Durch das Experimentieren mit dem Teufel entsteht ein neuer Horizont. Die Suche Fausts nach einem Sinn des Lebens in dieser Welt könnte zu neuen Erkenntnissen führen. Ausgeschlossen dabei ist jedoch, dass dadurch ein Weg gefunden würde, in eine absolut andere Welt zu gelangen.
Mephistos Welt ist nur die Welt des Kapitals: die Welt reinen Konsums. In einer solchen Welt wird für den Konsum produziert und konsumiert für weitere Produktion. Etwas Anderes gibt es nicht. Die Produktion für die Konsumtion bedarf der Natur: Die entia naturalia werden umgewandelt, bearbeitet in konsumierbare Dinge. Die Konsumtion ist Leitmotiv für diesen unaufhörlichen Prozess, von ihr hängt die Produktion ab.
Mephisto ist „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft … der Geist, der stets verneint“ (172). Damit führt Goethe die Dialektik Hegels ein: In dem Prozess der fortwährenden Verneinung entsteht das Werden des absoluten Begriffs, der – ist er am Ende gereinigt zu reinem Geist übergegangen – wieder zu reiner Natur um-schlägt. Damit setzt sich der Prozess des Werdens von neuem in Gang.
Gewinn entsteht also auf Kosten von Destruktion. Neben dieser Welt der Begriffe existiert keine andere, transzendente mehr: Göttliches Sein geht auf im Begriff von ihm.
Die Frage ist, ob sich Goethe als Dichter an dieses dialektische Schema hält: Wie kann durch Negation der Destruktion das Gute entstehen? Die Selbstdefinition Mephistos „Ich bin ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ steht in Widerspruch zum Ziel der Wette: Faust von seinem ontologisch gegebenen Drang des rechten Weges abzuziehen in die Welt der sinnlosen Zerstreuung.
Thema, auf dem die Tragödie aufbaut ist: Wie kommt man aus der Welt der Hölle heraus? Das Schlechte kann bezeich-net werden, das Gute nicht. Was ist zu tun? Die Wette ist das vergleichsweise Bessere. Fausts Seele wird verpfändet unter der Bedingung, dass Mephisto herausführt aus der Welt des Uhrzeigers, der bürgerlichen Welt, aus der endlosen Wiederkehr des ewig Gleichen, dem unablässigen Wechsel aus Konsumtion und Produktion. Mephisto kann nur trium-phieren und die Seele Fausts gewinnen, wenn er Faust in eine Welt führt, in der die Zeit erfüllt ist und keine Konsumtion und Produktion mehr herrschen.
Wie überwinden wir die Sinnlosigkeit der Welt? Diese Frage steht im Mittelpunkt des Dramas. Aber positiv kann Goethe das nicht sagen. Faust wird auch nach der Wette das geboten, was er schon kennt, die Hölle nämlich. Es bleibt beim sinnlosen Genuss (Gretchen). Zwar spürt Faust noch die Moralvorstellung der Tradition, doch es dominiert die Sucht nach Betrug durch Lust: „Kannst du mich mit Genuss betrügen“ (181). Das zieht sich durch den ganzen ersten Teil und wird auch im zweiten Teil durch die Diskussion der Macht (Hof) usw. im Wesentlichen nicht geändert. Selbst als Helena ihm zur Seite ist, bleibt das „Verweile doch“ aus. Auch im rein pragmatischen Tun der Landgewinnung des alten Faust gelingt die theoretische Überwindung des Nihilismus nicht. Dieser Pragmatismus ist die Lösung, die Goethe anbietet. Einzig aus diesem Tun wird die Berechtigung abgeleitet, Faust unter die Unsterblichen aufzunehmen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ (482) Ähnlich der biblischen Darstellung wie Jesus von Maria wird
Faust von „Una Poenitentium, sonst Gretchen genannt“ (486) im Himmel empfangen. Mephistos Verlust der Seele wird läppisch dargestellt. Vorsichtig lässt Goethe offen, was „Faustens Unsterbliches“ (482) ist: die Seele?, das Streben?, die Werke?
Von der Philosophie müsste der Begriff des Unsterblichen klar entfaltet werden, aber positiv ist ihr das nicht gelungen. Die gesamte abendländische Philosophie steht in der Nachfolge Platons, der die Spaltung in göttlichen Geist (Form)
und unbedeutende Materie (Körper) gegen die antiken Materialisten begründete. Dieser Gedanke erstand in Origines (3. Jh.) wieder auf: Nur die Seele, die vom Körper abgetrennt wird, hat ein Recht auf ewige Existenz. Diese Tradition wird z. B. bei den Katharern durch absolute Verdammung alles Körperlichen fortgesetzt: Sie glaubten dem Ursprung ihrer dualistischen Religion in Persien gemäß, „dass die Erde die Schöpfung eines ruchlosen Demiurgen (Satan) war und
dass die Materie an sich böse ist“ … und verurteilten „die Liebe, selbst die reinste, weil sie die Seele an die Materie band“ (Octavio Paz, Die doppelte Flamme, Frankfurt 1993, 104, 105).
Gleichzeitig und in schärfstem Gegensatz dazu existiert die poetische Fiktion der cortesia, die höfische Liebe, die im Minnesang ihren Ausdruck findet: die Liebe zu einer Frau als Initiation (aaO 106). Thomas von Aquin dagegen zieht den Schluss, dass die Seele des Menschen für sich genommen weniger ist als das Kompositum von Seele und Körper. Zur ewigen Glückseligkeit muss beides: die klare Erkenntnis des Göttlichen und des Selbst mit seiner sinnlichen Befriedi-gung gehören.
Der Daoismus kennt in seiner Auffassung von der Natur die abendländische (dazu gehört auch Amerika) Degradierung des Körperlichen zu etwas Seelenlosem, zu absolut Verfüg- und Ausbeutbarem nicht. Bei ihm sind weder der Geist noch die Materie zu reinen Begriffen (Nominalismus) herabgesunken, die auch den Menschen selbst zu einem reinen Nichts entwerteten.
Die Philosophie bei der Arbeit
Das langerwartete neue Buch von Karl Heinz Haag ist erschienen
Fabian Kettner
Karl Heinz Haag hat nie viel geschrieben. Dies gilt sowohl für die Anzahl seiner Veröffentlichungen wie für deren Seitenumfang. 1924 geboren, studierte er an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen vor allem scholastische Philosophie, promovierte 1951 aber bei Max Horkheimer mit einer Arbeit über "Die Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie". Adorno widmete ihm seine "Drei Studien zu Hegel". Haag habilitierte in Frankfurt
am Main 1956 mit einer sehr guten Heidegger-Kritik, die 1960 unter dem Titel "Zur Kritik der neueren Ontologie" (95 Seiten) erschien. 1967 folgte der Hegel-Kommentar "Philosophischer Idealismus" (67 Seiten), 1971 der schmale Traktat "Zur Dialektik von Glauben und Wissen" (14 Seiten). Dann blieb es lange still. 1983 legte er mit "Der Fortschritt in der Philosophie" einen gewaltigen Abriss von über 2000 Jahren Philosophiegeschichte vor, bis aufs Äußerste verdichtet, auf 203 Seiten.
Hier führte Haag sein enormes Talent vor, ungeheuer komprimiert, dicht und kondensiert zu schreiben, ohne unver-ständlich zu werden. Stets stellt er dem Leser alles vor, was dieser wissen muss, um das Buch verstehen zu können.
Er bringt das Kunststück fertig, dass er den Leser instand setzt, ihm folgen zu können; er stellt die komplette Ausrüstung zur Verfügung, die der man braucht, um mit ihm auf Reise gehen zu können. Vorkenntnisse sind natürlich immer praktisch, werden aber (fast) nicht benötigt. Wer welche hat, dem werden sie durch die Lektüre in anderem Licht erscheinen, wenn er nicht sogar etwas dazulernen kann.
Er gibt nicht bloß eine Darstellung philosophischer Systeme, nicht nur eine Nacherzählung dessen, was an ihnen (un-) verständlich ist, sondern er ermöglicht, was sonst kaum einer schafft: den denkenden Nachvollzug mehrerer Jahr-hunderte Philosophie. Nicht nur damit ist er ein Glücksfall unter publizierenden Philosophen und untypisch für die
Zunft: Er ist auch deswegen so gut verstehbar, weil seine Darstellung eine kritische ist.
Stets sind seine Texte beeindruckend stringent: Ein Gedankengang wird in einem gewaltigen Lauf durch die Jahr-hunderte der Philosophiegeschichte entwickelt. Ohne Abschweifung und Umweg spricht Haag durch die Kritik
philosophischer Lehren und Systeme über das, was ihm Gegenstand ist. Dabei gelingt ihm das schier Unmögliche,
in höchstmöglicher räumlicher Beschränkung und Knappheit einen großen gedanklichen Reichtum zu entfalten.
Wie fein gedrechselt und komponiert seine Bücher sind, das kann man nun wieder nachvollziehen.
Wie alle anderen seiner Bücher war auch "Der Fortschritt in der Philosophie" längst vergriffen, auch antiquarisch nur schwer erhältlich. Ein neuer und kleiner Verlag hat dieses Buch jetzt nicht nur neu aufgelegt, sondern gleich das neue herausgebracht. Das neue, "Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung", überschneidet sich mit dem alten.
Haag gibt dies zu und entschuldigt sich berechtigterweise mit dem Hinweis, dass das neue Buch für sich sonst nicht
zu verstehen gewesen wäre.
Haags Thema war und ist in all den Jahren die Bemühungen der Philosophie, die Welt zu erfassen. Seit der Antike be-obachtet er das Gleiche. Bereits die Kritik des Mythos durch Platon führte zu einer "Vergeistigung" der Welt. Seitdem wird Natur rücksichtslos unter Begriffliches, Geistiges, wird das Besondere unter das Allgemeine subsummiert, seitdem nimmt Philosophie immer wieder eine folgenreiche Verkehrung vor: Wird das den Dingen Gemeinsame zu ihrem kon-stitutiven Wesen erklärt, werden die Dinge zu "Abbildern ihrer eigenen Imitation" gemacht. Das Geistige, seien es Ideen, Kategorien oder Begriffe, gilt als Erstes, aus dem alles andere abgeleitet wird. Die Materie sank dem gegenüber zur gestaltlosen Stofflichkeit herab. Haag konstatiert eine Radikalisierung dieses Verfahrens über Aristoteles und den Neu-platonismus bis hin zu Hegel: allesamt Variationen des immerselben Fehlers, des großen Pseudos der Philosophie.
Aus dem Nichts soll alles kommen, so fasst Haag die "paradoxe Logik", "das mystische Konstitutum idealistischer Weltsysteme" zusammen.
Die Widersprüche, in die die Philosophie sich damit begab, brachen im Universalienstreit des Mittelalters auf. Indem
die mittelalterliche Philosophie die Mängel und Erklärungsnotstände der Metaphysik auffangen, indem sie sie also retten wollte, zersetzte sie sie nur weiter. Von der in den Universalien gefassten göttlichen Ordnung des Kosmos blieb nur die begriffliche Ordnung, die mit der Welt an sich nichts zu tun habe, die vielmehr nur auf die abstrahierenden Leistungen des Erkenntnissubjekts zurückzuführen sei. Der Nominalismus, "die erste und grundlegende Weltauf-fassung der beginnenden Neuzeit", verflüchtigte das, was bislang als das Allerrealste galt, die Universalien, zu bloßem Schall und setzte an ihre Stelle das Einzelding.
Dieser alte Streit, der im Laufe der Jahrhunderte im Bündnis mit den sich von Theologie und Philosophie emanzipieren-den Naturwissenschaften die Metaphysik immer mehr zurückdrängte, rumort immer noch. Haag zeichnet nach, wie in den folgenden Jahrhunderten die Philosophie dem Nominalismus willfahrte, auch wo sie ihm in der Konstruktion eines "absoluten Geistes" entgegensteuern wollte, und im (Neo-)Positivismus (ver-)endete, der die Philosophie schließlich abschafft.
Um dies geht es seit jeher in Haags Schriften. Die Probleme solcher Philosophie sind altbekannt: Chorismos und Methexis. Zum einen klafft zwischen allgemeinen Ideen und Einzeldingen ein Abgrund. Wie hat das Besondere am Allgemeinen teil? Wie kann es das? Wie individuiert sich das Allgemeine? Wie kann es dies? Und wieso sollte es dies überhaupt? Zum anderen ist in den statischen Weltsystemen keine Veränderung denkbar, Fortschritt nicht begrifflich fassbar. Im Buch über den "Fortschritt in der Philosophie" gab Haag zwei positive Bezugspunkte an, wo Philosophie sich sich selbst widersetzte, bei der "negativen Ontologie" (Alfred Schmidt) Immanuel Kants und Karl Marx' (und ihrer Art Synthese,
der Philosophie Theodor W. Adornos): man kann sagen, dass es ontisch Gegebenes gibt, aber über es selbst können
wir positiv nichts aussagen, da wir immer nur ihre Erscheinung (Kant), respektive ihre gesellschaftlich vermittelte Form (Marx) kennen. Diese beiden Ansätze baut er im neuen Buch aus, indem er die Kritik an Philosophie auf die an Natur-wissenschaft und Theologie ausweitet.
Auch in der Theologie, sei's in der protestantischen (Haag bezieht sich auf Bultmann, Tillich, Barth), sei's in der katho-lischen (Rahner, Küng, Metz, Ratzinger) muss man beobachten, wie Nominalismus und Naturwissenschaft gewillfahrt und gleichzeitig ausgewichen wird. Die Theologie räumte das Feld der empirischen Welt; ein radikal entmythologisierter und entsubstanzialisierter Gott wurde in ein sicheres, aber eben auch unerreichbares Jenseits verschoben. Stattdessen versteift man sich auf den Akt des Glaubens. In einer gründlich positivierten Welt erkennt man die Resultate der Naturwissenschaften zwar an, hält ihnen aber ein trotziges "Dennoch" entgegen. Warum man dies sollte, kann Theologie nicht mehr angeben, weil sie einen objektiv gegebenen Gott längst aufgab. Glauben wird zu einem irrationalen Akt, wo dem Gläubigen kein Gott mehr gegenübertritt. Die Existenz von Religion und Gott wird auf die Entscheidung und Leistung des Gläubigen reduziert und ist damit "selber noch ein Stück unerkannter Mythologie.
Zum Götzen gemacht wird in ihm menschliche Subjektivtät."
Nach Haag aber könne exakte Naturerklärung rationale Naturerklärung werden, wenn sie sich ihrem Gegenteil zu-wendet: der Metaphysik. Mit der Naturwissenschaft treibt man auf Konsequenzen zu, die ihrem eigenen Anspruch am stärksten zuwiderlaufen. Bei ihr kommt man einer rationalen Metaphysik am nächsten. Hier kann man sehen, wie eine Disziplin, die keine Philosophie sein will, "auf ein philosophisches Denken aufgespannt" ist, ohne dies zu wissen.
Haag bemüht sich um eine Philosophie jenseits von Nominalismus und Universalismus/Realismus wie Materialismus und Idealismus. Ihnen muss er entkommen, wenn der Nominalismus nur die Konsequenz aus den Fehlern der Meta-physik zog. Er ist die Gegenposition zur Metaphysik, die mit deren Prinzip ernst macht: der Reduktion von Welt auf abstrahierende Bestimmungen.
Haags Verhalten zur Metaphysik ist auch kritisch, aber es geht ihm nicht nur um die "Negation des Falschen an ihnen." Ihr Wahres müsse inmitten ihres Unwahren erkannt werden, "zur Rettung der richtigen Intention." Wie aber gelangt man nun von den Naturwissenschaften zu einer rationalen Metaphysik, wie kann die Grenze physikalischer Erkenntnis "legitim" überschritten werden? Die rational aufgebaute Natur, die die Naturwissenschaft beweist und voraussetzt,
weise auf das "Walten einer 'allmächtigen Vernunft'" hin. So gelangt Haag "in logischer Strenge" zu Gott. Über diese allmächtige Vernunft könne inhaltlich nichts gesagt werden. Dies ist Haags "negative Theologie" respektive "negative Metaphysik": Man muss einen Gott annehmen, man muss von einer Metaphysik ausgehen, aber über diese kann man positiv keine Aussagen treffen. Man kann "lediglich zeigen, daß die Annahme einer allmächtigen Vernunft unerläßlich
ist für eine rationale Weltauffassung. [...] Kritisch denkend muß menschlicher Geist auf inhaltliche Aussagen über das Sein und Wirken der Gottheit prinzipiell verzichten."
Das Ziel von Haags Bemühungen mag verblüffen. Eine kritische Philosophie ist sowohl den auf Gott aufbauenden philosophischen Systemen wie der Theologie gegenüber der bessere Theologe. Indem sie Gott rettet, tritt sie für die Menschen und ihre Welt ein. Die Theologie enttäuscht auch noch den, der Glauben und Wissen zwar ablegte, aber meinte, in ihr - vom Inhalt abgesehen - wenigstens noch ein Residuum zu finden, wo man an absoluter Wahrheit festhält. Aber dazu ist sie auch noch irrational; nicht weil sie an Übersinnliches glaubt, sondern weil sie die Vernünftig-keit dieses Glaubens nicht zu begründen vermag. Ihren Gott hat sie verflüchtigt wie die Systeme pantheistischer Metaphysik. Hier ist Gott "limitiert auf reine Identität" und im selben Zug die Welt darauf reduziert, nichts als ein
Modus göttlicher Existenz zu sein. Aber von was für einer: "Zum völlig unpersönlichen Identitätssystem geworden",
in das "nichts eindringen kann, ist Gott [...] nicht von sich aus ein unergründliches Geheimnis, sondern nur ein Mysterium durch ein menschliches Denken, das von der Welt und seinen eigenen Leistungen abstrahiert."
Freilich ist auch der Gott, den Haag zurückbehält, merkwürdig leer; er ist ein "Gott ohne Eigenschaften" (Erich Heintel). Gerade in Bezug auf die Denk- und Sagbarkeit Gottes, auf die von Haag behauptete Inkompatibilität von Gott und Denken, wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Hegel interessant und fruchtbar gewesen. Aber dessen Philosophie legt er in alter Feindschaft als ärgste Form von Pantheismus und Identitätsphilosophie - als hätte Hegel nicht beides (teilweise mit den gleichen Argumenten wie Haag) selbst kritisiert - stets sofort zur Seite.
Die Versöhnung des scheinbaren Widerspruchs von Metaphysik und rationaler Welterklärung hat bei Haag auch eine politische Dimension: Er möchte der "nihilistischen Aushöhlung" durch den Nominalismus entgegenwirken. Das nachzuweisen, "was die Menschen zu einem sinnvollen Dasein brauchen", das meint nicht das "metaphysische Winterhilfswerk" (Adorno), in einer angeblich entsäkularisierten Welt Gott aus Pragmatismus als drohende moralische Instanz und als Sinnstiftungsangebot wiedereinzuführen, um die Menschen brav und ruhig zu halten.
Der Nihilismus des nominalistischen Denkens, das ist der "theoretische Kampf gegen die Wesenheiten in den Indi-viduen." Ist er erfolgreich, so geht auch verloren, "daß ihre Existenz an Solidarität gemahnt." Das Denken, das sich
selbst als aufklärerisch (miss-)versteht und die Menschen aus ideologischer Befangenheit befreien will, indem es 'Substanzen-' und 'Wesenslehren' dekonstruiert, macht nicht nur das Unwesen der herrschenden Verhältnisse un-erkennbar (worüber Haag nicht spricht), es hat auch darin seine Dialektik der Aufklärung, indem es die Menschen
zu Stückgut für Herrschaft isoliert.
Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie. Humanities Online, Frankfurt a. M. 2005.
Karl Heinz Haag: Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung. Humanities Online, Frankfurt a. M. 2005.
Gegen die Verachtung der Wahrheit
Jürgen Kaube
Er gehörte zum Umkreis der Frankfurter Kritischen Theorie, Adorno widmete ihm seine Hegel-Studien: Zum zehnten Todestag des zu Unrecht unsichtbar gewordenen Philosophen Karl Heinz Haag.
Jürgen Habermas zufolge leben wir in einem nachmetaphysischen Zeitalter. Alles, was behauptet wird, muss durch das Nadelöhr rationaler Überprüfung hindurch. Nach Habermas lässt uns aber gleichwohl die Frage nach dem Glauben,
der nicht ohne Rest durch das Wissen geteilt werden kann, kaum los. Nicht nur verschwindet also die Religion in der Moderne nicht, sie kann auch nur zu hohen gedanklichen Kosten als „Aberglaube“ beschrieben werden. Es steckt sogar mehr in ihr als Daumendrücken. Wenn darum „Wissen“ bedeuten soll: Wissen über natürliche Sachverhalte, und wenn „natürlich“ heißen soll: empirisch ermittelbar, dann liegt das Problem auf der Hand. Wir leben in einem nachmetaphysi-schen Zeitalter, das metaphysische Fragen nicht loswird.
Metaphysik meint dabei seit 2500 Jahren den Versuch, Begriffe für das zu finden, was mehr ist als das Vorfindliche.
Man kann aus Widerwillen gegen Spekulation darauf verzichten, doch dadurch sind die metaphysischen Fragen weder beantwortet noch abgetan. Eine ganz bescheidene solcher Fragen lautet, woher denn die Empiriker und die Meta-physiker ihre Begriffe nehmen: beispielsweise die Begriffe „Empirie“ und „das Vorfindliche“.
Auf den Tag vor zehn Jahren starb der Philosoph Karl Heinz Haag sechsundachtzigjährig. Er gehörte zum Umkreis der Frankfurter Kritischen Theorie, auch wenn das beim Lesen seiner Schriften leicht übersehen oder vergessen werden kann. Denn sein äußerst konzentriertes Werk galt ganz den philosophischen Folgen des mittelalterlichen Nominalismus für die Metaphysik. Treffen unsere Bezeichnungen das Wesen der Dinge, oder sind sie nur Konventionen? Ist „Wesen“ überhaupt ein sinnvoller Begriff? Doch wenn man ihn prinzipiell aufgibt, was sichert dann die Wahrheit von Aussagen über die Natur?
Haag ergründete die Widersprüche
In Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition, die seit Platon so fragte, mit der scholastischen und der modernen Theologie sowie mit den physikalischen Begriffen von Zufall und Gesetz ist Haag in wenigen Schriften den Widersprüchen nachgegangen, in die sich das metaphysische Denken wie seine Kritik verfangen. „Der Fortschritt in der Philosophie“ von 1982 und „Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung“ ragen unter ihnen heraus. Nach seinem Tod versammelte der Band „Kritische Philosophie“ 2012 seine frühen Texte.
Zu sagen, Haag sei heute weitgehend vergessen, wäre eine Untertreibung. Er war es damals schon, es gab nicht einmal einen Nachruf auf ihn – zu Unrecht. Haag gehörte zu den ersten Schülern von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, als diese in den fünfziger Jahren aus dem amerikanischen Exil zurückkehrten. Er hatte die Jesuitenschule in Frankfurt-Oberrad absolviert, wurde von Horkheimer über Hegels Logik promoviert und habilitierte sich 1960 mit einer Kritik der Philosophie Martin Heideggers. Theodor W. Adorno widmete ihm seine Hegel-Studien. Die Schuloberhäupter verspra-chen sich von Haag eine philosophische Grundlegung der Kritischen Theorie.
Horkheimer hatte ihn darüber hinaus als Nachfolger auf dem Lehrstuhl des verstorbenen Adorno im Sinn. Aber daraus wurde nichts. Zeitzeugen meinen, Haag hätte den Ruf ohnehin nicht angenommen. 1971 zog er sich ganz aus der von den Studenten malträtierten Universität zurück und lebte bis zu seinem Tod von einem kleinen Erbe und für sein Ideal der philosophischen Forschung: vierzig Jahre, dreihundert Seiten. Viele Manuskripte, etwa die seiner Vorlesungen, warf er weg, weil sie ihm nicht mehr genügten. Gleichwohl existiert ein Nachlass, um den sich die Stadt Frankfurt und ihre Universität verdient machen könnten.
In Jürgen Habermas’ jüngster Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar von Glauben und Wissen, „Auch eine Geschich-
te der Philosophie“, findet sich keine Erwähnung, gar Auseinandersetzung mit Karl Heinz Haag. Eigentlich schade. Er ist einschlägig.
Er glaubte, Natur zu denken ohne Metaphysik, sei irrational. Der Philosoph Karl Heinz Haag hat sich sein Leben lang mit dem Antagonismus von Glauben und Wissen beschäftigt und sah sich in der Lage, das Wesen, das noch bei Heidegger weste und daraufhin verloren ging, wieder in sein Recht einzusetzen. Zehn Jahre nach seinem Tod erinnert Peter Kern an den strengen Denker.
Karl Heinz Haag zum 10. Todestag
Philosophie der wesenhaften Natur
Peter Kern
Wer sich in Facebook umschaut, stellt erstaunt fest: Philosophie boomt. Es gibt dort zahlreiche Gruppen mit jeweils
mehr als tausend Personen, die über Ethik, Nietzsche, Transzendentalphilosophie oder das Verhältnis von politischer Ökonomie und Materialismus diskutieren. Über das Niveau dieser Diskussionen die Nase zu rümpfen, wäre ein
Leichtes.
Es verbreiten sich meist kurz gefasste, um den Stand der akademischen Debatte ziemlich unbekümmerte Statements und Erwiderungen. Bevorzugt wird die Frage verhandelt, wie das eigene Leben zu führen sei. Auch die Adorno-Ultras sind auf Facebook namentlich, und es vereint sie wohl mehr als die Freude am Klamauk. Was diese Websites abbilden, zeigt ein keineswegs zu belächelndes, ernsthaftes philosophisches Interesse an, das die an den Universitäten etablierte Lehre wohl nicht aufzugreifen vermag. Diese Misere der Hochschulen und der Boom dieser Internetseiten mögen in einem Entsprechungsverhältnis stehen.
Zur Schulphilosophie seiner Zeit und zum akademischen Betrieb stand Karl Heinz Haag (1) in einem völlig kritischen Verhältnis. Innerakademisch auf Wirkung bedacht war er mit seinen Büchern nicht. Haag wollte keine Philosophie für Spezialisten schreiben. Seine Aufgabe sah er darin, den Nihilismus der Gegenwartsgesellschaften zu negieren. Damit diese Negation einmal statthaben kann, muss sie den Gesellschaftsmitgliedern einleuchten. Haag war in ständiger Sorge, ob das von ihm Geschriebene auch verständlich ist. Seine negative Metaphysik sollte wahr werden, indem sie exoterisch wird, statt esoterisches Wissen für Eingeweihte zu bleiben. Das war Haags Hoffnung, und überflüssig zu sagen, dass sie getrogen hat.
Nihilismus, das klingt nach fehlenden höheren Werten. Die Assoziation führt auf völlig falsches, kulturkritisches Geleis (2). Haags Kritik des Nihilismus ist eine streng erkenntnistheoretische. Und die moralisch-praktische Konsequenz dieser Kritik besteht nicht darin, Individuen für das ihnen Angetane herabzuwürdigen. Einem heutigen Individuum wird etwas angetan? In einer Gesellschaft, die bei aller Verbesserungswürdigkeit im Detail, ihm seine Arbeit halbwegs angemessen entlohnt, ihn sozialstaatlich absichert und seinem pluralen Lebensstil völlig tolerant gegenübersteht? Die Individuen, ihre Gesellschaft und die sie umgebende Natur werden in ihrem Wesen verletzt. Das ist die Quintessenz Haags nega-tiver Metaphysik.
Von Wesen zu reden, Metaphysik, und sei es auch als negative, restituieren zu wollen, ist ein gewagtes Unternehmen. Für die Kritische Theorie, die Haag fortführte, sah er keinen anderen Ausweg. Ohne einen neu gefassten Wesensbegriff bliebe die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“, von der Max Horkheimer sprach, ohne rationale Grundlage.
Horkheimer hat dies genauso gesehen. Liest man die bald zugänglichen Haagschen Notizen oder die Gesprächs-protokolle seiner Freunde, liest man die Zustimmung, die Haag von Seiten seiner Lehrer erfahren hat. Sie könnten
das nicht mehr leisten, das müsse er, Haag, machen, heißt es in einer Gesprächsnotiz.
Horkheimer schreibt in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft von einer Natur, die „allen inneren Wertes oder Sinns entkleidet“ sei. Was bei ihm metaphorisch, beinahe nach Eichendorff klingt, hat Haag in seiner Metaphysik präzise bestimmt. Adorno und Horkheimer sind seine Verbündeten, da sie sich weigern, wissenschaftliche Methode mit Wahrheit zu identifizieren. Aber diese Negation reicht nicht hin. Wenn es um die Folgen dieser Kritik geht, wird er bei den beiden nicht recht fündig. Um zu verhindern, dass Aufklärung wieder in Mythologie oder in politischen Wahn umschlägt, ist eine Reformulierung des Wesensbegriffs notwendig.
Haag leistet diese Reformulierung, das ist sein Lebenswerk. Den Grundriss dieses Werks hat er schon in seinem 1971 veröffentlichten Text Zur Dialektik von Glauben und Wissen skizziert. Mit der Kritik der wissenschaftlichen Methode hebt seine Arbeit an. Es ist eine Kritik im Kantischen Wortsinn. Was vermag Naturwissenschaft, wo ist die Grenze ihrer Naturerklärung? Haag hat den erkenntnistheoretischen Status der Naturgesetze bestimmt, und allein diese Begriffs-bestimmung wäre schon Grund genug, um ihm einen bleibenden Platz in der Philosophiegeschichte zu sichern.
Die Naturwissenschaften isolieren aus der Vielzahl natürlicher Prozesse einen zu untersuchenden Zusammenhang und blenden alle störenden Einflüsse aus. So erschließen sie sich beispielsweise den Zusammenhang von Licht und Pflanzen-wachstum. Der isolierende Eingriff schafft die ideale Erkenntnisbedingung. Was Hypothese war, lässt sich im Experiment bestätigen und als Gesetz fixieren. Das Gesetz der Fotosynthese fixiert eine messbare Wenn-Dann-Beziehung zwischen einem partikularen Vorgang. Die Fotosynthese erklärt nicht die Genese der Pflanze als Ganzes. Am Pflanzenwachstum sind viele partikulare Naturvorgänge beteiligt, physikalische, chemischen, biologische, genetische. All diese von Gesetz-mäßigkeit regierten Sektoren der Natur müssen zweckmäßig koordiniert sein, damit ein ganzes Gebilde entsteht. Es braucht ein die Einzelgesetze koordinierendes Prinzip, das die Gesetzmäßigkeiten als Mittel nutzt und auf ein Ganzes
hin anordnet. Dieses Prinzip lässt sich nicht selbst als ein Naturgesetz fixieren.
Die wissenschaftliche Methode fördert demnach nicht hervor, was die Natur in ihren Akten leitet. Die Naturwissen-schaften sind in ihrer Erklärungsmacht keineswegs omnipotent. Das zweckmäßig anordnende Prinzip lässt sich nicht per Experiment demonstrieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an. Von ihr kann Metaphysik nur sagen, sie sei empirisch nicht fassbar, aber ohne diese Dimension Natur zu denken, sei schlicht ir-rational.
Haag unterscheidet mit Kant relative von absoluter Erkenntnis. Der hinreichende Grund der Möglichkeit von Natur bleibt unserer Erkenntnis verschlossen. Wir finden die Natur vor, wir haben sie nicht getan. Aber wir finden sie als in Gattung, Art und Einzelding geordnete vor. Der Farnstrauch im Garten gehört zur Art der Schachtelhalme und zur Gattung der Samenpflanzen. Die von der Biologie entdeckten Gesetzmäßigkeiten der Farngewächse setzen solche Ordnungen voraus. Wäre die Natur in Einzeldinge zerstreut, würden der Farn im eigenen und der im Nachbarsgarten nicht an einem Allgemeinen partizipierten, dann wäre die Natur ein Chaos und kein von Gesetzen regierter Kosmos. Schon das Wort Farn könnte gar nicht sinnvoll gebraucht werden.
Nach Haag ist die begriffliche Ordnung der Dinge auf der Basis von Einzeldingen gar nicht möglich ist. Hier fängt aber ein Problem an. Denn diese Behauptung weist den Allgemeinbegriffen eine Realität zu. Wie aber kann etwas Sein be-anspruchen, das nicht empirisch wahrnehmbar ist? Wie kann man am Begriff des Wesens festhalten – denn diesen rehabilitiert Haag – wo doch der Begriff keines empirischen Beweises fähig ist. Die modernen Philosophien haben diesen Begriff längst verabschiedet.
Haag ein Irrationalist? Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wem das empirisch Feststellbare alles ist, der denkt nicht rational. Wer Haag liest, begegnet einer stringenten Argumentation, die die Philosophiegeschichte gegen den Strich bürstet, in der Absicht, dem Paroli zu bieten, was er Nihilismus nennt. Das Wort ist mit Bedacht gewählt, trotz seines leicht bigotten Anklangs. Es ist auf eine Welt ohne die Dimension des Wesens gemünzt. Diese Weltauffassung lastet er nicht den Naturwissenschaften an, aber einem Denken, das die naturwissenschaftliche Methodik zur letzten Autorität erklärt.
Wäre dies eine bloß innerfachlich-philosophische Debatte, sie wäre wenig bedeutsam. In der Glorifizierung der Natur-wissenschaften trifft sich jedoch der Alltagsverstand mit einer Ökonomie, die die Natur in ihrer rastlosen Aneignung
als wesenlos ansieht. Diesen Nexus hat Haag im Blick, ihn mit kritischer Analyse aufzulösen, hat er sein Werk gewidmet. Es ist eine Absage an den bürgerlichen Machtanspruch über Natur. Der degradiert die Natur zum bloßen Material der ökonomischen Ausbeutung, zur „rein Sache der Nützlichkeit“, wie es bei Marx heißt. Der Szientismus, der die Natur als wesenlos ausgibt und ihr damit die Aura nimmt, arbeitet diesem Machtanspruch zu.
Haags Hauptwerk, an dem er zehn Jahre gearbeitet hat, Der Fortschritt in der Philosophie, ist 1982 erschienen. Dass es kaum rezipiert wurde, lag an diesem Zeitpunkt. Der Markt für Marx hatte sich längst verlaufen, Philosophie als Kopf der Gesellschaftskritik war längst wieder eine olle Kamelle geworden. Wer hätte sich noch an dem Satz gestoßen, man müsse konsequenterweise Abschied nehmen von jeder materialistischen Weltauffassung? Als Haag diesen Satz schrieb, lange Jahre nachdem er die Frankfurter Universität verlassen hatte, um sich ganz der philosophischen Forschung zu widmen, war der materialistische Hype längst vorbei. Zu Haags Unizeiten war Materialismus noch radical chic.
Einem Autor wie Haag war kaum Resonanz beschieden. Sein Hauptwerk erschien noch bei Suhrkamp, das 200-seitige Folgewerk, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, hat ein kleiner, rühriger Verlag namens Humanities online publiziert. Es ist quasi ein Kommentar zum Hauptwerk, von ihm selbst verfasst, wiederum das Produkt fast zehnjähriger Arbeit.
In diesem 2005 erschienenen Buch ist zu spüren, wie sehr Haag nach einer politischen Kraft Ausschau hält, die theorie-fähig wäre und der er seine Metaphysik überantworten könnte. Eine auf den Wesensbegriff verzichtende Naturauffas-sung hat eine zur Brandschatzung freigegebene Natur zur Folge, schreibt er. Diesen verkehrten Naturbegriff aufzu-brechen sei „von höchster Wichtigkeit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung … für das Schicksal der Menschheit“. So das Zitat. Es braucht Metaphysik, um Gesellschaftskritik, zu begründen. Es braucht Metaphysik, um eine politische Ökologie zu begründen, die es genauer wissen will.
Dass Karl Heinz Haag mit seinen beiden Büchern so erfolglos war, hat einen weiteren Grund. Er leuchtet sofort ein,
wenn man seinem entfalteten Wesensbegriff folgt. Was die Naturwissenschaften wissen, ist nicht alles, hinter ihren Phänomenen ist eine andere, ihrer Methode nicht zugängliche Welt – diese Kritik hat natürlich theologische Konse-quenzen. Theologie war 1968 ein absolutes No-Go. Die von der Kritischen Theorie inspirierten Köpfe der Studenten-
und Schülerbewegung haben deren Selbstverständnis nicht recht wahrgenommen, und so hat dieses theologische Erbstück keine Spuren hinterlassen. Walter Benjamin hat dieses Selbstverständnis in das Bild von einem Denken
gefasst, das sich zur Theologie verhält wie die Tinte zum Löschblatt. Das Löschblatt sei ganz vollgesogen, auch wenn
die Tinte gar nicht erscheine. In der Revolte von 68 kam ein gegenteiliges Motiv, ein sich progressiv gebender Atheis-mus zum Vorschein. Er war der kleinste Nenner, der die Antiautoritären und das von ihnen attackierte Establishment verband. Als dann zehn Jahre später die Ökologiebewegung und die Grüne Partei entstand, lag ein religiös ange-reicherter Naturmystizismus in der Luft. Bei Haag war beides nicht zu holen, weder Atheismus noch Mystizismus.
Um im Benjaminschen Bild zu bleiben: Haag hat die verschwundene theologische Tinte der Kritischen Theorie sichtbar gemacht. Er hat sie sichtbar gemacht und den ursprünglichen Text zugleich neu geschrieben. Er war kein bloßer Adept der Kritischen Theorie, der an ihrem Ruhm partizipieren wollte, und auch dies war der Auflage seiner beiden Bücher nicht günstig.
Hätte er nicht wenigstens im Umkreis der Evangelischen und Katholischen Akademien erfolgreich sein können? Seine negative Metaphysik ist dafür viel zu widerborstig. Die ironische Erich Kästner-Frage Wo bleibt das Positive, hätte Haag nur abschlägig beantwortet. Sein Wesensbegriff ist von Fundamentalontologie genauso weit entfernt wie von der Ich-glaube-weil-es-absurd-ist-Theologie. Dabei lässt er keinen Zweifel: Die erste Natur ist göttlichen Ursprungs. Jeder Naturstoff hat eine innere, ohne menschliches Zutun vorhandene Form, die sich durch Arbeit nur umformen lässt.
In der zweckmäßigen Auswahl der Naturgesetze und der Symmetrie der sich ergänzenden Naturstoffe ist eine all-mächtige Vernunft zu erkennen.
Was aber diese Vernunft an sich selbst ist, bleibt menschlicher Erkenntnis unzugänglich. Haag übersteigt die von Kant der Vernunft gezogene Grenze nicht. Jede Theologie, die sich im Wissen des göttlichen, kosmologischen Plans wähnt, wie die Karl Rahners, lehnt er ab. Das Universum als der Leib Gottes – solcher Anthropozentrismus verfällt unnachgiebig der Kritik. Aber das Kind wird nicht mit dem Bade ausgeschüttet.
Haag will eine Theologie, die vor kritischem Denken bestehen kann. Er nennt „irrationale Konstruktionen“, was einmal theologisch der letzte Schrei war, vermutlich sogar noch ist: Das existentialistische ‚Ich glaube, weil es absurd ist‘. Kar-dinal Ratzinger, der spätere Papst, vertritt dieses Credo. Haag wird da richtig wütend: Solche Theologie unterziehe sich nicht der Anstrengung eines rational begründeten Gottesbegriffs. Sie ziehe die bequeme irrationale Entscheidung vor und empfehle sie ihren Schäfchen. Dann wundere sie sich, dass diese nicht wie dumme Schafe behandelt werden wollen. Was Kant im ausgehenden 18. Jahrhundert prognostiziert hat, hat sich bewahrheitet: „…eine Religion, die der Vernunft den Krieg ankündigt, wird es auf Dauer gegen sie nicht aushalten.“
Haag sieht die heutige Theologie in einem erbarmungswürdigen Zustand, weil sie sich einmal anstecken ließ vom Nominalismus, der die alleinige Existenz von Einzeldingen behauptet. Haben die Einzeldinge keinen Anteil an einem Wesen, dann glaubt, wer an Gott glaubt, an ein aus der Natur ausgebürgertes Wesen. Es gibt damit nichts mehr im Bereich des Wissens, an dem die Offenbarung sich ausweisen könnte. Glaube wird zum irrationalen Akt, denn in der Ersten Natur inkarniert sich kein göttlicher Logos mehr. Gott ist nur noch ein persönliches Bekenntnis, Religiosität ein Verzicht auf Rationalität. Der einzelne, schreibt Haag, lebt dann als gespaltenes Subjekt: Als denkender Mensch erträgt er eine naturwissenschaftlich entzauberte Welt, als gläubiger hält er tapfer seinen Glauben dagegen.
Statt den Stier an den Hörner zu packen und einer sich als Philosophie aufspreizenden Naturwissenschaft ihre gedank-liche Inkonsequenz aufzuzeigen, kapituliert die Kirchenlehre. Dass die sinnlich wahrnehmbare Welt der Naturwissen-schaften ein übersinnliches Prinzip zu ihrer Voraussetzung hat, weil sonst die Natur chaotisch und nicht erkennbar wäre – das müsste die Lehre geltend machen. Stattdessen schiebt sie Gott nach draußen und der evolutionäre Prozess findet ohne ihn statt.
Haags „luzide Kosmologie“, wie er sie nennt, hat bei den Theologen so wenig Aufnahme gefunden wie bei den Rebellen von einst. In der philosophisch-theologischen Hochschule in Frankfurt-Oberrad, wo er von den Jesuiten ausgebildet wurde, kennt man ihn nicht mehr. Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Soziallehre und einmal in Oberrad zu-hause, hat Haags Vorlesungen, sooft es ihm möglich war, besucht. Der Erzieher hat sich von seinem Zögling erziehen lassen. Und der Zögling ist sich treu geblieben, indem er sich gründlich gewandelt hat. In seiner Antrittsvorlesung hat Karl Heinz Haag die Metaphysik mit Hegel noch verabschieden wollen, sehr zur Verwunderung seiner Jesuiten-Lehrer. Später hat er die hegelsche Bewegung vom reinen Sein zum reinen Nichts und zurück verspottet. Das „geht über 1000 Seiten“ hat er bei seinen Freunden geklagt und sei „ein langer Weg bis zum absoluten Geist“.
Haag schreibt, und darin steckt die ganze Herausforderung seines Werkes, „daß es einen Gott gibt. Diese Gewissheit
ist erreichbar – in logischer Strenge.“ An dieser Gewissheit hänge, „was die Menschen zu einem sinnvollen Dasein brauchen, das Bewusstsein der Existenz einer absoluten Wahrheit.“ Der von den Wissenschaften imponierte Common Sense glaubt aber eher an die Selbstkonstitution der Natur. Warum diese undenkbar ist, darüber kann man sich bei
Haag informieren.
Der Zufall leuchtet dem modernen Alltagsverstand eher ein als eine religiöse Welterklärung. Die frühe griechische Bestimmung der Materie, als Stoff, der sich anzieht und abstößt, und dessen Verbindungen die Vielzahl der Naturdinge erzeugt, wirkt bis in die Gegenwart nach. Moderne Atomphysik wird dafür geplündert. Zerfallsprodukte ihrer Theorie, ominöse Gottesteilchen, sollen das fehlende Puzzle für eine Weltanschauung liefern, die von Physik wie von Metaphysik gleich weit entfernt ist. Das evolutionäre Geschehen ist demnach die Wirkung aus der Vielzahl der Elemente. Ihre ein-fache, stoffliche Natur bringe inhaltlich Reiches hervor. Aus H2O und Stickstoff entstehe das grüne Farnkraut, aus Ami-nosäuren entstehe der denkende Mensch. Die Genesis der Natur erscheint als planlos, aber mit dem Resultat einer geordneten Natur.
Haag macht diesem Vulgärmaterialismus ebenso die Gegenrechnung auf wie der Theologie. Will dieser Materialismus die Evolution der Natur rein naturwissenschaftlich erklären, muss er den dabei beteiligten Naturgesetzen die Fähigkeit der Selbstkoordination zugestehen. Die den Naturstoff regierenden Gesetze müssen sich selbst als Mittel zum Zweck der Hervorbringung und Erhaltung stofflicher Gebilde koordinieren. Oder der Zufall bringt diese Koordination zustande. Dann aber ist der Zufall das göttliche Prinzip, und der Materialismus verstößt gegen sein atheistisches Apriori. Auch die Materie als energiereich zu fassen, löst die Ungereimtheit nicht auf. Nur weil die Atome und Moleküle in Bewegung geraten, kann aus Einfachem nicht inhaltlich Reicheres entstehen. Aus indifferenter Materie und Energie kann kein differenziertes Leben resultieren. Eine rein physikalische Naturauffassung verstrickt sich heillos in Widersprüche. Die Evolution biologischer Natur aus physikalisch und chemisch analysierten Stoffen bleibt weiterhin ungeklärt. Einer über sich selbst aufgeklärten Naturwissenschaft ist die Grenze ihrer Erklärungsmacht im Übrigen durchaus bewusst.
Um den Bogen vom Common Sense noch einmal zur Philosophie zu schlagen: Es ist eine Ironie der neueren Entwicklung, dass in der analytischen Philosophie Gedankengut auftaucht, das mit der negativen Metaphysik von Karl Heinz Haag deutliche Verwandtschaft zeigt. In dieser angelsächsischen, naturwissenschaftlich informierten Debatte ist die Frage verhandelt worden: Soll das Erklärungsmuster des Neodarwinismus wirklich alles sein? Muss es nicht, wenn Selektion und Anpassung der Arten stattfinden, auch Arten und Gattungen geben? Und welche gedankliche Zumutung ist es, entwickeltes menschliches Bewusstsein aus den Bausteinen der Aminosäuren oder aus der Synapsenbildung abzu-leiten? Der Szientismus hat sich als schlechte Metaphysik herausgestellt, und eigentlich war es eine Frage der Zeit,
bis der Schwindel auffliegen musste. Der Frankfurter Kritischen Theorie hat man gerne vorgehalten, ihr fehle die Anschlussfähigkeit an die Debatten jenseits des Atlantiks. Vielleicht ist es umgekehrt, und die US-amerikanische Diskussion, wie sie beispielsweise von Thomas Nagel führt, hat Motive der Frankfurter aufgegriffen.
Beiden Debatten kommen zu dem gleichen Ergebnis: Eine materialistische Philosophie, die behauptete Selbst-konstitution der Natur, ist nicht durchführbar. Die Widersprüche dieser Philosophie verweisen auf die von Materialismus und Neodarwinismus bestrittene allmächtige Instanz. Aus ihr geht das für die Genesis und den Erhalt der Schöpfung nötige stoffliche Substrat und die zweckdienlichen Naturgesetze hervor. Das Wie dieser Schöpfung ist menschlicher,
auf sinnliche Wahrnehmung beschränkter Vernunft nicht zugänglich.
Diesem Gedanken verweigert sich der genannte US-amerikanische Theoretiker, aber diese Weigerung ist inkonsequent und wohl nur zu verstehen, vor dem Hintergrund der dortigen politisierten Debatte. Gegen Darwins Lehre polemisiert die religiöse Rechte, die Evangelikalen, und ihre elaborierten Parteigänger wollen an Stelle der Evolutionstheorie eine Intelligent Design genannte Weltanschauung setzen. Dies wiederrum ist die Anmaßung eines deduktiven Systems, das nach Haag unmöglich ist. Kein System, aber eine negative Metaphysik ist gefordert, damit unser Weltverständnis rational bleibt. Haags Philosophie schlägt eine Brücke von reflektierter Naturerkenntnis zu einem rationalen Sich-selbst-überzeugen, einer Religion, die das Opfer des Intellekts nicht verlangt. Gott lässt sich nicht begrifflich bestimmen, gleich-wohl verbleibt er nicht in einer dem Denken entzogenen Sondersphäre. Haags negative Gotteslehre verweist auf das jüdische Bilderverbot.
Die klassische Frontstellung Glauben versus Wissen, lässt Karl Heinz Haag souverän hinter sich. Ebenso überschreitet er die der Aufklärung gesetzten Grenzen, wie sie Adorno und Horkheimer bestimmt haben. Sein Hauptwerk nennt er wohl auch deshalb Der Fortschritt in der Philosophie. Seine Lehrer, schreibt er in seinen Notizen, kritisierten die Identifizierung wissenschaftlicher Methode mit der Wahrheit, aber sie gingen den Folgen ihrer Kritik aus dem Weg.
Ist diese Haagsche Kritik identisch mit der populär gewordenen, Adorno und Horkheimer könnten den Maßstab ihrer Vernunftkritik nicht ausweisen? Der Vorwurf unterstellt wohl erkenntnistheoretische Naivität. Aber die beiden sind, um es schwäbisch auszudrücken, nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen. In der Kritik der instrumentellen Vernunft heißt es: “Ob eine Theorie auf selbstevidenten Prinzipien beruhen kann“, sei „eines der schwierigsten logischen Pro-bleme“.
An der Lösung dieses Problems hat Haag zeitlebens gearbeitet, und er ist erfolgreich dabei gewesen, auch wenn ihm der Erfolg auf dem Markt der intellektuellen Moden versagt geblieben ist. Im genannten Horkheimer-Buch stehen Sätze, wie geschrieben, um Haag zu charakterisieren. „Das Widerstand leistende Individuum wird sich jedem pragmatischen Versuch widersetzen, die Forderungen der Wahrheit und die Irrationalitäten des Daseins zu versöhnen.“ Es wird „darauf bestehen, in seinem Leben so viel Wahrheit auszudrücken, wie es kann; …es muß bereit sein, das Risiko äußerster Ein-samkeit einzugehen“. Karl Heinz Haag ist dieses Risiko eingegangen, und viel Wahrheit hat er ausgedrückt. Sie ist
wieder als Flaschenpost unterwegs, und diese Post sucht ihren Empfänger.
Fußnoten
(1) Der 1924 in Frankfurt-Hoechst Geborene studierte bei den Jesuiten in Sankt Georgen, wurde von Max Horkheimer habilitiert und beendete seine Uni-Laufbahn, bevor sie begonnen hat. 1971 zog er sich nach Hoechst zurück, um dort in 40 Jahren etwa 400 Seiten, verteilt auf zwei Bücher, zu schreiben. Das macht pro Jahr zehn Seiten. Das schafft mancher heutige Philosoph pro Stunde und zwei Bücher bringt er locker in einem Jahr raus. Aber im Unterschied zu Žižek und Sloterdijk mimte Haag keinen Philosophen, er war wirklich einer. Vor zehn Jahren, am 15. April 2011, ist er in Wiesbaden gestorben.
(2) Kurt Flasch rückt ihn in solche Nähe. Der Mediävist der deutschen Philosophie und wie Haag von Max Horkheimer habilitiert, rechnet den Autor rechtskatholischen Eiferern und einer obskuren Bewegung für Papst und Kirche zu. Dieser Zusammenhang ist selbst völlig obskur. Nicht jeder Kritiker des Nominalismus landet gleich bei der katholischen Reak-tion. Haag galten die Sakramente als Humbug, die Vorstellung eines persönlichen Gottes, zu dem sich beten ließe, lehnte er ab. Flaschs Text riecht ein bisschen nach der Abfertigung eines Konkurrenten, der im angestammten Revier des Meisters, Scholastik, Universalienstreit etc., wildert. Vgl. Flasch, Kurt, in: Information Philosophie, 2/2012.
Siehe auch
Peter Kern: Porträt des Philosophen Karl Heinz Haag
Karl Heinz Haag: Die Struktur des Teufelspaktes in Goethes Faust
Mit Glauben und Wissen hat sich Karl Heinz Haag wohl ein Leben lang beschäftigt. Er studierte Philosophie und Theologie an der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen, wurde von Max Horkheimer über die Seinsdialektik bei Hegel promoviert und habilitierte sich 1956 über die neuere Ontologie. Peter Kern erinnert an den Philosophen, der die Metaphysik zu rehabilitieren suchte.
Philosophie
Eine Denkmanufaktur liefert feinste Philosophie: Karl Heinz Haag
Peter Kern
Nur den mit der Geschichte des Instituts für Sozialforschung genauer Vertrauten ist er noch ein Begriff: Karl Heinz Haag. Sein letztes, vor 15 Jahren erschienenes Buch wurde kaum mehr wahrgenommen, was das Institut ihm, dem vor bald zehn Jahren verstorbenen Theoretiker verdankt, scheint vergessen. Es ist sehr viel. Er, den Max Horkheimer ‚unser Haag‘ nannte und den alle seine Schüler als großartigen Lehrer und bescheidenen Menschen charakterisieren, war sich dessen gleichwohl bewusst. Es gebe neben der in der amerikanischen Emigration verfassten, „einen zweiten Teil der Kritischen Theorie… Seit 1952 habe ich philosophiegeschichtliche Grundlagen für jene Theoreme beigestellt und damit zur Verankerung dieser Lehre in der Tradition des abendländischen Denkens beigetragen.“ (1)
Der 1924 in Höchst geborene Haag, der von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, den Jesuiten in Frankfurt-Oberrad, ans Institut für Sozialforschung kam, dort zum Nestor der sich entwickelnden, theoriefähigen Neuen Linken wurde, sich aus Uni und Lehre Anfang der 70er Jahre in die Forschung und in seinen Geburtsort zurück-zog, hat in seiner, an einer Ausfallstraße Richtung Autobahn gelegenen Wohnung in 35 Jahren gerade mal 350 Seiten, verteilt auf zwei Bücher, geschrieben. Jeder Satz in diesen Büchern ist von äußerster Präzision.
Das abendländische Denken soll neuerdings nur noch Geltung beanspruchen dürfen, soweit es als nachmetaphysisches auftritt. Ein Antipode dieses Geltungsanspruchs sei mit Karl Heinz Haag vorgestellt. Laut Haag lässt sich philosophisch nur rational denken, wenn man metaphysisch denkt. Das ist die Quintessenz seines Werks und der Titel seines letzten Buchs. (2) Er entfaltet seine Metaphysik in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und in stringent logischer Argumentation.
Welchen Status kann naturwissenschaftliche Erkenntnis beanspruchen? Sie klärt uns über einen separierten Natur-zusammenhang auf und verifiziert die gefundene Gesetzmäßigkeit durch ein Experiment. Ein Naturgesetz, wie die Fotosynthese, regiert einen Teilprozess des Pflanzenwachstums; damit eine Pflanze erzeugt wird, braucht es mehrere solcher, von Naturgesetzen regierte Teilprozesse. Chemische, stickstoffbasierte Reaktionen starten den Keimprozess, das erzeugte Blattgrün absorbiert das Sonnenlicht, der als Sog wirkende Unterdruck im Pflanzeninneren zieht, entgegen der Schwerkraft, das die Pflanze versorgende Grundwasser nach oben. Diese Einzelprozesse müssen zweckmäßig zu-sammenwirken. Die Naturgesetze, denen sie gehorchen, sind notwendige Mittel der Erzeugung des Pflanzenkörpers, aber sie sind nicht das Ganze. Es braucht ein Prinzip, das sie auf ein Ganzes hin anordnet.
Das zweckmäßig anordnende Prinzip lässt sich nicht selbst als ein Naturgesetz fixieren, und per Experiment demon-strieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an. Von ihr kann Metaphysik nur sagen, sie sei zwar empirisch nicht fassbar, aber ohne diese Dimension Natur zu denken, sei unvernünftig, irrational. Kant, auf den sich Haag hier natürlich bezieht, hat diese Schicht das Ding an sich genannt. Haag nennt sie das „metaphysische Fundament des Zusammenhangs von Mittel und Zweck“ (3). Ohne dieses Fundament zu philosophieren hieße, roher Materie das Vermögen zuzusprechen, sich selbst zu differenziertem Leben entfalten zu können. Kant, auf den Haag sich hier stützt, nennt dies „vernunftwidrig.“
Das Allgemeine existiert
Naturwissenschaften könnten keine Gesetzmäßigkeit fixieren, wenn ihre Gegenstände ungeordnet wären. Wäre die Natur nur ein Chaos zerstreuter Einzeldinge, wäre sie nicht nach Arten und Gattungen gegliedert, es ließe sich über sie keine experimentell beweisbaren Aussagen treffen. Die Genese einer Pflanze verliefe einmal so, einmal anders. Ein Naturgesetz, das identische Abläufe für denselben Art- und Gattungszusammenhang formuliert, wäre unmöglich.
Aus diesem Gedanken zieht Haag einen weiteren, seine Metaphysik stützenden logischen Schluss. Die Klassifikation
der Natur, der Gattungsbegriff Pflanze z.B., ist begrifflicher Art. Die Pflanze lässt sich nicht schmecken, riechen, ertasten und sehen, wie der Holunderstrauch in einem Vorgarten. Aber das Wort kann nicht nur ein subjektives Zeichen sein. In den Einzeldingen, auf der Objektseite, gibt es etwas, das das Ordnen in Gattung und Art erlaubt, und woran mensch-liche Erkenntnis sich halten kann. Die Einzeldinge partizipieren, so Haag unter Verwendung des klassischen Begriffs,
an ihrem Wesen.
Kann aber etwas Sein beanspruchen, dem alle sinnlichen Qualitäten abgehen? Keinesfalls, sagt eine die Naturwissen-schaften zur Philosophie aufspreizende Philosophie, und der Alltagsverstand stimmt ihr wohl zu. Nur was per Experi-ment, Beobachtung und Falsifizierung, mit den üblichen naturwissenschaftlichen Verfahren also, dingfest zu machen ist, ist etwas Reales. Haag hält dagegen. Schon eine begriffliche Klassifizierung, gar die Naturgesetze, wären auf der Basis von Einzeldingen gar nicht möglich. Diese selbst weisen eine Ordnung – in der Sprache der Philosophie eine Ontologie – auf, nur diese macht sie wissenschaftlich erforschbar.
In seinem Buch „Der Fortschritt der Philosophie“ entfaltet Haag keinen linearen Fortschrittsbegriff. Was als abgetanes Problem einer spätmittelalterlichen Philosophie in ihrer Auseinandersetzung mit einer modernen, die Naturwissen-schaften verabsolutierenden Philosophie gilt, taucht, weil unerledigt, wieder auf. Der Begriff des Wesens lässt sich nicht abtun, wahr ist nicht nur das in wissenschaftlichen Aussagen Fassbare. Das Allgemeine ist existent, auch wenn kein Experiment es erweisen kann. Natur ist nicht identisch mit dem, was wissenschaftliche Forschung über sie ausmacht.
Die Naturwissenschaften sind nicht omnipotent in ihrer Erklärungsmacht. Das Gesetz der Fotosynthese bringt die Pflanze nicht hervor. Die wissenschaftliche Methode erschließt mit ihren Experimenten nicht, was die Natur in ihren Schaffensakten leitet. Auch die Gentechnologie, die Haag noch gar nicht vor Augen hatte, ändert daran nichts. Sie reproduziert, was sie vorfindet, sie produziert es nicht. Der Eingriff in die genetische Keimbahn setzt die menschliche Zelle voraus. Wird menschliche Natur wie alle Natur aber als wesenlos gedacht, ist ihrer völligen Verfügbarkeit keine Grenzen gesetzt.
Nun maßt sich Haag seinerseits kein omnipotentes Wissen an. Worin jedes Naturding sein Wesen hat, das es seiner Gattung und Art zuordnet und zugleich als Individuelles entstehen lässt, bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. Haags Metaphysik ist eine negative, sie wiederbelebt nicht die sich von Platon fortschreibende Ontologie. Deren Grund-irrtum sieht er darin, die empirische Welt aus einer Hierarchie der Ideen hervorgehen zu lassen. Was sich dem abstra-hierenden menschlichen Verstand verdankt, kann nicht zum Wesen der Einzeldinge erklärt werden. Der real existieren-de Holunder im Garten ist nicht bloß der Schatten einer Idee.
Haag sah seine negative Metaphysik noch Anfang der 80er Jahre herausgefordert durch eine Wiederbelebung von Ontologie. Heidegger, der die von Kant der Vernunft gezogene Grenze überschreitet, indem er das Sein konzipiert als eines, das den Menschen ‚anwest‘, und auf welches dieser zu ‚hören‘ hat, bekommt seine Philosophie mit logischer Stringenz zerpflückt. (4) Auch den 68 gehypten Hegelianismus hatte Haag nicht mitgemacht, und die Gründe dafür ist
er nicht schuldig geblieben. (5) Seine Metaphysik ist vor allem gegen das seit bald zwei Jahrhunderten so erfolgreiche Joint Venture aus philosophiegestützter Wissenschaftsgläubigkeit und kapitalistische Naturaneignung gerichtet.
Haag betreibt in bestem Sinn Kritische Theorie; die Selbstgenügsamkeit innerakademischer Debatten war seine Sache nicht. Er zielt auf eine Veränderung der Gesellschaft. Haag zeigt, wie sehr eine als wesenlos ausgegebene Natur Pass-form aufweist für eine Ökonomie, die die äußere und die menschliche Natur als bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ansieht. Sie sei zur „Brandschatzung“ freigegeben. Natur als wesenhaft zu begreifen, ist für ihn „von höchster Wichtig-keit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung … für das Schicksal der Menschheit“. (6)
Der hässliche Zwerg
Seine negative Metaphysik bleibt das Positive schuldig. Sie weiß, Naturwissenschaften bieten eine relative Erkenntnis ihres Gegenstands, keine absolute. Sie bilden den historischen Stand der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur ab. Davon lässt sich nicht abstrahieren. Eine überhistorische, ewige, das Wesen der Natur wiedergebende Philo-sophie reimt sich auf Scharlatanerie. Haag intendiert keine dogmatische Wesensschau. Auch das Dogma eines Hegel-marxismus ist ihm fremd. Natur wird mit menschlicher Praxis erschlossen, aber diese von den Naturwissenschaften angeleitete Praxis produziert nicht die Natur. Der auf Marx zurückgehende Gedanke ist auch bei Haag nicht vergessen: Gesellschaft selbst ist Natur, der Stoffwechsel mit ihr, der Arbeitsprozess, ist eine ewige Naturnotwendigkeit.
Die von Kant der Vernunft gezogene Grenze des Erkennbaren ist nicht statisch, sondern verschiebt sich gemäß dem fortschreitenden gesellschaftlichen Lernprozess. Aber dieser Lernprozess endet nicht bei der totalen Erkenntnis der Natur. Die Natur an sich lässt sich nicht affirmativ bestimmen. Nachmetaphysisches Denken folgert daraus: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Haag zieht daraus einen theologischen Schluss.
Dieser Schluss mag ein Grund gewesen sein, warum sein Spätwerk kaum mehr rezipiert wurde. Theologie gilt, laut Benjamin, als hässlicher Zwerg, der sich nicht blicken lassen darf. (7) Die Sache riecht irgendwie schlecht. Gott hängt
nun das Attribut des Teufels an, der bekanntlich am Schwefelgeruch zu erkennen ist. Haag hat da keine Berührungs-ängste. Ist seine Konsequenz aber von der Logik seiner Gedankenführung gedeckt? Er behauptet nicht weniger als
„daß es einen Gott gibt. Diese Gewissheit ist erreichbar – in logischer Strenge.“ (8) Das Prinzip, das die nach ihren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Naturprozesse so organisiert, dass jeweils ein zweckmäßiges Naturgebilde entsteht und in ihrem Zusammenwirken ein geordnetes Universum, kann, so Haag, nur ein göttliches, allmächtiges sein.
Wenn ein solches determinierendes Prinzip ausgeschlossen ist, bleibt als logische Alternative Indeterminismus, also
der Zufall. Der das Universum in seinem Werden und Bestehen verursachende Zufall hat gegenwärtig ja eine ziemlich gute Presse. Haag weist dieser Presse Denkfehler nach. Sich auf rein physikalisch Fassbares bei der Naturauffassung
zu beschränken, spricht dem Zufall eine unglaubliche Bedeutung zu. Er nimmt, so Haag, dann gleichsam selbst die
Stelle Gottes ein. Antimetaphysische Welterklärung beruft sich dabei gerne auf Heisenbergs Atomphysik. Im Mikro-kosmos soll demnach nicht gelten, was im Newtonschen Raum gilt: Gesetzmäßigkeit; die Unschärfetheorie verweist darauf. Der Akt des Beobachtens eines atomphysikalischen Objekts verändert es jeweils, sodass Gesetzmäßigkeit zwischen zwei Bestimmungsgrößen nicht auszumachen ist. Diese Veränderung durch Beobachtung geht demnach
aufs Konto des Subjekts; dem Objekt damit Gesetzmäßigkeit abzusprechen, ist für Haag unlogisch. Herrsche im Mikrokosmos Chaos, könne es nicht einmal die von Heisenberg zugestandene Wahrscheinlichkeit geben.
Haag rehabilitiert Theologie, indem er zeigt, dass für das Sein und das Werden konkreter Naturdinge naturwissen-schaftliche Welterklärung nicht hinreicht. Er gibt nicht vor, der von ihm als allmächtig bezeichneten göttlichen Vernunft in die Karten schauen zu können. Die von Adorno geforderte „äußerste Askese jeglichem Offenbarungsglauben gegen-über, äußerste Treue zum Bilderverbot“ (9) hält er ein. Seine Denkbewegung ist eine negative; sie negiert, was ein All-tagsatheismus sich selbst einredet: Anorganische, rohe Materie, die sich einmal Knall auf Fall bewegt hat, konstituiert aus sich selbst heraus lebendige Organismen, die per Versuch und Irrtum die Evolution in Gang bringen; dann ent-wickelt sich noch die Krone der Schöpfung und unser Bewusstsein von der ganzen Geschichte.
Haag hat seinen Gottesbegriff aus kosmologischen Gründen entwickelt. Es ist aber eine Theologie aus kantianischem Geist. (10) Haag hält an der Begrenzung des menschlichen Intellekts fest; davon lässt er sich kein Jota abhandeln. Jede Theologie, die sich im Besitz des göttlichen kosmologischen Plans wähnt, lehnt er ab. Und auch deren Gegenteil lehnt
er mit Gründen ab, eine moderne, existentialistische Theologie, die aus lauter Resignation vor den allzuständigen Naturwissenschaften ins Irrationale flüchtet, in die Haltung: Ich glaube, weil es absurd ist.
Das Verhältnis von Glauben und Wissen ist mit dem neulich erschienenen Werk von Jürgen Habermas (11) wieder Gegenstand einer Debatte geworden, die vielleicht über das Verfallsdatum des Feuilletons hinaus andauert. Um es im Duktus der Sportseite zu sagen: In der bisherigen Debatte hat das Team Wissen, Mannschaftsführer Habermas, einen haushohen Sieg eingefahren. Das Glaubensteam ist zum Match eigentlich gar nicht angetreten. Die hohen Funktionäre der Amtskirchen, in aller Regel habilitierte Theologen, haben gekniffen. Einer aus dem theologischen Fanblock hat die Abseitsfalle namens Mystik als Matchplan vorgeschlagen. (12) Gegen die Sprachpragmatik kommt der Rückzug auf mystisches Denken einer Kapitulation gleich.
Die Veranlassung der Debatte, das mächtige Spätwerk von Habermas, nimmt nun in irritierender Weise von Haag keine Notiz. Er aber wäre ein ernsthafter, weil auf Sieg spielender Gegner, Garant für ein spannendes Rückspiel.
Fußnoten
1) Brief an den Autor dieses Artikels vom 13. 02. 1984
2) Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, Frankfurt a. M., 2005
3) Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a. M., 1983. Neben den beiden genannten Büchern sei auf ein drittes hingewiesen: Kritische Philosophie, edition text+kritik, München, 2012. Es versammelt Vorstudien auf dem Weg zur später entfalteten negativen Metaphysik, und ist mit einem Haags Denken präzise charakterisierenden Nachwort von Günther Mensching versehen.
4) Heidegger intendiert, so Haag, eine Kritik des Positivismus, der jede Metaphysik für sinnloses Gerede erklärt, und nur ein System wissenschaftlicher Sätze gelten lässt. Auch Heidegger schreibt Aussagesätze, nur mit dem Zusatz versehen, bei ihm spreche aber das Sein. (A.a.O. S.156 f.) Die ‚Seinsvergessenheit‘ positivistischen Denkens sieht Heidegger in der modernen Technik, dem ‚Ge-Stell‘, am Werk. „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern…“ Heidegger, der den Judenhass der Nazis philosophisch bemäntelte, spricht sich von eigener Verantwortung frei, indem er die Shoah zur Verstrickung in eine losgelassene, schicksalhafte Technik erklärt. Das berüchtigte Zitat von 1949 diene nur der Selbstrechtfertigung, habe aber keinerlei Bezug zu Heideggers Ontologie, glaubt die linke, französische Apologie. Derweil hält die rechtsradikale deutsche Apologie wieder Festvorträge über Heidegger, in dem der AfD und seinem Höcke-Flügel nahestehenden Institut für Staatspolitik.
5) In: Philosophischer Idealismus, Frankfurt a. M. 1967; das Buch ist längst vergriffen.
6) Metaphysik, S. 113. Wörtlich heißt es am angegebenen Ort: „Die nihilistischen Folgen einer solchen Ablehnung [eines metaphysischen Wesens der natürlichen Dinge] widerlegen die moderne Vorstellung von der straflosen Brandschatzung des Gegebenen. Es ist weder wesenlos noch wehrlos.“ Die sich wehrende Natur: Hier unterläuft Haag ein Anthropo-morphismus. Dass das unseren Sinnen Gegebene nicht wesenlos ist, lässt sich rational einsehen. Ob die dahinter-liegende, unserer Erfahrung nicht zugängliche Natur sich gegen Frevel wehrt, können wir nicht wissen. In Zeiten einer Pandemie sieht man sich fast veranlasst, anders zu denken.
7) Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte, GS, Band I 2, Frankfurt a. M. 1978, S. 693
8) Der Fortschritt in der Philosophie, S. 115
9) Adorno, Th. W., Stichworte, Frankfurt a. M. 1980, S. 28
10) Dass Kant die Gesetzmäßigkeit der erscheinenden Natur in einem abstrakt gedachten transzendentalen Subjekt ansiedelt, ohne Vermittlung zum Ansichsein der Natur, leuchtet Haag nicht ein. Ihm gelten die Naturgesetze als gleichen Ursprungs wie die materiellen Objekte, die sich ihnen gemäß verhalten. Dem physiko-theologischen Gottesbeweis kommt dadurch eine Beweiskraft zu, die er bei Kant nicht hat.
11) Habermas, Jürgen, Auch eine Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 2019
12) Joas, Hans, Süddeutsche Zeitung, 14. 11. 2019