Humanmedizin

 

 

Das Leben ist kurz,
die Kunst ist lang,
die Gelegenheit ist flüchtig,
das Experiment ist gefährlich,
das Urteil ist schwierig.
 

Hippokrates

 

 

... wie man nicht die Augen ohne den Kopf und nicht den Kopf ohne den Körper zu heilen versuchen solle, genau so auch nicht den Körper ohne die Seele. Dass die hellenischen Ärzte den meisten Krankheiten gegenüber hilflos seien, liege lediglich daran, dass sie das Ganze vernachlässigten. Auf das Ganze aber müsse man seine Sorgfalt richten. Denn ohne sein Wohlergehen komme auch der Teil unmöglich in eine gute Verfassung. Von der Seele nämlich gehe alles Schlechte und Gute für den Körper und den ganzen Menschen aus und ströme ihm von dort zu wie vom Kopf zu den Augen. Die Seele also müssen man zuerst und am sorgfältigsten behandeln, wenn sich der Kopf und, was sonst zum Körper gehört, in einem guten Zustand befinden sollen.

 

Sokrates in Platons Charmides

 

 

Natura sanat, medicus curat. / Die Natur heilt, der Arzt kuriert.

 

Paracelsus

 

 

Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen:

Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.

 

Immanuel Kant

 


 

Medizin in der Krise: Gedankenlose Ärzte – sprachlose Patienten

 

Kamps, Harald, Deutsches Ärzteblatt 2003; 100 (37): A-2354 / B-1966 / C-1856

 

Das deutsche Gesundheitswesen durch die Brille eines „Heimkehrers“ betrachtet

 

Das Leben ist nicht kompliziert, aber komplex.“ So beschrieb ein norwegischer Filmheld die Episoden eines missglückten Lebens – das ihm zum Schluss dann doch Hoffnung machte. Dieses Motto könnte auch mich optimistisch stimmen: Vor einem halben Jahr kehrte ich nach 20 Jahren als Allgemeinarzt in Norwegen gegen den Strom frustrierter Ärzte nach Deutschland zurück. Ich befand mich plötzlich mitten in einer Debatte, die das Gesundheitswesen kurz vor dem Unter-gang sieht, und machte selbst Erfahrungen, die mich um den Schlaf hätten bringen können. Auffällig ist, dass an vielen wichtigen Problemen vorbei- diskutiert wird. Vielen wird dagegen die Schuld an der Misere zugeschoben.

 

- „Die Ärzte“, sagen die einen: Sie sind geldgierig und machtbesessen, machen Geld mit toten Patienten und schauen

die zwei Minuten zusammen mit dem Patienten nur in den Computer.

 

- „Die Krankenkassen“, sagen die Ärzte: Sie sind nur darauf aus, größer zu werden, mehr Umsatz zu machen, um sich größere Chefetagen und neuere Dienstwagen leisten zu können.

 

- „Die Politiker“, sagen alle: Sie sind handlungsunfähig, lassen sich verwirren durch Experten, die in unterschiedlichen Kommissionen ähnliche Vorschläge machen, die zu kosmetischen Änderungen führen.

 

- „Die Pharmaindustrie und andere Geschäftemacher“, sagten schon immer alle.

 

- „Die Patienten selber“, sagen die Mutigen: Sie wollen zum Nulltarif immer mehr und lassen sich nur behandeln, ohne selbst zu handeln.

 

Der Heimkehrer sieht zunächst ein Gesundheitswesen, das mehr in einer Theoriekrise als in einer Geldkrise steckt. Und daran sind die Ärzte und die medizinischen Fakultäten schuld. Medizinisches Fachwissen beschreibt nicht das komplexe Leben, sondern benutzt nach wie vor Metaphern, die den Körper als eine Maschine oder einen Kriegsschauplatz be-schreiben. Hier wird „gekämpft“, die „Immunabwehr gestärkt“, „Batterien werden wieder aufgeladen“, wenn man nicht ganz „ausgebrannt“ ist.

 

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die so genannte alternative Medizin gibt auch nur Quasiantworten auf komplexe Fragestellungen. „Wir haben nichts Körperliches gefunden, es muss psychisch sein“, ist der Horrorsatz, der die Hilflosig-keit unserer medizinischen Theorie beschreibt. Das gilt auch der psychosomatischen Medizin, die ja nichts anderes leis-tet, als die Wechselwirkung von Psyche und Körper zu benennen, so als ob die Psyche ein eigenes Organ sei, das sich irgendwo im Gehirn versteckt.

 

Vielleicht sollten Ärzte eher Romane als Lehrbücher lesen, um wie bei Christa Wolff die Leibhaftigkeit des Körpers zu erfahren? Der Körper hat ein sehr plastisches Gedächtnis; er denkt mehr als zwölf Millionen Gedanken in der Sekunde und gehorcht einfachen Regeln, um möglichst genussvoll zu überleben. Die norwegische Medizin beschreibt den Körper leider auch nicht kreativer als die deutsche, aber es findet eine lebhaftere Debatte über eine moderne, um nicht zu sagen: postmoderne, Theorie der Medizin statt.

 

Eine Gruppe norwegischer Allgemeinärzte organisierte vor einigen Jahren internationalen Widerstand gegen die vor-eiligen Empfehlungen von Kardiologen, rigorose Blutdruckgrenzen zu definieren, die fast alle Menschen über 70 Jahre zu Patienten gemacht hätten. Unterstützt durch ein kluges Marketing der Pharmaindustrie, sollten immer mehr Men-schen immer teurere Blutdruckmedikamente schlucken – „zur Behandlung der Blutdruckkrankheit“. Dabei ist längst bekannt, dass eine solche Behandlung nur ein Los in der großen Lebenslotterie anbietet. Wer der eine unter den min-destens anderen fünfzig ist, der im nächsten Jahr dank Behandlung vom Schlaganfall verschont wird, bleibt dabei ungewiss. Die norwegischen Allgemeinärzte argumentierten für die Berechnung eines Gesamtrisikos und für die Einbeziehung des Patienten in die Entscheidung, ob das Erkrankungsrisiko nicht genauso gut gesenkt werden kann, wenn er keine Zigaretten mehr kauft, anstatt sich neue Medikamente schenken zu lassen.

 

Auch hier täuschen sich die akademischen Erbsenzähler, die mit ihren Detektoren durchs Land ziehen und Risiko-faktoren eines gefährlichen Lebens registrieren: Die Menschen wollen keineswegs um jeden Preis zwei bis drei Jahre länger leben, wenn sie dafür jeden Tag Körnerbrot essen sollen, höchstens ein halbes Glas Wein verzehren dürfen und um zehn Uhr ins Bett gehen müssen. Wann begreifen die Ärzte, dass sie mit ihren Kassandrarufen mehr Angst als Vertrauen schaffen? Nicht jedes geglückte Forschungsprojekt lässt sich eins zu eins im ganzen Land umsetzen. Ärzte sollten sehr gute Gründe haben, bevor sie aus einem Menschen eine Risikoperson machen.

 

Das Streben nach Gesundheit drängt leicht andere Werte in den Hintergrund – zum Beispiel das Erleben sozialer Ge-rechtigkeit. Eine norwegische Allgemeinärztin fragte unlängst in ihrem Promotionsvortrag: „War Robin Hood gut für die Volksgesundheit?“ Die Antwort war ein eindeutiges Ja, denn Robin Hood habe dazu beigetragen, Armut zu beseitigen. Überall auf der Welt gilt, dass der Finanzminister und der Erziehungsminister mehr für die Volksgesundheit erreichen können als die Gesundheitsministerin.

 

Ein Arzt, der es unterlässt, ein Röntgenbild zu veranlassen, das den Lungenkrebs noch rechtzeitig entdeckt, wird schnell an den Pranger gestellt. Wann wird der erste Arzt angeklagt, der zu allen Zeiten, „um auch nichts zu übersehen“, Be-funde seiner Patienten sammelt, die diesen Krankheiten verschaffen, um die sie nicht gebeten haben: einen Prostata-krebs, der auch ohne Therapie sein Leben nicht verkürzt; einen hohen Cholesterinspiegel, der jede Mahlzeit zu einem Leidensweg des schlechten Gewissens macht; oder einen Bandscheibenvorfall, der ab jetzt die Erklärung für alle Rückenschmerzen ist?

 

Deutsche Chipkartenbesitzer sind besonders gefährdet, Opfer eines sich frei anbietenden Gesundheitsmarktes zu sein. Hier fehlt nicht nur der Lotse, sondern auch der kompetente Ratgeber, der Menschen vor dem Gesundheitswesen be-wahrt. Eine solche Funktion kann nur von den bestqualifizierten Ärzten übernommen werden – von Hausärzten, die ihren Patienten die eigene Sprache zurückgeben, weil sie sich mehr für deren Lebensgeschichte als für Befunde inte-ressieren. Ein aufmerksamer Dialog erhöht auch die Chancen, den rechten Augenblick zu erfassen, wann das vielfältige Gesundheitsangebot wirklich gesünder machen kann.

 

Hier zeigt das norwegische Gesundheitswesen wirklich seine Stärke. Jeder der viereinhalb Millionen Bürger des Landes hat einen Hausarzt. Die meisten dieser Allgemeinmediziner haben eine fünfjährige Facharztweiterbildung oder befinden sich in der Weiterbildung. Die Weiterbildung muss alle fünf Jahre neu dokumentiert werden, sonst wird die Facharzt-anerkennung entzogen. Gegen die anfängliche Skepsis der Ärzte wurde vor drei Jahren ein Listensystem nach däni-schem Vorbild eingeführt: 1 500 Menschen hat ein Allgemeinarzt durchschnittlich auf seiner Liste, ein Drittel seines Einkommens bekommt er als Kopfpauschale. Ein solches System macht nicht nur das Doktorhopping schwierig, es ermöglicht endlich auch praxisnahe allgemeinmedizinische Forschung, da jetzt nicht nur Patienten gezählt, sondern auch „auf den Nenner gebracht werden können“. Und die Kompetenz der norwegischen Allgemeinmediziner wird von den Menschen geschätzt. Die Zusammenarbeit mit den Fachärzten, entweder in den Polikliniken oder in freier Praxis,

ist unkompliziert und beruht auf gegenseitiger Anerkennung. Der Hausarzt ist nicht der Lotse, sondern eher der Diri-gent in einem Orchester, in dem der Patient die erste Geige spielt.

 

Die Zahl der Krankenkassen in Deutschland hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren stark reduziert. In zehn Jahren werden vielleicht noch 100 übrig geblieben sein. Immer noch zu viel, um als kreative Akteure bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aufzutreten. Eine – wie in Norwegen – aus Steuergeldern bezahlte Einheitskasse, der alle an-gehören, die einen Wohnsitz in Norwegen haben, mit bescheidenen Verwaltungskosten – das mag hierzulande noch Utopie sein. Die chaotische Vielfalt der deutschen Kassen trägt dazu bei, dass die Kassen eher um ihr eigenes Überleben kämpfen als um die Belange ihrer Mitglieder. Dabei bezahlt die norwegische Bürgerversicherung auch nicht alles – beim Zahnarzt nur die Vorsorge bis zum 21. Lebensjahr, für jeden Arztbesuch werden erst mal umgerechnet 15 Euro Eintritt bezahlt, und die Krankenkasse deckt nur Medikamente für chronische Erkrankungen. Schlafmittel und das Penicillin für die Halsentzündung werden aus eigener Tasche bezahlt.

 

Die internationale Pharmaindustrie verdient auch in Norwegen gutes Geld. Gerade hier werden neue Medikamente oft auf ihre Marktfähigkeit getestet – norwegische Ärzte lassen sich wohl gerne zu „innovativem Rezeptieren“ anregen. Das übersichtliche Gesundheitswesen macht klinische Studien einfach und verleitet zur sofortigen Umsetzung ihrer Ergeb-nisse. Es ist nur wenige Jahre her, dass nur drei gleichwertige Medikamente zugelassen wurden. 3 000 statt 40 000 Spezialpräparate machen den Überblick leichter. Die Hürde, den Bedarf nachzuweisen, ist gefallen, aber die Aufnahme

in die „Positivliste“ der von der Krankenkasse bezahlten Medikamente ist begehrt – hier macht sich oft langjährige Sponsorarbeit wichtiger Patientenorganisationen bezahlt, die über geschickte Medienarbeit die Zulassung von Medikamenten mit zweifelhaftem Kosten-Nutzen-Profil erreichen. Die Forderung nach einer Positivliste gab es schon während meines Studiums in Deutschland und stand nach 30 Jahren kurz vor der Umsetzung – bevor sie nun von der großen Gesundheitskoalition unter den Teppich gekehrt wurde.

 

Dass das Gesundheitswesen den einfachen Regeln der Marktwirtschaft gehorcht, suggerieren die Politikberater und machen den Patienten zum Kunden, der nur bei den „Top Ten“ der Ärzte-Rankings seine Chipkarte abgibt. „Walk-in-Kliniken“, die eine Magnetresonanztomographie ohne Wartezeit anbieten, machen das Gesundheitswesen aber nicht billiger, sondern nur ungerechter: Rabatte für die vielen mit den schnell heilbaren Krankheiten und Strafzoll für die Alten, Gebrechlichen und Sozialhilfeempfänger. Auch hier würde es sich lohnen, einmal den Blick über den eigenen Zaun zu richten und aus den skandinavischen und englischen „Think-tanks“ gute Ideen aufzugreifen – Ideen, die meist weniger Staat, weniger Standesmonopol beinhalten. Es lohnt sich, das Gesundheitswesen als ein komplexes adaptives System

zu erkennen, das den regulierenden Einfluss sozial verantwortlicher Politiker fordert, die zielgerichtet darauf hinwirken, dass es weiterhin als ein solidarisches System erhalten bleibt. Gefragt sind eben auch solche Politiker, die es verstehen, in einem lokal vernetzten und konsequent auf die Rückmeldung der Patienten reagierenden Gesundheitssystem mit minimalen Forderungen kreative Prozesse auszulösen.

 

Traurig stimmt die Erfahrung, dass die Patienten ihre eigene Sprache verloren haben. Statt von ihren Kreuzschmerzen zu reden, beschreiben sie ihre prolabierten Bandscheiben; statt vom jahrelangen Schuften auf dem Bau zu berichten, klagen sie über Arthrosen der Kniegelenke. Und als Beweis für ihr Leiden schleppen sie große Tüten mit Röntgenbildern ihrer Wirbelsäule mit sich herum und dicke Aktenordner mit allen Befunden der letzten Krankenhausaufenthalte. Auch sie verwechseln die Augenblicksbilder, die eine Spiral-Computertomographie macht, mit dem komplexen Film des wirk-lichen Lebens. Auch sie bevorzugen einfache Antworten auf komplexe Fragen. Auch sie weichen der Widersprüchlichkeit des Lebens aus: Angst und Vertrauen, Trauer und Glück, Tod und Leben sind wichtige Eckpunkte unseres Lebens.

 

Unsere Lebenswelt kann mit vielen Farben gemalt werden. Patienten geben sich beim Arzt – und vielleicht auch in ihrem Leben – mit zu wenig Farben zufrieden, in Norwegen wie in Deutschland.

 

Natürlich lassen sich die Lösungen eines Gesundheitswesen nicht ohne weiteres auf ein anderes übertragen – dazu sind die Geographie, die Kulturen, die Geschichte zu unterschiedlich. Aber aus Unterschieden kann man lernen. Vielleicht ist ja die Geschichte des Gesundheitswesens in der DDR noch nicht so alt, dass sie, mit der Flexibilität der westlichen Markt-wirtschaft und der Kreativität eines demokratischen Patientenbewusstseins gepaart, ein besseres Gesundheitswesen ergeben könnte. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich nicht am eigenen Leib erfahren habe.

 

Harald Kamps

 

E-Mail: harald.kamps@t-online.de

 


 

Aufruf zu einer neuen Medizin der Zwischenmenschlichkeit

 

In einer Medizin, die allein von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie geprägt ist, fühlt sich der kranke Mensch in seiner Lebenskrise oft allein. Dabei sind Pflegende, Ärzte und Psychotherapeuten angetreten, um sich dem ganzen Menschen zu widmen, aber dafür wird ihnen im heutigen System kein Raum gegeben.

 

Der Vortrag entwirft ein Medizinkonzept, das auf die Bedeutsamkeit einer verstehenden Beziehung zum Patienten abhebt. Es wird eine Ethik in der Medizin entworfen, die auf die Kraft der Zuwendung und der Begegnung setzt. Im

Zuge der Industrialisierung und Ökonomisierung der Medizin geht nicht weniger verloren als der Blick für die Not-wendigkeit einer Haltung des verstehenden Beistandes. Durch dieses Verstehen vermitteln wir dem kranken Menschen Anerkennung, und dies lässt in ihm ein Gefühl der heilsamen Selbstachtung aufkommen. Diese heilsame Kräfte der Zuwendung gilt es wiederzuentdecken.

 

Dr. Maio ist Mediziner und Philosoph.

 

Er promovierte in Freiburg und forschte in Lübeck zur Ethik der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten. Maio kritisiert in seinen Publikationen die zunehmende Kommerzialisierung der Medizin. Maio fürchtet, dass durch das markt-orientierte Handeln die besondere Stellung der Ärzte in der Gesellschaft verloren gehen könnte.

 

https://www.hospizdienst-rastatt.de/09-10-2018-prof-dr-maio-den-kranken-menschen-verstehen-2/

 


 

Kritik an Ökonomisierung der Medizin

 

Hängt die Klinikexistenz nur noch von Bilanzen ab, bleiben Patienteninteressen auf der Strecke. Entsprechende Kritik wurde auf einer Veranstaltung der Akkreditierten Labore in der Medizin laut.

 

Eine zunehmende Ökonomisierung und damit „Entwertung“ ärztlichen Handelns hat der Freiburger Medizinethiker Professor Giovanni Maio beklagt. „Moderne Medizin bedient sich der Prinzipien moderner Industrie – als ginge es darum, so viele Patienten wie möglich durch den Medizinbetrieb zu schleusen“, sagte Maio bei einer Veranstaltung

des Verbands der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) am Montag in Berlin. Ärztliches Handeln dürfe aber

nicht zu wirtschaftlichen Zwecken missbraucht werden.

 

Die Warnung dürfte bei Ärzten auf offene Ohren stoßen. Erst kürzlich hatten mehrere Medizinerverbände in einem gemeinsamen Appell gegen eine von ökonomischen Zwängen beherrschte Patientenversorgung Front gemacht und

ein Umdenken gefordert.

 

Wenn Praxen und Kliniken wie Unternehmen betrachtet würden, sei das ein „Fehler“, betonte auch Maio. „Medizin ist kein Betrieb, sondern soziale Praxis.“ Die „Sorgelogik“ und nicht die betriebliche Logik ständiger Produktivitätssteige-rung müsse das Handeln von Ärzten bestimmen.

 

Beziehungsarbeit lohnt nicht für Investoren

 

Hänge die Existenz einer Klinik nur noch von Bilanzen ab, habe man es mit einer „Ziel-Mittel-Umkehrung“ zu tun, so Maio weiter. Der Patient gerate dann zum „Mittel zum Zweck“, und dieser bestehe in höheren Erlösen. Derzeit würden – politisch gewollt oder toleriert – „falsche Anreize“ gesetzt, die all das ausblendeten, was die Arbeit von Ärzten ausmache.

 

Die „fließbandartige Produktion“ von Gesundheit führe dazu, dass unterschiedliche Patienten gleichgemacht würden, gab der Medizinethiker zu bedenken. Die „Professionalität der Ärzte“ bestehe aber gerade darin, „dass sie das Labor-paradigma parat haben und den Einzelfall verlässlich beurteilen können“. Sie müssten stets prüfen, ob Standards

gültig seien oder der zu behandelnde Patient „anders“ sei als der Standard es vorsehe.

 

Diese „Komplexitätsbewältigungs-Kompetenz“ werde im Gesundheitsbetrieb durch „Handreichungs-Kompetenz“ ersetzt, betonte Maio. „Einfach soll es sein.“ Zeit- und personalintensive Beziehungsarbeit lohne sich für Investoren nicht. Um solche Beziehungsarbeit sollte es in der Medizin aber „zuallererst“ gehen – vor allem, wenn chronisch

kranke Menschen zu versorgen seien.

 

„Die, die der Medizin am meisten bedürfen, werden marginalisiert.“ Mit „ziemlich gesunden Menschen“ lasse sich dagegen viel Geld verdienen. „Das ist ganz gefährlich.“ Freiberuflichkeit und damit Unabhängigkeit des Arztberufs gehörten daher „neu in den Blick genommen“, forderte Maio.

 

Die Frage, wie unabhängig ein Arzt sei, hänge nicht davon ab, ob er in Niederlassung oder Anstellung praktiziere, betonte die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer Dr. Ellen Lundershausen. „Es darf alle Facetten der Berufsaus-übung geben, solange sich der Arzt an die Prinzipien der Freiberuflichkeit hält.“

 

Arztberuf neu in den Blick nehmen

 

Sie habe allerdings Zweifel, ob das Hauptinteresse eines MVZ-Betreibers mit Hauptsitz in China dem hiesigen Patienten-wohl gelte, so Lundershausen. Die Kritik Maios an der Raum greifenden Ökonomisierung der Medizin habe ihre „Arzt-seele schon gestreichelt“. Letztlich sei die Entscheidung, sich niederzulassen, auch „eine Typenfrage“, sagte die BÄK-Vizepräsidentin. Nicht jeder sei für selbstständige Arbeit geschaffen. Die ärztliche Niederlassung sei aber auch über Jahre „schlecht geredet“ worden.

 

Selbstkritisch merkte Lundershausen an: „Wir haben auch vergessen, jungen Menschen Mut zu machen, in die Nieder-lassung zu gehen.“ Man könne als niedergelassener und als angestellter Arzt „ein guter Arzt“ sein, machte der Sprecher des „Bündnis Junge Ärzte“ und Facharzt für Innere Medizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Dr. Kevin Schulte deutlich. „Wir verstehen schon, was Freiberuflichkeit heißt, wir nennen es nur nicht so, wir fühlen es.“

 

In der Diskussion werde noch immer verkannt, dass sich Arbeit, auch die von Ärzten, verändert habe. Der Fokus richte sich nicht bloß auf die Karriere, sondern auch auf ein intaktes Familienleben. Politik und Gesellschaft ließen die jungen Ärzte allein mit der Aufgabe, beides unter einen Hut zu bekommen. „Wir stehen am Scheideweg.“

 

Trotz Anstellung übe er einen „freien Beruf“ aus, sagte Dr. Philipp Demmer, Facharzt für Humangenetik am IMD Labor Berlin. „Ich empfinde den Beruf sogar als freier, da ich mich mehr um Diagnostik kümmern kann und weniger mit Abrechnungsdingen zu tun habe.“ „Ich kann mich auf das Arzt-Sein konzentrieren“, betonte auch Franziska Wiebesiek, Fachärztin für Laboratoriumsmedizin am MVZ Diamedis. In Anstellung könne sie Arbeit und Familie besser vereinen.

 

Junge Ärzte wollen ein Familienleben

 

Botschaften, die in der Politik angekommen seien, betonte CSU-Gesundheitspolitiker Dr. Stephan Pilsinger. „Den Arzt, wie man ihn früher kannte, gibt es nicht mehr.“ Es sei nicht der finanzielle Aspekt, der Ärzte zur Anstellung bewege. Junge Ärzte wollten vielmehr ein „ordentliches Familienleben.“ Um die Attraktivität des Arztberufes zu steigern, müsse man Ärzte von nicht-ärztlichen Aufgaben entlasten. „Da müssen wir uns als Politik an die Nase fassen und überlegen, was wir hier noch mehr tun können.“

 

„Unser Hauptproblem sind die Hamsterräder“, betonte auch FDP-Gesundheitspolitiker Professor Andrew Ullmann. Bei der Frage, was Ärzte am Meisten störe, stehe überbordende Bürokratie an erster Stelle. „Man kann es auch über-treiben.“ Der „Generalverdacht“ gegenüber Ärzten, sie rechneten falsch ab, nerve allmählich.

 

Für die gesetzlichen Krankenkassen stellte der Politikchef des GKV-Spitzenverbands Michael Weller fest, dass „Qualität und Organisation“ ärztlicher Arbeit entscheidend seien, nicht die Form der Berufsausübung. Entscheidend sei, „wie frei ist der Arzt in seiner Entscheidung“. Hier seien alle gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen. „Ich hätte ein Problem, wenn sich marktbeherrschende Strukturen ausbilden.“ Womöglich brauche es eine Art „Firewall“.

 

© Georg Lopata/axentis

 

„Der liebste Arzt ist der, bei dem sich der Patient gut aufgehoben fühlt“, unterstrich auch der Geschäftsführer des Ver-bands der privaten Krankenversicherung (PKV) Dr. Florian Reuther. Das sei weniger eine Frage von niedergelassen oder angestellt, mehr eine Frage der Rahmenbedingungen. Freiberuflichkeit werde dann „ruiniert“, wenn der Eindruck ent-stehe, der Arzt handele als „Agent“, der Medizin nur zuteile.

 

ALM-Vorsitzender Dr. Michael Müller argumentierte ähnlich. Ärztliches Handeln müsse vom Vorsatz geleitet sein, das medizinisch Notwendige zu tun. Junge Ärzte wollten interdisziplinär arbeiten und mit anderen zusammen, und sie wünschten sich eine gute Work-Life-Balance sowie motivierende Rahmenbedingungen, sagte Müller und verwies auf entsprechende Umfragen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

 

https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Kritik-an-Oekonomisierung-der-Medizin--403330.html

 



 

Die Boten des Todes

 

Ein Märchen der Brüder Grimm

 

Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der großen Landstraße, da sprang ihm pIötzlich ein unbekannter Mann entgegen und rief 'halt! keinen Schritt weiter!' 'Was,' sprach der Riese, 'du Wicht, den ich zwischen den Fingern zerdrük-ken kann, du willst mir den Weg vertreten? Wer bist du, daß du so keck reden darfst?' 'Ich bin der Tod,' erwiderte der andere, 'mir widersteht niemand, und auch du mußt meinen Befehlen gehorchen.' Der Riese aber weigerte sich und fing an mit dem Tode zu ringen. Es war ein langer heftiger Kampf, zuletzt behielt der Riese die Oberhand und schlug den Tod mit seiner Faust nieder, daß er neben einen Stein zusammensank. Der Riese ging seiner Wege, und der Tod lag da besiegt und war so kraftlos, daß er sich nicht wieder erheben konnte. 'Was soll daraus werden,' sprach er, 'wenn ich da in der Ecke liegen bleibe? es stirbt niemand mehr auf der Welt, und sie wird so mit Menschen angefüllt werden, daß sie nicht mehr Platz haben, nebeneinander zu stehen.' Indem kam ein junger Mensch des Wegs, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine Augen hin und her. Als er den halb Ohnmächtigen erblickte, ging er mitleidig heran, richtete ihn auf, flößte ihm aus seiner Flasche einen stärkenden Trank ein und wartete, bis er wieder zu Kräften kam. 'Weißt du auch,' fragte der Fremde, indem er sich aufrichtete, 'wer ich bin, und wem du wieder auf die Beine geholfen hast?' 'Nein,' antwortete der Jüngling, 'ich kenne dich nicht.' 'Ich bin der Tod,' sprach er, 'ich verschone niemand und kann auch mit dir keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst, daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir, daß ich dich nicht unver-sehens überfallen, sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole.' 'Wohlan,' sprach der Jüngling, 'immer ein Gewinn, daß ich weiß, wann du kommst, und so lange wenigstens sicher vor dir bin.' Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. 'Sterben werde ich nicht,' sprach er zu sich selbst, 'denn der Tod sendet erst seine Boten, ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.' Sobald er sich gesund fühlte, fing er wieder an in Freuden zu leben. Da klopfte ihn eines Tages jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach 'folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.' 'Wie,' antwortete der Mensch, 'willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen, daß du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen.' 'Schweig,' erwiderte der Tod, 'habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dirs nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? wird dirs nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?' Der Mensch wußte nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.