Tod, Trauer, Trost

 

Der Tod ist eine Überforderung des Menschen, der vermutlich nur mit einer Kultur der Ungenauigkeit beizu-kommen ist. Diese lehrt uns, Dinge zu übersehen, die wir sehen oder zumindest erahnen. Sie entschärft die bitteren Härten des Sterbens durch Geschichten, Hinzufügungen und Weglassungen. Diese Ungenauigkeit ist

ein Trostspender, und wenn die Wahrheit des Todes unerträglich wird, dann darf man sich bei zahlreichen be-schwichtigenden Hilfskonstruktionen ausruhen.

 

Franz Josef Wetz lehrt Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

 

„Der November. Ach dieser Monat trägt den Trauerflor ... Nun sind die Tage grau wie nie zuvor. ... Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor ... (Ach) der November trägt den Trauerflor“, dichtet Erich Kästner.

 

Wie soll man dem Leben jemals verzeihen, dass es endlich ist? Zu verzeihen heißt doch, sich nicht mehr als hilfloses Opfer zu fühlen. Aber der Tod – ist er nicht eine Nummer zu groß für uns, die wir um die eigene Sterblichkeit und die unserer Freunde und Angehörigen wissen? Im Unterschied zu anderen Lebewesen erahnen wir im Blühen bereits unser baldiges Verwelken. Für uns Menschen liegt das Ende immer schon in Sichtweite des Anfangs. Soeben den Lebensgipfel erklommen, werden schon die unumgänglichen Abschiede unserer Zukunft vorbereitet. Ab einem bestimmten Lebens-alter kann man im Badezimmer allmorgendlich dem Tod bei der Arbeit zusehen, wenn er wie brauner Rost an der Ober-fläche des Körpers hervortritt, um unübersehbar Falten zu schlagen. Es fällt nicht immer leicht, das Leben sich nach seinen Gesetzen entwickeln zu lassen – und es zu ertragen, wie es ist. Das Leben trägt schwer an sich selbst.

 

Allerdings behaupten heute auffällig viele Menschen, nur ein Problem mit dem Sterben – der Apparatemedizin, dem Siechtum – zu haben, aber kein Problem mit dem Tod. Vorbei sei vorbei! Nun lässt sich die eigene Sterblichkeit leicht tragen, solange man noch nicht vom heranrückenden Ende bedroht wird. Doch wie ist es, wenn die nächste ärztliche Untersuchung zu einer tödlichen Diagnose führt? Spätestens jetzt werden es die meisten mit der Todesangst zu tun bekommen. Bereits dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Verleugnung der Todesangst leichtsinnige Prahlerei ist. Denn

wer noch eine gewisse Vitalität verspürt, findet sich nicht so leicht mit der eigenen Endlichkeit ab – für den bleibt der

Tod eine ungeheure Provokation, „ein skandalöser Unfug der Natur“ (Th. Mann).. Dies ist nicht weiter verwunderlich.

Wir alle werden durch eine natürliche Anhänglichkeit ans Leben geprägt, die sich nicht ohne weiteres ausschalten lässt. Biologisch sind wir auf Selbsterhaltung, Überleben, Lebenwollen programmiert. Darum halten wir unser Dasein, das

uns nahestehender Menschen eingeschlossen, auch mit großer Selbstverständlichkeit für die Mühen wert, die es uns und anderen bereitet.

 

Viele von uns träumen davon, einmal lebenssatt aus dem Leben scheiden zu dürfen. Aber genauer betrachtet kann

man sich gar nicht sattleben. Wer noch vital ist, wird niemals lebenssatt, sondern bleibt lebenshungrig. Wer nicht mehr vital ist, der ist irgendwann einfach nur noch des Lebens müde, verbraucht, so dass der Tod am Ende nicht mehr als Störenfried empfunden wird. Das heißt, erst im höchsten Greisenalter oder bei auswegloser Verzweiflung oder schwerster Erkrankung, wenn die Lebensqualität zu gering und die Lebensqual zu groß geworden sind, möchten

die Menschen aus dem Leben scheiden. Im Normalfall jedoch hängen wir alle am Leben und dem unserer Nächsten, weshalb wir uns mit der Vergänglichkeit alles Menschlichen nicht ohne weiteres klag- und anklagelos abfinden.

 

Leider hilft in dieser Situation eine demütige, bescheidene Lebenseinstellung nur teilweise weiter, obschon es selbst-verständlich hiermit einfacher geht, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Denn natürlich haben es jene leichter, die sich

und das Leben nicht so wichtig nehmen können. Nur beseitigen lassen sich hierdurch die Todesangst, der Trennungs-schmerz, die Trauer über einen schweren Verlust nicht.

 

Dafür hängen wir zu sehr am eigenen Leben und dem unserer Nächsten. Wie aber mit dem Schmerz der Endlichkeit fertig werden? Wie damit umgehen, dass ein geliebter Mensch sein Leben verloren hat? Wie damit klarkommen, dass man selbst eines Tages sterben wird? Der Tod bleibt eine Überforderung des Menschen, der nur mit einer Kultur der Ungenauigkeit beizukommen ist, die ein breites Spektrum tröstlicher Angebote bereitstellt, auf die wir nicht leichtfertig verzichten sollten. Aber was heißt Kultur der Ungenauigkeit, was heißt überhaupt Trost? Wenden wir uns zunächst dem Begriff Trost zu.

 

Trostsuchende haben es mit leidvoll Unabänderlichem zu tun, das ihnen die eigene Ohnmacht vor Augen führt: ihre Sterblichkeit oder den Verlust eines Nächsten, der sie mit tiefer Trauer erfüllt. Tröstungen, die sich auf solch schwere Schicksalsschläge beziehen, sind nun aber zutiefst zweideutig. Denn sie helfen mit etwas fertig zu werden, mit dem

man eigentlich nicht fertig wird. Tröstungen lösen nämlich keine Probleme. Ließen sich die trostheischenden Probleme lösen, bedürften wir ja keines Trostes. So tragen Tröstungen lediglich dazu bei, Probleme, die sich nicht aus der

Welt schaffen lassen und denen man nicht ohne weiteres entfliehen kann, so auszuhalten, dass man nicht an ihnen zerbricht. Der Tod ist ein solches unlösbares Problem, das sich – wie eine chronische Krankheit – bestenfalls behandeln lässt.

 

Folglich bedeutet Trost zu spenden, eine traurige Situation nicht aufzulösen, sondern als Ersatz dafür, die beschwerliche Situation lediglich ein wenig zu entlasten. Trost heilt also nicht, aber lindert, indem er Abstand schafft. Tragfähiger Trost lässt uns Menschen unser Leid dadurch besser überstehen, dass Distanz zu dem aufgebaut wird, über das man augen-blicklich meint, nicht hinwegkommen zu können. Glücklicherweise sind wir Menschen darauf spezialisiert, uns selbst dort noch helfen zu können, wo uns eigentlich nicht mehr geholfen werden kann. Einfallslosigkeit war nie eine menschliche Stärke, andernfalls hätte die Menschheit nicht bis heute überlebt. So haben sich die Menschen auch ganz unterschiedliche Trostmittel ausgedacht. Hierzu gehören religiöse Zusprüche ebenso wie philosophische Weisheiten, etwa die Erkenntnis, dass es nicht schlimm sein kann, einmal nicht mehr zu existieren, wenn es nicht schlimm war, vor Jahrhunderten noch nicht existiert zu haben.

 

Allerdings wird Trost nicht nur aus Worten gezogen. Der Katalog der Trostmittel ist vielseitig. Er enthält ebenso kleine Gesten wie große Rituale, feierliche Zeremonien, natürlich auch Musik, ein gutes Buch, Süßigkeiten, Alkohol, Schlaf,

Humor; überdies sportliche Aktivitäten, einsame Spaziergänge, gemeinsame Wanderungen, kulturelle Zerstreuungen der unterschiedlichsten Art. Ganz oben auf der Liste der bewährten Trostmittel steht der wechselseitige Beistand in ausgiebigen Gesprächen oder im stillen Miteinander, im einseitigen Zuhören, damit sich im Reden die Knoten lösen,

die ein zu langes Schweigen schnürt.

 

Dieses ganze Arsenal konkreter Trostpraktiken vermag aber die bitteren Widerfahrnisse nicht aus der Welt zu schaffen, sondern im besten Falle lediglich deren Wucht zu dämpfen, sie ein Stück auf Abstand zu halten: Distanzgewinn zur

Milderung der bitteren Daseinshärten. Dabei fällt auf, dass dieses Ziel umso eher erreicht wird, je unschärfer die Tröstungen sind. So seltsam es klingt: Offenbar wird das Leben im Angesicht des Todes erst in einer Kultur tröstlicher Ungenauigkeiten human – in einer Kultur der Ungenauigkeit, die Frei- und Spielräume eröffnet, in der sich die traurige Brutalität des Todes auch vage, nebulös, halbdunkel zeigen darf.

 

Genauer betrachtet leben wir bereits in einer solchen Kultur der Ungenauigkeit, die unserem überaus begrenzten Bedarf an schonungsloser Wahrheit entspricht. So lehrt uns die tröstliche Kultur der Ungenauigkeit, Dinge zu über-sehen, die wir eigentlich sehen oder zumindest erahnen. Ihre Unschärfe entschärft gleichsam die grausamen Tatsachen des Lebens durch Geschichten, Hinzufügungen und Weglassungen. Derlei Verzerrungen belassen vieles in dichtem Nebel, um die eigene Sterblichkeit und den Tod unserer Nächsten besser verkraften zu können. Darum sind diese Unschärfen im besten Sinne des Wortes menschlich. Denn höher als die Wahrheit steht die Frage, ob und wie es sich

mit ihr leben lässt. Sobald eine Wahrheit unerträglich wird, muss es auch mal erlaubt sein, sich an einer Selbsttäuschung auszuruhen oder an einer Wirklichkeitsfälschung zu erholen: an Geschichten zwischen Dichtung und Wahrheit.

 

Jeder Mensch braucht gelegentlich Urlaub von der nackten Wahrheit, um mit dem eigenen Leben leichter fertig zu werden – und das hat nichts mit Fake News oder alternativen Fakten zu tun. Eine solche Annäherung ans Ungenaue,

die kein Plädoyer für Beliebigkeit ist, lassen wir uns sonst auch gerne im Alltag gefallen. Ohne sie könnten wir gar nicht leben. Es ist nicht immer möglich, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Darum verlangen wir manchmal auch nur nach etwas, das wie Wahrheit aussieht, aber nicht unbedingt Wahrheit ist.

 

Diese bemerkenswerte Fähigkeit zur wissentlichen Selbsttäuschung - nämlich die Augen vor etwas verschließen zu können, das man im Grunde weiß – lernen wir bereits als Kinder, wenn wir mit unseren frühen Agenten des Trostes, unseren Teddys, Puppen und Figuren so spielen, als wären sie real. Wir behandeln sie, als ob sie wirklich so seien, wie

sie uns erscheinen, obwohl wir letztlich doch wissen, dass Teddys und Puppen keine echten Lebewesen und unsere kleinen Modelle keine wirklichen Autos sind. Selbstverständlich ist Ungenauigkeit im Operationssaal, bei der Medikation, am Stoppschild oder beim Brückenbau ein lebensgefährlicher Präzisionsgrad. Aber im existenziellen Umgang mit dem Tod kann Ungenauigkeit durchaus lebensförderlich sein, wie anhand einer Reihe von Beispielen demonstriert werden soll.

 

Im 17. Jahrhundert schreibt der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal: „Man stelle sich eine Anzahl von Menschen vor, in Ketten, alle sind zum Tod verurteilt. Jeden Tag wird einer von ihnen vor den Augen aller anderen erwürgt. Die übrig bleiben, erkennen ihre eigene Lage in der ihrer Genossen. Hoffnungslos und voller Schmerz sehen sie einander

an und warten, bis sie an der Reihe sind. Das ist das Bild der Lage des Menschen.“ Pascal hat recht: In unserer wissentlichen Selbsttäuschung vergessen wir allzu leicht, wie nahe wir eigentlich am Tod leben. Schon der Ausfall eines Bremssystems oder ein herabfallender Stein genügt, um uns zu vernichten. Solange wir leben, sind wir gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Denn etwas zustoßen kann uns jederzeit. Aber das wollen wir so genau gar nicht wissen.

 

Dafür haben wir die Kulturtechnik der Verdrängung, die uns vorspielt, dass wir selbst und die uns nahen Menschen

doch bestimmt erst in unbestimmter Zukunft sterben werden. Es ist die Ungewissheit der Todesstunde, die uns sogar

in der Illusion irdischer Unsterblichkeit wiegt. Denn irgendwann zu sterben heißt: niemals zu sterben. Diese Ungenauig-keit, welche die Wahrheit im Unklaren belässt, ist durchaus eine tröstliche Möglichkeit, die Sterblichkeit besser aushalten zu können. Manchmal ist es klug, Unangenehmes von sich fernzuhalten. Jedenfalls ist es nicht von vornherein verwerf-lich, den Tod von sich wegzuschieben und sich mit bunten Zerstreuungen abzulenken. Das tun wir in aller Regel sowieso.

 

Wie viele Menschen scheuen sich schon davor, den Tod beim Namen zu nennen, als ob – wenn man das Wort Tod in

den Mund nimmt – ihn hierdurch herbeirufen könnte. Stattdessen sagen sie lieber ziemlich ungenau: „Wenn ich mal nicht mehr bin“, „Wenn mir mal etwas passiert oder etwas zustößt“. Solche Redensarten sind tröstlich unscharf. Selbst religionsferne Sterbende sagen gelegentlich, sie gehen nach Hause; kehren dorthin zurück, woher sie kamen. Beim Betrachten des gestirnten Himmels weisen viele vage darauf hin, dass sie wohl bald dort oben sein werden. Gottferne

Trauernde schicken gelegentlich am Grab bunte Luftballons mit Grußbotschaften nach oben und trösten sich mit der schönen Vorstellung, dass der Verstorbene jetzt von einem fernen Stern zu ihnen herunterblinzelt. Sie wollen am Grab fröhlich sein, weil sie meinen, dass der Tote für seine lange Reise ihre Heiterkeit statt ihrer Traurigkeit braucht. Viele trösten solche ungenauen Formulierungen und träumerischen Praktiken. Sie genügen ihnen, um sich mit dem Tod zu arrangieren. Philosophen tröstet zuweilen die Vorstellung, dass mit dem Tod alle Mühen, Sorgen und Schmerzen enden. Darin liegt fürwahr ein kleiner, besänftigender Trost.

 

Allerdings bleibt auch dieser sympathische Trost ungenau. Denn eigentlich ist ja niemand mehr da, der noch in einen solchen Zustand beschwerdefreier Sorglosigkeit geraten könnte. Aber soweit möchte man nicht denken. Hierhin gehört auch die vor allem in der Antike verbreitete Vorstellung vom Tod als ewigem Schlaf. Jede Nacht erproben wir unser künftiges Nichtsein im Tiefschlaf, wie uns jede Vollnarkose auch versuchsweise nicht sein lässt. Selbstverständlich ist aber auch dieser Vergleich ungenau – und doch – weil irgendwie anheimelnd – zugleich tröstlich. Das Gleiche

gilt für die Vorstellung der ewigen Ruhe.

 

Auf den meisten Grabsteinen steht: „Hier ruht in Frieden“. Korrekter wäre es zu sagen: „Hier verwest in Erde.“ Doch

ganz so genau möchte man auch das nicht wissen. Aber selbst, wenn ein Leichnam nicht friedlich ruhen kann, lässt

sich das Bild der friedlichen Ruhe doch auf den Verstorbenen in dem Sinne beziehen, dass sein geplagtes Leben nun

von allen Mühen befreit ist, und diese Vorstellung wirkt tröstlich, weil sie den verworrenen, ja widersprüchlichen Eindruck vermittelt, der Tote habe, und das heißt dem Toten widerfahre irgendwie friedliche Ruhe.

 

Was wird am Ende alles in den Leichnam zur Selbstberuhigung hineingedichtet? Wie versöhnt sei doch das Gesicht

des Verstorbenen. Es strahle eine gelassene Zufriedenheit aus. Der Mund scheine sogar zu lächeln. Aber Leichen können so wenig lächeln, wie Blumen sprechen können. Doch sei‘s drum. Am Ende zählt, was lindert – und sich gut anfühlt. Natürlich haftet auch der Waschung und rituellen Einkleidung des toten Körpers, der schon wenige Stunden später im Krematorium in Flammen aufgehen wird, eine skurrile Ungenauigkeit an. Doch sind diese rituellen

Praktiken den Menschen wichtig, die sie veranlassen oder selbst durchführen, um auf diese Weise wie durch die

würdige Trauerfeier dem Toten noch einmal ihre Wertschätzung entgegenzubringen, auch wenn dieser sie nicht

mehr entgegennehmen kann.

 

Nicht selten finden selbst Erwachsene in furchtbaren Notlagen nur Trost für den Preis, dass sie sich ganz einfachen Vorstellungen hingeben. Hierzu gehören bis heute Grabbeigaben wie Bücher oder andere Lieblingsobjekte, als ob der

Verstorbene vertraute Begleiter seines bisherigen Lebens auf seiner letzten Reise benötigen würde. Besonders Kindern werden gerne ihre Teddybären, Puppen, Spielzeuge aller Art mit ins Grab gegeben oder auf den Grabstein oder um den

Grabstein herum gelegt. Gelegentlich werden wirklich seltsame Handlungen ausgeführt, um einem grausamen Tod die Maske des Erträglichen aufzusetzen. Und je verworrener, ungenauer diese Praktiken sind, umso stärker scheinen sie trösten zu können.

 

Heute wächst die Zahl der Menschen, die sich statt auf einem Friedhof in einem Friedwald bestatten lässt. Auch hier erzeugt der Tod immer neue Widersprüche, die deshalb zu begrüßen sind, weil sie die Bewältigung eines schmerzlichen Todesfalls erleichtern. So bringen Angehörige bisweilen Blumen an den Baum, an dem die Asche beigesetzt wurde, pflanzen hier sogar manchmal Topfblumen, obwohl doch durch diese Art der Beisetzung die Grabpflege gerade umgangen werden sollte. Aber in Todesangelegenheiten hat die Inkonsequenz das gute Gewissen auf ihrer Seite.

Zu solchen tröstlichen Ungenauigkeiten gehört ebenfalls die gemeinsame Suche nach einem späteren Grabplatz.

Das Gemeinschaftsgrab der Lebensgefährten möge von Büschen umgeben, durch Bäume geschützt und mit einem freien Blick ins Tal ausgezeichnet sein. Hat man es endlich gefunden, ist man froh zu wissen, wo man künftig liegen

wird, obwohl man doch weiß, dass man dann nicht mehr ist, nichts mehr ist.

 

Besonders üppige Blüten tröstlicher Ungenauigkeit treibt die Zeit der Trauer hervor. Das Maß unserer Trauer fällt unterschiedlich aus. Mindestens drei Aspekte entscheiden hierüber: (1.) der Anlass des Todes: etwa Krankheit oder

Unfall; (2.) das Alter des Verstorbenen: Ist der Tote ein Kind, ein Mensch in den besten Jahren oder eine uralte Person? Und (3.) die Nähe der Überlebenden zum Toten: Ist der Verstorbene ein flüchtiger Bekannter, eine enge Freundin oder der geliebte Lebenspartner?

 

Anfänglich sprechen viele Hinterbliebene wie gewohnt mit ihren Verstorbenen, obwohl ja niemand mehr da ist, mit

dem man reden könnte. Das ist ein tröstlicher Kunstgriff. Die Hinterbliebenen erzählen ihren Verstorbenen alltägliche

Begebenheiten. Dabei vergewissern sie sich der Anwesenheit des Toten, indem sie Fotos mit Blumen und Kerzen an zentralen Orten der Wohnung platzieren, obschon sie wissen, dass der Tote abwesend ist; später verschwinden diese Porträts neben anderen Bildern an der Wand. Um den Toten noch eine Weile imaginär am Leben zu erhalten, werden auch die üblichen gemeinsamen Tagesabläufe noch eine Zeitlang beibehalten. Man glaubt dann, bei dem Abwesenden anwesend zu sein – ein Widerspruch in sich. Manche streiten auch mit dem Toten. Andere empfinden es als Verrat an dem Toten, der ja nichts mehr als Verrat wahrnehmen kann, wenn man das Bett abschlägt, seine Kleider verschenkt,

die Sachen aussortiert, so dass der gemeinsame Alltag immer mehr verblasst. Wenn man dagegen das Geschirr benutzt, das der Tote bevorzugte, dann kann leicht der Eindruck entstehen, der Tote sei auf schöne Weise doch noch anwesend.

 

Gerade auf dem Friedhof, wo ja niemand wartet, der besucht werden könnte, bleibt vielerlei im Vagen. Aber es sind solche dunstigen Ungenauigkeiten, die uns helfen weiterzuleben, die uns trösten, und sie erheben alle nicht den Anspruch, rational zu sein, sondern machen das Leben lediglich erträglicher. Wir betrauern ja niemals nur einen Toten, sondern auch uns selbst, die wir ohne den Verstorbenen zurechtkommen müssen. Trauerarbeit braucht Zeit. Doch im Normalfall tritt mittelfristig an die Stelle bizarrer Ungenauigkeit eindeutige Klarheit. Im Bestfall fühlt man eine große Dankbarkeit, so viele Jahre mit einem Menschen glücklich gewesen sein zu dürfen. Doch leider wird diese tröstliche Dankbarkeit allzu oft von dem quälenden Schmerz überdeckt, künftig nie mehr mit dieser Person glücklich sein zu

können.

 

Nicht selten empfinden es die Menschen als tröstlich, in ihren Nachkommen weiterzuleben. Bei der Fortpflanzung werden die eigenen Gene an die Nachkommen weitergegeben. Doch die wenigsten denken bei diesem Trost an Gene. Sie haben eine diffus emotionale Vorstellung vom eigenen Fortleben in ihren Kindern. Jedoch bleibt auch diese tröstliche Idee extrem unscharf. Niemand lebt in seinen Nachkommen weiter. Wenn mit der eigenen Individualität zugleich das

Selbstbewusstsein, alle Gedanken und Erinnerungen erlöschen, dann existiert man einfach nicht mehr. Aber die Vorstellung fühlt sich gut an. Daher möchte man das alles gar nicht so genau nehmen müssen und erst recht nicht so genau wissen.

 

Ganz ähnlich verhält es sich mit naturreligiösen Vorstellungen. Wenn der Einzelne stirbt, dann verschwindet er nicht gänzlich, heißt es, sondern kehrt in die schöne Natur zurück. Er lebt als Teil der alles durchdringenden Natur weiter.

Im Zusammenhang mit seiner Wiedereingliederung in den natürlichen Prozess des Werdens und Vergehens ist dann

oft die Rede von friedlicher Stille, Heimat und Geborgenheit. Auch solch anheimelnde Naturvorstellungen ziehen ihre tröstliche Kraft aus einer extremen Ungenauigkeit. Denn die individuelle, bewusste Person geht doch verloren, wenn

sie in die vollkommene All-Natur zurückkehrt. Doch nehmen die meist esoterischen Anhänger solch wohltuender Naturanschauungen diese Ungenauigkeit gerne in Kauf, weil sie ihnen guttut und ein wenig den Schrecken vor dem Tod vertreibt.

 

Trauerriten sind Techniken zur Leidbewältigung. Sie bieten Entlastung. Sie ermöglichen, dass man in Ausnahmesituatio-nen trotz Überforderung irgendwie handlungsfähig bleibt, und das ist gut so. Doch der Preis, der auch hierfür zu zahlen

ist, besteht in der Ungenauigkeit der meisten Rituale. Trauerzeremonien sind oft merkwürdig, seltsam. Die geheimnis-voll über Staub und Auferstehung gemurmelten Worte klingen erhaben, und tatsächlich kommt es am Grab auch vorrangig auf würdevolle Gesten und feierliche Reden an. Sie sind oft wie Luftmatratzen. Denn in ihnen steckt gewöhn-lich nur wenig Gehalt, aber sie dämpfen nach dem seelischen Absturz die Wucht des Aufpralls wirksam.

 

Das Gleiche gilt für die bei dieser Gelegenheit oft verkündete Hoffnung auf Auferstehung und Unsterblichkeit selbst, welche die etablierten Religionen ihren Gläubigen versprechen. Jedoch sind außerhalb kirchlicher Kreise gleichfalls

viele Menschen auf verworrene Weise gläubig. Sie überreden sich zu einer Zuversicht, in der trotz aller Distanz gegen-über den offiziellen Religionen von letzter Reise und glücklichem Fortleben in ewigem Licht die Rede ist. Oft tritt ein privater Seelenglaube aus asiatischen, esoterischen und christlichen Versatzstücken an die Stelle eines fromm traditionellen Gottvertrauens jüdischer, christlicher oder muslimischer Art. Alte und neue Todesvorstellungen stehen

in der modernen Gesellschaft unverbunden nebeneinander. Das Ende wird als Verwandlung oder Metamorphose gedeutet.

 

Aufs Ganze gesehen bleibt aber alles im Vagen. Es fehlt jede natürliche Evidenz. Hier wie sonst häufig auch ist die Zuversicht nur die höfliche Form der Ratlosigkeit, gewissermaßen die tröstliche Anstandsmaske von Todesangst und

Trennungsschmerz, gleichsam deren Tarnkappe. Aber ihres starken Lebenswillens und der großen Trennungsängste wegen hält die Mehrheit der Menschen an dieser starken Hoffnung auf ein Weiterleben und Wiedersehen ihrer verstorbenen Nächsten fest. Zweifellos weist die Aussicht aufs ewige Leben ein hohes Trostpotenzial auf, das den Gläubigen die Kraft gibt, in ein Grab blicken zu können und allem Augenscheinlichen zum Trotz vom Weiterleben des Toten überzeugt zu bleiben. Dabei stört es die meisten kaum, dass die religiösen Antworten alle ziemlich ungenau, nebulös, ja widersprüchlich ausfallen. Diese werden dann als chiffrierte Mysterien beschönigt. Immerhin habe man

es hier doch mit Bezirken zu tun, die der menschlichen Vernunft verschlossen blieben, weshalb die religiösen Antworten

logischerweise ungenau bleiben müssten.

 

Das stimmt zwar, aber der jenseitige Himmel ist für uns Menschen sogar so wenig zugänglich, dass wir nicht einmal wissen, ob es ihn überhaupt gibt. Vielleicht hält der Tod für uns ja nur die Enttäuschung seiner Endgültigkeit bereit.

Falls es so wäre, bliebe uns diese Entdeckung doch immerhin erspart. Denn in dem Augenblick, in dem wir sie machen könnten, wären wir bereits nicht mehr da. Dass es tatsächlich so ist – also kein ewiges Leben gibt –, davon sind heute in der westlichen Welt immer mehr Menschen überzeugt. Doch selbst gott- und kirchenferne Menschen, säkulare

Humanisten, Atheisten, Naturalisten bleiben leidensanfällig und trostbedürftig angesichts des Todes, und darum tun sich auch von ihnen nicht wenige schwer, wenn es ans eigene Sterben oder das ihrer Nächsten geht. Nicht selten kommt es hier gleichfalls zu tröstlichen Ungenauigkeiten. Solche existenziellen Widersprüche, Inkonsequenzen, Ungereimt-heiten gehören zur Eigenart gelungener Menschlichkeit. Sie sind ein Anzeichen maßvoller Humanität, weil sie ein glaubwürdiges Zeugnis von der Grundsituation des Menschen ablegen, nämlich sorgenvoll, mühsam und des

Gelingens niemals sicher zu sein. Darum darf es nicht verwundern, dass selbst gottlose Gemüter in größter Not gelegentlich beten.

 

Natürlich halten solche wie auch alle anderen tröstlichen Ungenauigkeiten einer kritisch-rationalen, aufgeklärten Prüfung nicht stand. Aber darauf kommt es in existenziellen Notlagen gar nicht an. Höher als die Wahrheit steht eben die Frage, wie es sich am besten mit ihr leben lässt. Darum zählt in einer aussichtslosen Lebenslage auch nur, was wirksam Trost zu spenden vermag, um mit der schwierigen Situation besser zurechtzukommen, handlungsfähig zu bleiben, besonnen und überlegt entscheiden, ja vielleicht auch seine Würde wahren zu können – und das anzunehmen, was einem an Geduld abverlangt wird. Denn selbst wenn man vielleicht lieber nicht gelebt haben möchte, nachdem man so einigermaßen Bescheid übers Leben weiß, so möchte man doch aus dem Leben scheiden dürfen, ohne zu bedauern, gelebt zu haben.

 

Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang das große Wort Würde? Würde steht für das Ideal, unverfügbar Leid-volles so tragen und ertragen zu können, dass man dabei nicht seine gleichmütige Haltung verliert. Nur, wem gelingt dies immer schon?

 


 

Tod, Trauer, Trost

 

F.J. Wetz: "Jeder Mensch braucht gelegentlich Urlaub von der nackten Wahrheit"

 

Wenn die Wahrheit des Todes unerträglich wird, lehrt uns die Ungenauigkeit, Dinge zu übersehen. Sie entschärft die bitteren Härten des Sterbens durch Geschichten, Hinzufügungen und Weglassungen. (SWR 2022)

 

https://www.swr.de/swr2/wissen/tod-trauer-trost-fj-wetz-jeder-mensch-braucht-gelegentlich-urlaub-von-der-nackten-wahrheit-100.html

 


 

Franz Josef Wetz, Tod, Trauer, Trost - Was am Ende hilft, Stuttgart: Reclam 2022