Religionen

 

 

 

Zarathustra
Zarathustra

 

 

 

Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt – ...

 

Mephistopheles in Goethes Faust

 

 

Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften,

wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt.

 

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

 

 

Die griechische Kultur kam nicht aus einem Nichts hervor.

Es gibt kein atemporales "Griechentum", das sich in historischer Zeit manifestiert hat.

Vor dem Tribunal der Geschichte ist jedes phenomenon ein genomenon.

 

Raffaele Pettazzoni, La Religion dans la Grece antique

 

 

Die Historizität einer religiösen Erfahrung sagt uns nicht,

was eine religiöse Erfahrung letzten Endes ist.

 

Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung

 

 

Religion an sich gibt es nicht. Es gibt nur Religionen.

 

Günter Lanczkowski

 

 


 

 

Was ist Religionswissenschaft?

 

 

Religionswissenschaft ist die wissenschaftliche Erforschung der Religionen. Wie bei jeder anderen Wissenschaft auch wirft die Frage, was denn die Religionswissenschaft für eine Wissenschaft sei, zuerst die Frage nach den Gegenständen und den Methoden sowie nach den Quellen der Forschung und den Grenzen der Erkenntnis und des Wissens dieser Wissenschaft auf. Doch zunächst muss die Religionswissenschaft aus heuristischen Gründen sowohl von der Religionsphilosophie als auch von den Theologien der verschiedenen Religionen und Konfessionen unterschieden werden.

 

Religionswissenschaft ist im Unterschied zur Religionsphilosophie weder philosophische Apologie der Religionen noch philosophische Kritik der Religionen. Anders als die Religionsphilosophie behandelt die Religionswissenschaft die religiösen Gedanken und Überzeugungen über Gott, die Seele, den Menschen, das Gute und das Böse, das Leben und den Tod sowie andere Inhalte in den Religionen und Konfessionen nicht im Hinblick auf ihre logische Konsistenz, epistemische Plausibilität und ontologische Wahrheit. Als historische Kultur- und Geisteswissenschaft klammert sie die kritische Frage nach den jeweiligen Wahrheits- und Geltungsansprüchen aus bzw. im Sinne der Husserlschen Methode der Epoche ein.

 

Religionswissenschaft ist in Unterscheidung von den Theologien der verschiedenen Religionen und Konfessionen weder theologische Apologie noch theologische Verkündigung der religiösen Wahrheitsansprüche bestimmter Religionen und Konfessionen. Anders als (1.) die Theologien der prophetischen und monotheistischen Religionen (Parsismus, Judentum, Christentum, Islam, Bahai-Religion), (2.) die Lehren der polytheistischen und mythischen Religionen, (z.B. ägyptische, griechische, römische, indische oder japanische Religion) und anders als (3.) die Lehren der ursprünglich und weitgehend, aber nicht durchgehend gottlosen Religionen (z.B. Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus) ist und kann es nicht das Ziel und die Aufgabe der Religionswissenschaft sein, die geistigen Inhalte der Gedanken und Überzeugungen über Gott, eine Gottheit oder die Götter und andere Inhalte der Religionen und Konfessionen als eine geoffenbarte Wahrheit oder mit einem absoluten Wahrheitsanspruch zu lehren, zu verkündigen oder zu verteidigen.  

 

1. Welche Gegenstände untersucht die Religionswissenschaft?

 

Die substantivische bzw. substanzialistische Rede von Religion "im Singular" ist eine philosophische Abstraktion, d.h. ein abstrakter Begriff, der ohne korrespondierende Realität ist. Die substantivische Rede von "der Religion" im Singular dient zumeist den apologetischen Interessen der Anhänger einer bestimmten Religion in Abgrenzung zu anderen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen. Eine solche Rede ist jedoch unwissenschaftlich und hat in der Religionswissenschaft eigentlich nichts verloren.

 

Auch die essentialistische Rede vom Wesen der Religion ist ein Relikt aus der Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts und gilt heute zurecht als unwissenschaftlich, weil unhistorisch, unphänomenologisch und ideologisch. Gleichwohl muss die Religionswissenschaft, wie jede andere Wissenschaft auch, ihren Forschungsgegenstand mit einem zumindest heuristischen Begriff der Religion eindeutig bestimmen, um sich selbst, d.h. den Religionswissenschaftlern sowie Außenstehenden in verschiedenen Hinsichten (logisch, semantisch, erkenntnistheoretisch, ontologisch) hinreichend Klarheit darüber zu verschaffen, was sie eigentlich zu erfoschen hat. Dabei kann sie jedoch den abstrakten Singular "die Religion" vermeiden und davon ausgehen, dass ihr Gegenstand die Religionen im Plural sind. Und wenn sie von "den Religionen" im Plural spricht, dann meint sie alle realen religiösen Phänomene in der komplexen Fülle ihrer geschichtlichen, sozialen und kulturellen sowie lebenspraktischen und geistigen Vielfalt. Deswegen gibt es drei grundlegende Axiome der Religionswissenschaften.

 

A. Religionen sind geschichtliche Phänomene. Als geschichtliche Phänomene sind sie einerseits bestimmten Veränderungen in der Geschichte ausgesetzt, andererseits bleiben trotz dieser geschichtlichen Veränderungen immer auch bestimmte wesentlichen Merkmale der Religionen bestehen, die die Religionswissenschaftler überhaupt erst berechtigen, von bestimmten Phänomenen des Religiösen zu sprechen.

 

B. Religionen sind soziale und kulturelle Phänomene. Als soziale und kulturelle Phänomene werden sie einerseits von Menschen einer bestimmten Gemeinschaft oder Gemeinschaft, Kultur oder Tradition geteilt, andererseits setzen sich alle Gemeinschaften und Gemeinschaften, die bestimmte Kulturen und Traditionen am Leben pflegen und erhalten, bewahren und überliefern aus menschlichen Individuen zusammen, die man dann auch empirisch und hermeneutisch studieren kann.

 

C. Religionen sind lebenspraktische und geistige Phänomene. Als lebenspraktische und geistige Phänomene unterscheiden sie sich sowohl hinsichtlich der sozial und kulturell geteilten Lebensformen und Praktiken als auch hinsichtlich der diese Lebensformen und Praktiken anleitenden geistigen Vorstellungen, d.h. von Idealen und Prinzipien, Normen und Werten.

 

 

2. Welche Methoden verwendet die Religionswissenschaft?

 

- historisch

 

- soziologisch

 

- psychologisch

 

- hermeneutisch

 

 

3. Welche Quellen benutzt die Religionswissenschaft?

 

- historische Erforschung lebendiger und toter Überlieferungen

 

- sozialwissenschaftliche Feldforschung und Studien

 

- psychologische Erforschung religiösen Denkens, Fühlens und Handelns

 

- hermeutische Erforschung von Schriften und Lehren

 

 

4. Wo liegen die Grenzen der Religionswissenschaft?

 

Wie jede andere Wissenschaft, hat auch die Religionswissenschaft bestimmte Grenzen des Erkennens und Wissens. Wissenschaftler sind Menschen und wie alle Menschen können auch Wissenschaftler nicht alles erkennen und wissen, was sie zu erkennen wünschen und wissen wollen. Auch Religionswissenschaftler können nicht alles erkennen, was sie zu erkennen wünschen, und nicht alles wissen, was sie gerne wissen wollen.

 

Religionswissenschaftler können nicht vollständig erkennen, warum es überhaupt Religionen gibt und wie sie ursprünglich entstanden sind. Vielmehr müssen sie sie zuerst als eine Realität hinnehmen, bevor sie bestimmte wissenschaftliche Hypothesen über den evolutionären Ursprung und die soziale oder kulturelle, lebenspraktische oder geistige Funktion der Religionen aufstellen.

 

Dass es Religionen gibt, daran kann es keinen vernünftigen Zweifel geben. An den Theorien und Hypothesen über den Ursprung und die Funktion, die Entwicklung und Geschichte der Religionen gibt es nicht nur verschiedene Theorien und Hypothesen; sie sind auch bis zum heutigen Tage umstritten. Deswegen gibt es auch nicht die eine und methodisch einheitliche Religionswissenschaft, sondern verschiedene Denkansätze und methodische Konzeptionen der Religionswissenschaft.

 

Religionswissenschaftler können jedoch nicht wissen, ob es Gott wirklich gibt und das heißt unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und Geist wirklich gibt. Nicht Gott ist der Gegenstand der Religionen, sondern die Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen in ihrer sozialen und kulturellen Vielfalt. Ziel und Aufgabe der Religions-wissenschaften ist nicht die Erkenntnis Gottes oder des Heiligen, sondern das Verstehen und Erklären der geschichtlichen Entstehung, Entwicklung und Vergänglichkeit der Gottesbilder und Gottesgedanklen der Menschen. Dazu gehören sowohl die Gottesbilder und Gottesgedanken des menschlichen Bewusstseins und Geistes sowie in Kunstwerken und Schriften sowie sozialen und kuturellen Lebensformen und Praktiken.

 

Ob es Gott oder das Heilige überhaupt gibt, was das Wesen oder die Natur Gottes oder des Heiligen ist, wie Gott oder das Heilige beschaffen ist und wie er in der Welt wirkt und handelt, ist kein Thema und kein Problem der Religions-wissenschaft. Über diese Fragen streiten sich die Philosophen und Theologen seit Jahrhunderten. Diese philosophischen und theologischen Streitigkeiten sind jedoch oftmals selbst schon - in einem weiteren Sinne - ein religiöses Phänomen und gehören deswegen auch zu den Gegenständen der religionswissenschaftlichen Forschung. Es ist deswegen auch nicht Ziel und Aufgabe der Religionswissenschaft, sich an diesen philosophischen und theologischen Diskussionen zu beteiligen, sondern sie - in einem weiteren Sinne - als religiöse Phänomene zur Kenntnis zu nehmen und zu untersuchen.

 

Weiterhin wohnen den Religionswissenschaften implizite Grenzen inne, die mit ihrem spezifischen Gegenstand, ihren besonderen Quellen der Erkenntnis und des Wissens sowie mit ihren sachlich angemessenen Methoden der Forschung zu tun haben:

 

1. Die historische Rekonstruktion der Geschichte einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft transzendiert die rein empirische Evidenz des faktischen Erkennen und Wissens und enthält willkürliche Momente der Selektion von Fakten, der verallgemeinernden Hypothesenbildung sowie der kontrollierten Spekulation über kausale, teleologische und intentionale Zusammenhänge.

 

2. Die sozialwissenschaftliche Feldforschung und Studien zu einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft gehen von bestimmten eigenen Vorstellungen und Begriffen, Vorurteilen und Überzeugungen aus, die nicht immer den sozialen Phänomenen der jeweils untersuchten Religion angemessen sind. Sie muss sich deswegen das Bewusstsein der Alterität, d.h. der Identität und Differenz der jeweiligen Religion oder Religionsgemeinschaft bewahren.

 

3. Die psychologische Erforschung des religiösen Denkens, Fühlens und Handelns von individuellen Mitgliedern einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft oder des beobachtbaren Verhaltens einer ganzen religiösen Gruppe basiert immer auf einer bestimmten Interpretation psychischer und intentionaler Phänomene auf der empirischen Basis der Wahrnehmung, des Verstehens und der Erklärung von non-verbalem Verhalten und verbalen Äußerungen sowie von Konsequenzen und Resultaten (Gebetsformen, Tänze, Rituale, etc.).

 

4. Die hermeneutische Erforschung des religiösen Denkens, Fühlens und Handelns von individuellen Mitgliedern einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft oder des beobachtbaren Verhaltens einer ganzen religiösen Gruppe basiert immer auf einer bestimmten Interpretation der praktischen, schriftlichen oder künstlerischen Resultate ihres Verhaltens und Handelns auf der Basis der Wahrnehmung, des Verstehens und der Erklärung von Schriften und Kunstwerken (Bilder, Musik, Architektur, etc.).

 

 © Ulrich W. Diehl, März 2010

 


 

 

Kleine Auswahl an Religionswissenschaftlicher Literatur

 

 

Bianchi, Ugo, Probleme der Religionsgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964

 

Bucke, Richard, Kosmisches Bewußtsein. Zur Evolution des menschlichen Geistes, Frankfurt a.M.: Insel 1993

 

Brunner-Traut, Emma (Hg.), Die fünf großen Weltreligionen, Freiburg: Herder  1991

 

Dawson, Christopher, Religion und Kultur, Düsseldorf: Schwann 1951

 

Eliade, Mircea, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt a.M.: Insel 1998

 

Glasenapp, Helmuth von, Die fünf Weltreligionen. München: Heyne 1963

 

Heiler, Friedrich, Die Religionen der Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart: Reclam 1959

 

Hick, John, God has Many Names, Philadelphia: The Westminster Press 1982

 

James, William, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a.M.: Insel 1997

 

Khoury, Adel Th. (Hg.), Das Ethos der Weltreligionen, Freiburg: Herder 1993

 

Lanczkowski, Günter, Begegnung und Wandel der Religionen, Düsseldorf: Diederichs 1971

 

Mensching, Gustav / Jaspers, Karl, u.a., Die großen nicht-christlichen Religionen unserer Zeit in Einzeldarstellungen,

Stuttgart: Reclam 1954

 

Mommaers, Paul, Was ist Mystik? Frankfurt a.M.: Insel 1979

 

Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen,

München: Beck 1979

 

Pettazzoni, Der allwissende Gott, Frankfurt a.M.: Fischer 1960

 

Spiegelberg, Frederic, Die lebenden Weltreligionen, Frankfurt a.M.: Insel 1977

 

Stolz, Fritz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988

 

Toynbee, Arnold J., Wie stehen wir zur Religion? Die Antwort eines Historikers, Zürich: Europa 1958

 

Zaehner, Robert C., Mystik: Harmonie und Dissonanz. Die östlichen und die westlichen Religionen,

Freiburg i.B.: Walter 1980

 

 


Download
Ulrich Diehl, Was ist das eigentlich, das Fromme?
Zu Platons Dialog Eutyphron, in: Gregor Fitzi (Hg.),
Platon im Diskurs, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006
EUTYPHRON.pdf
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Download
Ulrich Diehl, Besessenheit und Ergriffenheit aus philosophischer Sicht
in: H.A.Kick (Hg.), Besessenheit, Trance und Exorzismus,
Münster: LIT Verlag 2005
BESESSERGRIFF.pdf
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Karl-Josef Kuschel: „Wir können die Welt nicht ohne den Einfluss der Weltreligionen verstehen.“ (2017)

 

Ein „guter“ Theologe kennt sich in seinen Heiligen Schriften aus und kann Auskunft geben über deren Werden und ihre Bedeutung damals und heute. Das ist schließlich auch die Pflicht eines Theologen. Die Kür macht den „sehr guten“ Theo-logen aus, wenn er über den eigenen Tellerrand schauen kann, wenn er Bezüge herstellen kann zu anderen theologi-schen Schriften, zur Literatur, zu gesellschaftlichen Strömungen. Karl-Josef Kuschel ist ein solch „sehr guter Theologe“, der sich vor allem mit dem interreligiösen Trialog zwischen den monotheistischen Religionen beschäftigt hat. (SWR)

 

https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/aexavarticle-swr-49720.html