Widerspruchsmodell bei der Organspende

 

 

Der Mensch gehört sich selbst und nicht der Allgemeinheit

 

Das Widerspruchsmodell bei der Organspende degradiert den Menschen, es verspricht wenig Nutzen und ebnet den Weg für weitere staatliche Eingriffe in die Privatsphäre.

 

Katharina Fontana in der NZZ vom 08.05.2022

 

Heiligt ein guter Zweck auch drastische Mittel? Das ist die Frage beim Widerspruchsmodell, über welches die Schweiz in wenigen Tagen abstimmt. Künftig soll jeder Mensch ein potenzieller Organspender sein, sofern er nicht rechtzeitig sein Veto einlegt und sich vorzugsweise in einer staatlichen Datenbank als Nein-Sager registrieren lässt. Auf diese Weise soll es mehr Organe geben, um das Leben von kranken Menschen zu verlängern oder ihr Leiden zu mindern.

 

Die politische Unterstützung für das sogenannte Widerspruchsmodell ist gross, Bundesrat und Parlament stehen voll hinter der Vorlage, nachdem sie vor ein paar Jahren noch klar dagegen gewesen sind. Das zeigt, was eine geschickte Lobbykampagne alles bewirken kann, wenn man – wie die vom Bund mitfinanzierte Stiftung Swisstransplant – weiss, welche Botschaften man aussenden, mit welchen Bildern man werben und welche Gefühle man ansprechen muss. Und wenn man beträchtliche Summen einsetzt, um die politischen Weichen in die gewünschte Richtung zu stellen. Hätten nicht ein paar Einzelkämpfer das Referendum gegen das Widerspruchsmodell ergriffen, könnte die Bevölkerung nicht einmal über den radikalen Wechsel vom Zustimmungs- zum Widerspruchsmodell abstimmen.

 

Das Kollektiv geht vor

 

Der entscheidende Punkt beim bevorstehenden Urnengang ist allerdings nicht die Rolle von gut verbandelten Lobby-organisationen oder die Frage, wie gross die wirtschaftlichen Interessen rund um die Transplantationen sind und wer damit wie viel Geld verdient – auch wenn das höchst interessante Aspekte sind. Es geht darum, ob die Organentnahme zur Sozialpflicht wird und elementare Persönlichkeitsrechte des Einzelnen vor dem Kollektiv zurückzustehen haben.

 

Viele rational und naturwissenschaftlich orientierte Menschen sehen im Widerspruchsmodell kein Problem. Was braucht ein Toter noch ein Herz, was braucht er noch Augen oder Nieren, sagen sie sich. Doch erstens handelt es sich bei den Organspendern nicht um Leichname, die sozusagen schon auf dem Weg zum Krematorium sind. Es sind vielmehr hirntote Patienten mit lebendigen Körpern, die sich in einer Grauzone zwischen Tod und Leben bewegen. Wäre es anders, würde man sie im Operationssaal bei der Organentnahme nicht in Vollnarkose versetzen.

 

Und zweitens geht es beim Widerspruchsmodell nicht um nüchterne Naturwissenschaft, nicht um Rationalität gegen-über Leben und Sterben. Der zentrale Punkt ist das Verhältnis vom Bürger zum Staat. Heute kann sich jeder einen Spenderausweis besorgen und seinen Willen bekunden, dereinst seine Organe zu verschenken. Wer spenden will,

kann und soll das tun, keine Frage – er wird damit einen Kranken und dessen Familie überglücklich machen. Entschei-dend ist, dass der Spender dies freiwillig beschliesst, aus eigener Überzeugung.

 

Das Widerspruchsmodell will dem ein Ende setzen: Die Organspende soll von einem freiwilligen Akt der Nächstenliebe, von einer altruistischen Handlung zur staatlich verordneten Regel werden. Jeder Mensch wäre künftig von Gesetzes wegen dazu bestimmt, der Gesellschaft und der Medizin nützlich zu sein. Das Recht am eigenen Körper würde auf die Allgemeinheit übertragen, man gehörte nicht mehr bedingungslos sich selbst, sondern müsste das Recht an seinem Körper vom Staat zurückfordern. Jeder private Vertrag, der eine solche pauschale Preisgabe eines elementaren Frei-heitsrechts vorsehen würde, würde als ungültig erklärt – und genau dies soll nun im Transplantationsgesetz festge-schrieben werden. Damit würde die ganz grosse Mehrheit der Bevölkerung – rund 85 Prozent besitzen keinen Spender-ausweis – kurzerhand zu Organspendern umgedeutet.

 

Nicht mehr als ein «Mosaikstein»

 

Nun mag man einwenden, dass es nichts Wichtigeres gebe, als Leben zu retten, deshalb solle man die Sache mit den Freiheitsrechten nicht zu hoch hängen. Der Nutzen rechtfertige den Eingriff. Doch dieses Argument steht auf wackligem Grund. Denn es gibt keinen Nachweis, dass das Widerspruchsmodell die Zahl der Spenderorgane tatsächlich erhöhen würde. Das bestätigen nicht nur neue internationale Untersuchungen, sondern auch eine vom Bundesrat bestellte umfassende Vergleichsstudie. Der Grund sind die Angehörigen: Sie hätten das letzte Wort und könnten die Organ-entnahme verhindern, wie dies schon heute der Fall ist. Es ist nicht einsichtig, warum plötzlich deutlich mehr Familien

ihr tiefes Widerstreben gegen die Explantation aufgeben und in die Organentnahme einwilligen würden. Es sei denn, man setze sie moralisch unter Druck.

 

Inzwischen behaupten nicht einmal mehr die flammendsten Befürworter, dass sich der Organmangel mit dem Wider-spruchsmodell beheben lasse. Die Tonalität ist deutlich zurückhaltender geworden: Das Modell sei ein Mosaikstein, der einen Beitrag zur Erhöhung der Zahl von Organen leisten könne, heisst es nun lauwarm. Das bedeutet, dass wegen eines Mosaiksteins elementare Freiheitsrechte verletzt werden sollen – was für ein Missverhältnis. Und man stellt sich unweigerlich die Frage, was als Nächstes kommt: die einwilligungslose Erhebung persönlicher Gesundheitsdaten, die vermutete Zustimmung zur Teilnahme an klinischen Versuchen?

 

Die Organspende wird zur moralischen Pflicht

 

Paradoxerweise sind es Parteien, die sich als liberal verstehen, welche an vorderster Front für das Widerspruchsmodell werben. Die Selbstbestimmung werde in keiner Weise tangiert, heisst es. Das Individuum könne auch künftig völlig eigenständig entscheiden. Man könne ja schliesslich immer noch Nein sagen, wenn man seine Organe behalten wolle, so die Argumentation. Im Ernst jetzt?

 

Man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Mit dem Wechsel zum Widerspruchsmodell würde die Organspende zur gesellschaftlichen Norm, zur moralischen Pflicht erhoben, sie würde als Dienst an der Gemeinschaft gelten. Wenn eine Schweizer Kabarettistin poltert, dass wir doch «eine lumpige Leber von unserem hirntoten Körper» geben müssten, um einen einzigen Menschen zu retten, mag man das als satirische Übertreibung abtun. Doch die Anspruchshaltung, die in solchen Äusserungen zum Ausdruck kommt, ist real. Irgendwann wird man sich erklären und dafür rechtfertigen müssen, wenn man in Ruhe die Welt verlassen und nicht zu einem Reservoir für die Allgemeinheit werden will. Irgend-wann wird man als registrierter Nichtspender dafür verantwortlich gemacht werden, dass kranke Menschen, die ver-geblich auf eine Transplantation gewartet haben, sterben.

 

Das Widerspruchsmodell bei der Organspende ist ein weiterer, wenn auch besonders krasser Anwendungsfall des so beliebten staatlichen Schubsens und Bevormundens der Bürger. In harmloseren Bereichen hat es sich schon durch-gesetzt. In der Schule etwa, wo man die Kinder immer öfter nicht für den Mittagstisch anmelden, sondern entsprechend abmelden muss. Auch beim geplanten elektronischen Patientendossier soll es in dieselbe Richtung gehen: Wer die Datensammlung nicht will, soll sich abmelden müssen. Dem Widerspruchsmodell sind fast keine Grenzen gesetzt. So trug man sich vor ein paar Jahren in Bundesbern mit der Idee, Konkubinate nach einer gewissen Zeit automatisch in eine Art Ehe überzuführen, um bindungsscheue Männer rechtlich verstärkt in die Pflicht zu nehmen. Unwillige hätten Widerspruch einlegen müssen.

 

Der Staat lenkt und manipuliert

 

Immer mehr werden wir zu einer Gesellschaft, die sich gerne freiheitlich nennt, bei der in Tat und Wahrheit aber der Staat den Individuen zunehmend die privaten Lebensentscheide abnimmt – selbstverständlich stets zu einem guten Zweck, die Welt ist ja ach so komplex und überfordernd geworden. Im Westen schüttelt man den Kopf über China, wo die Behörden daran sind, die Bürger mit einem Bonus-und-Malus-Punkte-System zu überwachen, zu bewerten und zu erziehen – so gibt es etwa Pluspunkte und Vorzugsbehandlungen für diejenigen, die sich gesund ernähren oder Blut spenden. Solche Verhältnisse haben wir nicht, doch wie weit sind wir davon entfernt? Auch hierzulande ist es zuneh-mend der Staat, der lenkt, manipuliert und vorsagt, wie sich die Bürger «richtig» zu verhalten haben. Wobei es Politiker, Beamte und im Hintergrund oftmals einflussreiche Lobbys sind, die bestimmen, was als «richtig» anzusehen ist und welche Interessen Vorrang vor anderen haben sollen.

 

In einem freien Land ist es ein Unding, dass die Bürger sich offenbaren und sich sogar in Datenbanken registrieren lassen müssen, wenn sie sich dem staatlichen Paternalismus entziehen wollen, zumal bei einem so höchst persönlichen Entscheid wie der Organspende. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung erodieren, die staatliche Macht wächst. Mit einem liberalen Menschenbild hat eine solche Politik nichts zu tun.

 

https://www.nzz.ch/zuerich/meinung/der-mensch-gehoert-sich-selbst-und-nicht-der-allgemeinheit-ld.1682587?mktcid=nled&mktcval=175&kid=nl175_2022-5-9&ga=1