Entwurf einer kritisch-humanistischen Philosophie


 

 

Entwurf einer humanistischen Philosophie

 

1. Die Philosophie ist – ihren ursprünglichen europäischen Paradigmen zufolge – eine sokratische Disziplin, d.h. eine meist kognitive, reflexive, dialektische, kommunikative und kooperative Suche nach der Wahrheit über den Menschen, über seine Situation im Universum und über den Sinn des Lebens. Da Menschen nicht nur sachliche und wissenschaft-liche Fragen stellen, sondern auch ästhetische und ethische, rechtliche und politische, philosophische und religiöse Fragen, kann diese gesuchte Wahrheit nicht nur in einer engen positivistischen oder szientistischen Weise verstanden werden, sondern muss alle wichtigen menschlichen Angelegenheiten umfassen.

 

2. Mein Zugang zur Philosophie ist kritisch im kantischen Sinne, d.h. weder skeptisch im Sinne einer Leugnung der Möglichkeit und des Zieles, objektives Wissen über den Menschen und die Welt zu erreichen, noch dogmatisch, im Sinne eines Ausgangs von vorgefassten metaphysischen Überzeugungen über Gott, die Seele und die Welt. Die Philosophie sollte zwar versuchen, so weit wie möglich mit wissenschaftlichem Wissen und wissenschaftlichen Methoden kompa-tibel zu sein und sich um Objektivität zu bemühen. Aber Objektivität ist nicht nur in den Wissenschaften ein Erkenntnis-ideal, sondern z.B. auch im Journalismus, im Medizinwesen und im Rechtsstaat. Daher ist die Philosophie ein kognitives Unternehmen sui generis und kann nicht nur als eine formale, empirische, historische oder theoretische Wissenschaft verstanden werden. Darüber hinaus ist Philosophie methodisch und holistisch im hegelschen Sinne, d.h. Philosophie ist weder nur Logik und Sprachanalyse, noch nur Erkenntnistheorie und Ontologie, noch nur transzendentale Analyse oder transzendentale Phänomenologie, sondern sie basiert auf komplexen und vielfältigen Überlegungen, die logische, semantische, kognitive, erkenntnistheoretische, phänomenologische, pragmatische, ontologische und metaphysische Reflexionen einschließen.

 

3. Philosophie ist das Gegenteil jeder Ideologie, denn Ideologien entspringen fixierten Denkweisen über den Menschen, seinen Platz im Universum und über den Sinn des Lebens, die auf Vorurteilen und auf zu einfachen oder sogar falschen Prinzipien beruhen. Solche Vorurteile müssen jedoch nicht immer sprachlich zum Ausruck gebracht werden, sondern können auch in Bildern und Gesten, im Verhalten und in Zeichen ausgedrückt werden. Davor schützt auch nicht deren inhärente Ambiguität und die raffinierte Ausnutzung dieser Ambiguität.

 

Philosophie ist vielmehr eine rigorose und selbstkritische gemeinsame dialektische Suche nach objektiver Wahrheit und selbstevidenten Prinzipien. Dialektik sei dabei jedoch nicht im spekulativ-idealistischen Sinne von Hegel oder im histo-risch-materialistischen Sinne Marx, sondern im dialogischen Sinne von Platon und im diskursiven Sinne von Aristoteles verstanden. Daher ist sie mehr als nur eine persönliche oder gemeinsame Weltanschauung, sondern eine teils einsame, teils gemeinsame intellektuelle Untersuchung, die nach Einsichten in die Grundstrukturen des mensch-lichen Geistes und nach einem Verständnis der grundlegenden ontologischen Strukturen der Welt sucht.

 

Im Gegensatz zu den sophistischen Anhängern von Ideologien akzeptieren authentische Philosophen die faktische Unentrinnbarkeit von Subjektivität und zugleich den Wert und das Ziel von Objektivität. Sie gestehen offen zu, dass es immer mehr gibt, was sie nicht wissen (können), als, was sie wissen, und was niemand weiß (und wissen kann), obwohl sie nicht müde werden, mit allen passenden Mitteln und Methoden nach zuverlässigen Vermutungen und gut begrün-detem Wissen zu suchen.

 

4. Die Philosophie kann sich nicht mit der theoretischen Philosophie allein zufrieden geben, sondern sie muss auch die praktische und poietische Philosophie umfassen, wie sie zunächst von Aristoteles vorgeschlagen und verwirklicht wurde. Ebenso wenig kann die praktische Philosophie auf die theoretische Philosophie reduziert werden, wie in einigen Formen der vorsokratischen Metaphysik oder wie in einigen modernen Formen des Positivismus und Naturalismus, der Phäno-menologie oder des Existentialismus. Auch kann die theoretische Philosophie nicht auf die praktische Philosophie reduziert werden, wie es in einigen Formen des Pragmatismus der Fall ist. Schließlich kann die poietische Philosophie nicht auf eine von beiden reduziert werden, weil sie theoretisches Wissen und praktische Einsichten durch die kreative Erzeugung neuer Artefakte, Ereignisse und Prozesse in komplexen Situationen der Lebenswelt vereint.

 

5. Alles Philosophieren beginnt als intellektuelle Tätigkeit mit der eigenen persönlichen Existenz und ihre subjektiven Bedingungen in der gewöhnlichen Welt des Alltagslebens und geht daher vom gesunden Menschenverstand aus, aber sie verteidigt ihn nicht nur dogmatisch, denn der gesunde Menschenverstand wird immer auch durch bestimmte blinde Flecken und Unzulänglichkeiten des Zeitgeistes verzerrt. Mein philosophischer Ansatz ist kantisch in dem Sinne, dass sich die Philosophie nicht damit begnügen kann, nur die impliziten Annahmen des gesunden Menschenverstandes explizit zu machen, aber er ist nicht hegelianisch in dem Sinne, dass die Philosophie nur ein Ausdruck des Zeitgeistes, ein Ex-plizieren der aktuellen Begriffe oder der letzte Höhepunkt des Weltgeistes wäre, der sich durch die Geschichte der Menschheit bewegt.

 

6. Die Philosophie ist als “deskriptive Metaphysik” (Peter F. Strawson) durchaus in der Lage, einige metaphysische Einsichten über die grundlegenden ontologischen Strukturen der Welt (Lebenswelt), in der wir leben, denken und handeln zu gewinnen.

 

Meine eigene Position ist eine Form des kritischen Realismus jenseits aller überlieferten Formen eines metaphysischen Monismus, wie der des Naturalismus oder Materialismus und des Phänomenalismus oder des Idealismus. Denn alle diese monistischen Weltanschauungen können auf ihrer beschränkten begrifflichen Grundlage keine überzeugenden Konzeptionen der ethischen, rechtlichen und politischen Ideale, Prinzipien, Werte und Normen verstehen. Daher zer-stören sie langfristig, die Wissenschaften und Künste, und damit auch das Medizinwesen und die Rechtsstaatlichkeit.

 

Ein kritischer Realismus akzeptiert im Gegensatz zum naiven Realismus (G.E.Moore) und zum metaphysischen Realismus (Josef Seifert), dass Menschen weder in den Wissenschaften noch in der Philosophie oder Theologie eine standpunktlose und zeitlose "Sicht von Nirgendwo" (Thomas Nagel) ohne Subjektivität und jenseits persönlicher Bedingungen erreichen können. Aber der kritische Realismus besteht gerade wegen seines Bewusstseins von Subjektivität darauf, dass Objek-tivität in den Wissenschaften sowie in der Medizin, Jurisprudenz und Ökonomie erstrebenswert ist und dass sie mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden und wissenschaftlicher Integrität annähernd und weitgehend erreicht werden können.

 

Eine Phänomenologie der Intersubjektivität von Ich und Du (Martin Buber), die Transzendentalpragmatik (Karl-Otto Apel), die "Theorie des Kommunikativen Handelns" (Jürgen Habermas) beschränken sich jedoch dogmatisch auf die beiden "Perspektiven" der Ersten und Zweiten Person und vermeiden dadurch eine mögliche Objektivierung und den  Einbezug einer "Perspektive" der Dritten Person. Um das zu vermeiden, gibt es in allen Wissenschaften bestimmte Methoden der skeptischen Überprüfung von Begriffen und Überzeugungen, Thesen und Hypothesen, Argumenten

und Theorien, um von Subjektivität und Intersubjektivität zu einer größeren Objektivität zu gelangen.

 

Während es in den Wissenschaften aber primär um theoretische Faktizität und Plausibilität geht, kann die Überwindung von Subjektivität und Intersubjektivität jedoch auch in praktischen und poietischen Angelegenheiten wichtig werden.

Denn in vielen Bereichen der sozialen Interaktion und der intersubjektiven Kommunikation ist es gerade die neue "Perspektive" der Dritten Person, die zwei Subjekten zur Selbsterkenntnis und zu einem besseren Verständnis der Gründe und Ursachen ihrer Beziehung und ihrer Konflikte verhelfen kann. Damit können beide Seiten zu einer Erwei-terung ihres beschränkten Horizontes und zu einem tieferen Verständnis ihrer existenziellen Situation in der Welt gelangen.

 

Diese vermittelnde Funktion und Rolle der "Perspektive" der Dritten Person übernehmen, falls beide Seiten zustimmen, Psychotherapeuten in der Paartherapie, Seelsorger in Gemeinden, Mediatoren im Rechtsstreit, Ombudsleute in Ver-waltungen, Parlamentspräsidenten in demokratischen Parlamenten und Richter in der Auseinandersetzung zwischen der Anklage von Staatsanwälten und der Verteidigung von Rechtsanwälten. Diese vermittelnde Funktion und Rolle übernehmen gewöhnlich Moderatoren in einer Diskussion zwischen zwei oder mehr Disputanten, Schiedsrichter im Boxkampf, im Tennis oder in anderen Sportarten. Soziale und politische Institutionen, wie z.B. Vorstände und Betriebs-räte, Regierungen und Parlamente, aber auch Ämter, Behörden und Gerichte erfüllen ebenfalls die praktische Insti-tutionalisierung dieser Funktion und Rolle der dritten Person. Diese Vermittlung ist insbesondere wichtig in nicht-paritätischen Beziehungen (Lehrende und Schüler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Professoren und Studierende, Ärzte und Patienten, Priester und Laien, etc.), wo ein soziales Machtgefälle besteht, das die Mächtigeren dazu verleiten kann, ihre Macht auszunutzen und ständig zu erweitern.

 

Die Philosophie ist nach Auffassung des kritischen Realismus also durchaus in der Lage, einige allgemeingültige und haltbare Einsichten in die kognitiven Potentiale des menschlichen Geistes zu erreichen. Daher können einige logische und semantische, erkenntnistheoretische und ontologische, ästhetische und ethische, rechtliche und politische Ein-sichten erreicht werden, die weder nur spontaner Ausdruck einer persönlichen Meinung oder einer subjektiven Welt-anschauung noch einer intersubjektiven Wir-Gemeinschaft darstellen. Der kritische Realismus knüpft zwar an Kants kritische Philosophie an, die gegen alle Formen von Skeptizismus und Dogmatismus, Empirismus und Rationalismus

für die Vereinbarkeit von (allgemeiner und transzendentaler) Subjektivität und realisierbarer Objektivität argumentiert. Der kritische Realismus geht jedoch historisch und systematisch über Kants kritische Philosophie, den logischen Em-pirismus und Positivismus der frühen analytischen Philosophie sowie über alle Formen der (transzendentalen) Phäno-menologie hinaus, die die Möglichkeit einer empirischen Ontologie und einer deskriptiven Metaphysik verneinen.

 

7. In der philosophischen Anthropologie gehe ich von einer ganzheitlichen anthropologischen Konzeption der menschlichen Person als einer dynamischen persönlichen Einheit von Körper, Seele und Geist aus. Jeder Mensch beginnt mit seiner Geburt als ein neues und biologisch unabhängiges psychosomatisches Individuum zu existieren und endet mit seinem Tod als eine komplexe und vielfältige persönliche Einheit von Körper, Seele und Geist. Unter "Geist" verstehe ich dabei die dynamische und lebendige Selbstreflexion auf die eigenen Ideale, Prinzipien, Normen und Werte endlicher Menschen mit ihrer jeweiligen biographischen, kulturellen und sozialen Prägung.

 

Obwohl der kritische Realist die platonische Sichtweise einer unsterblichen Seele oder eines ewigen Geistes im Menschen, der den körperlichen Tod überlebt, nicht teilt, akzeptiert er die aristotelische, cartesianische und kantische Auffassung eines immateriellen Intellekts (noûs - intellectūs - Vernunft), der inhaltlich nicht vollständig durch die dyna-mische und interaktive Einheit von Körper und Seele des Menschen bestimmt wird. Der Intellekt ist daher kein bloßes Epiphänomen, weder des Gehirns und Nervensystems noch des Verhaltens des ganzen Menschen. Deshalb kann der kritische Realist auch nicht dem naturalistischen oder materialistischen Reduktionismus zustimmen, demzufolge der menschliche Geist und "das Ich" nichts anderes sein sollen als eine Funktion oder ein Produkt bio-elektro-chemischer Prozesse innerhalb des biographisch und sozial konditionierten menschlichen Gehirns.

 

Die menschliche Psyche mit ihren inneren kognitiven, motivationalen, emotionalen und sinnlichen Fähigkeiten ist nicht nur eine Teilfunktion des subjektiv erlebten Leibes oder gar des objektiv untersuchten biologischen Körpers eines Menschen. Daher sind der menschliche Geist und das "Ich" mit ihren verschiedenen geistigen Aktivitäten, seelischen Bewusstseinsformen und leiblichen Praktiken nicht nur Epiphänomene oder bloße Funktionen des menschlichen Gehirns und seines Nervensystems. Sie sind emergente mentale Kräfte von potentiell autopoietischer und inhaltlich unabhängiger sinnvoller "Software", obwohl sie funktionell und energetisch von der biologischen "Hardware" des physiologischen Gehirns und seinen subpersonalen bio-elektro-chemischen Prozessen abhängig sind.

 

Als eine zur Selbstdistanz, Empathie und Objektivität fähige Person kann ich einige meiner immateriellen bewussten Gedanken und Absichten nutzen, um einige der Schaltkreise und Aktivitäten meines Gehirns in verschiedenen Lern-prozessen neu anzuordnen und umzugestalten. Daher bin ich auch kein bloßes passives Produkt meines Gehirns - weder der stabileren neurophysiologischen "Hardware" meines Gehirns noch der plastischeren, bereits etablierten neurologischen Bahnen in den neuronalen Prozessen meines Gehirns oder meiner eigenen aktuellen und flüssigen kognitiven und motivationalen "Software"-Aktivitäten in meinem Gehirn. Vielmehr kann ich trotz funktionaler Depen-denzen vom Gehirn, Nervensystem und Organismus meinen eigenen Verstand durch Selbstbezüglichkeit und Selbst-bewusstsein führen, und dadurch kann ich auch einige neurologische Prozesse in meinem eigenen Gehirn durch Effekte der Rückkopplung, durch (psychotherapeutische) Interaktion oder im Dialog mit anderen bis zu einem gewissen Grad verändern und reformieren.

 

8. In der Philosophie des Geistes (Philosophy of Mind) vertrete ich eine nicht-reduktionistische Philosophie des Geistes und der Spiritualität in Übereinstimmung mit Karl Jaspers, Nicolai Hartmann und Carl Gustav Jung. Menschliche Sprache als die Fähigkeit, in komplexen Wortkombinationen zu kommunizieren und zu denken, die nach sozial erworbenen semantischen Intuitionen und Syntaxregeln synthetisiert werden, basiert auf der unter irdischen Realbedingungen einzigartigen menschlichen Fähigkeit, abstrakte Konzepte weitgehend unabhängig von der aktuellen und unmittelbaren Verhaltenssituation und den konkreten Umständen zu erzeugen und zu verstehen. Andere uns bisher bekannte intelligente Lebewesen sind nicht dazu in der Lage, auf diese sprachliche Weise zu kommunizieren, und wir kennen

noch keine anderen intelligenten Lebewesen auf unserem Planeten Erde oder im von uns beobachtbaren Universum, die diese Fähigkeiten ebenfalls teilen.

 

Das menschliche Geistesleben basiert jedoch nicht nur auf diesen sprachlichen Fähigkeiten, sondern auch auf verschie-denen anderen psychologischen Fähigkeiten, wie z.B. auf den Fähigkeiten von Empfindung, Motivation, Emotion und Intuition, von Erinnerung, Gedächtnis und Antizipation, von Selbstbewusstsein, Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, von Kreativität, Symbolisierung und Idealisierung. Daher besitzt das menschliche Geistesleben eine sehr komplexe, aber auch sehr verletzliche lebendige geistige Potentialität, die auf der dynamischen menschlichen Psyche basiert und vom organischen menschlichen Körper eines einzelnen Menschen unter anderen Personen getragen wird.

 

Alle menschlichen Kulturen haben eine Art von Spiritualität hervorgebracht, die meistens mit ihren Religionen verbun-den ist, die auf Ritualen und Symbolen, Erzählungen und Mythen beruhen und manchmal auch mit Philosophien ver-bunden sind, die abstrakte Systeme von Idealen, Prinzipien, Werten und Normen entdecken oder hervorbringen. Der Schatten der Moderne besteht in einem drohenden geistfeindlichen Rückfall in einen irrationalen Primitivismus des instrumentellen Verstandes, des pseudoreligiösen Aberglaubens, des gnostischen Mystizismus, des martialischen Brutalismus, des politischen Populismus, des ideologischen Fanatismus und des barbarischen Terrorismus.

 

9. In der Philosophie des Willens und Handelns vertrete ich eine kompatibilistische Konzeption der kontingenten Möglichkeit einer sozial erlernten psychologischen Fähigkeit der Willensfreiheit in Übereinstimmung mit Karl Jaspers und Nicolai Hartmann. Diese Fähigkeit gehört seelisch-geistig gesunden Menschen, die auf der Grundlage eines persön-lichen Bereichs potenziell konflikthafter Motivationen denken, sprechen, urteilen, entscheiden und handeln. Diese kontingente persönliche Fähigkeit des freien Willens ist teils schwächer, teils stärker von der Persönlichkeit und dem Charakter einer konkreten Person abhängig, die im Laufe des Lebens erworben wurden, und sie können durch die Persönlichkeit leicht beeinträchtigt, durch schlechte Gewohnheiten stark beschädigt oder durch den Verlust der psychi-schen Gesundheit fast vollständig verloren gehen, wie bei verschiedenen Formen psychischer Erkrankungen, wie z.B. durch Sucht, Depression oder Manie, Besessenheit, Paranoia oder Schizophrenie, usw.

 

Die menschliche Willensfreiheit ist also keine metaphysisch notwendige psychologische Realität, die unabhängig vom Leben und von den Umständen einer Person existieren könnte, sondern eine kontingente und erworbene Fähigkeit, die in mehreren Graden innerer Freiheit vorkommt, da sie von der komplexen und dynamischen Struktur der Persönlichkeit und von der Lebensgeschichte einer Person abhängt. Während der Körper, das Gehirn und sein Nervensystem gemäß den angeborenen Lebensfunktionen und kulturell erworbenen Gewohnheiten arbeiten, stehen sie in ständiger Inte-raktion mit anderen Menschen und verschiedenen Umständen in der Welt und können auf vielfältige Weise mit Kunst, Film und Musik, Kommunikation, Bildung und Information, Medikamenten, Psychotherapie und Neuromodulation, Landschaft, Klima und Wetter usw. interagieren.

 

Erwachsene haben jedoch normalerweise gelernt, mit anderen Menschen und verschiedenen Umständen in der Welt auf ihre persönliche Art und Weise zu interagieren. Daher haben sie zwar keinen freien Willen in Bezug auf die moti-vierenden Antriebe ihrer angeborenen Lebensfunktionen und kulturell erworbenen Gewohnheiten, aber sie haben doch einen freien Willen, in einem gewissem Umfang, ein Veto einzulegen, wenn sie glauben, dafür gute Gründe zu haben, oder wenn sie intuitiv entscheiden, dass es ethisch angemessen oder moralisch geboten ist.

 

10. In der Ethik vertrete ich eine komplexe allgemeine philosophische Ethik, die auf verschiedenen Elementen aufbaut: (a.) auf Kardinaltugenden (oder guten Gewohnheiten) wie Besonnenheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Mut (Platon und Aristoteles), (b.) auf pragmatischen Axiomen der rationalen Wahl des situativ Besten unter dem Erreichbaren (Brentano), (c.) auf einigen vitalen Interessen oder Wertpräferenzen, z.B. für Leben und Gesundheit (inklusive der grundlegenden Lebensbedürfnisse nach frischer Luft, sauberem Wasser, gesunder Nahrung und angemessenem Wohnraum), Wissen und Freiheit, Freude und Glück, Selbstliebe und parteiischer Liebe zu seinen Geliebten, Verwandten und Freunden, (d.) auf den moralischen Pflichten der eigenen Selbstvervollkommnung und des Wohlwollens gegenüber anderen Menschen (Kant), und (e.) auf einigen moralischen Prinzipien, wie der Achtung der persönlichen Würde (Kant) oder der Goldenen Regel, die jedoch unabhängig von religiösen Überzeugungen über den mutmaßlichen Willen Gottes sind.

 

Die weit verbreitete Lehrbuchauffassung, dass es verschiedene Arten oder Gestalten von philosophischer Ethik gäbe, nämlich eine deontologische Ethik (Kant), eine intuitionistische Ethik (Sidgwick, Moore und Ross, Scheler und Pfänder), eine werttheoretische Ethik (Brentano) und eine utilitaristische bzw. konsequentialistische Ethik (Bentham und Mill) sowie Tugendethiken (Platon und Aristoteles), die miteinander rivalisierten und sich gegenseitig ausschließen würden, ist schulbuchmäßiges Halbwissen ohne ein persönliches Verständnis für die Einheit der sittlichen Tugend (Sokrates), das den maßgeblichen Auffassungen und Schriften der meisten bedeutenden philosophischen Ethiker nicht gerecht wird.

 

Da die entscheidende kognitive Tugend die phronesis oder die Fähigkeit der Urteilskraft (Aristoteles und Kant) aus der Sicht eines “unparteiischen Schiedsrichters” (Adam Smith) ist, ist optimale Gestalt einer philosophischen Ethik eine nicht bloß kasuistische Situationsethik (Kant und Brentano), die die Entscheidungen in konkreten Situationen (von ethischen und moralischen Konflikten) dem persönlichen Gewissen, dem persönlichen Wissen und der persönlichen Verantwor-tung überlässt. Auf diese Weise ist die allgemeine Ethik mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gestalten einer spezifischen Berufsethik, wie z.B. der Wirtschafts-, Rechts-, Medizin- oder politischen Ethik, vereinbar.

 

Da jedoch niemand vollkommen ist, müssen alle Menschen durch Fehler lernen und kommen nicht umhin, Fehler zu machen und schuldig zu werden. Daher sollten die jüdisch-christlichen Tugenden der Demut, des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung auch in eine philosophische Ethik aufgenommen werden, um die tiefe menschliche Sehnsucht nicht nur nach Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern auch nach Barmherzigkeit, Mitgefühl, Solidarität, Vergebung und Ver-söhnung zu erfüllen.

 

11. In der Rechtsphilosophie vertrete ich eine komplexe Rechtsphilosophie, die auf einer kognitiven Rechtsethik (Kant und Brentano) sowie auf der Akzeptanz von parochialen Bürger- und allgemeinen Menschenrechten beruht. Die Menschenrechte basieren jenseits eines naturalistischen Fehlschlusses nicht etwa auf der allgemeinen Natur der Menschen, sondern auf der menschlichen Erkenntnis, Anerkennung und Wertschätzung der allgemeinen Natur der Menschen, d.h. auf ihren angeborenen Potentialen und erworbenen Fähigkeiten. Auch Tierrechte beruhen nicht auf der Natur der Tiere selbst, sondern auf der menschlichen Erkenntnis, Anerkennung und Wertschätzung der natürlichen Interessen und Ziele verschiedener höherer Tiere. Die Behauptung, dass die Menschenrechte auf der Erkenntnis, An-erkennung und Wertschätzung der menschlichen Natur beruhen, beantwortet jedoch noch nicht die Frage, wie sie allgemeingültig erkannt werden können und warum sie anerkannt und für wertvoll erachtet werden sollten.

 

Kein weltanschaulicher Naturalismus kann dieses wichtige normative Problem lösen. Daher gibt es nicht nur keine naturalistische Ethik (Brentano und G.E.Moore), sondern auch keine naturalistische Rechtsphilosophie (Kant und Hegel). Außerdem genügt es in politischer Hinsicht nicht nur universale Menschenrechte, aber keine parochialen Bürgerrechte anzuerkennen. Denn alle modernen Demokratien, die in ihren Verfassungen bestimmte Menschenrechte garantieren und mit den legislativen, judikativen und exekutiven Institutionen ihres nationalen Rechtsstaates durchsetzen wollen, leben von dem parochialen Wahlrecht ihrer rechtsmündigen und wahlberechtigten Staatsbürger in den Grenzen ihres jeweiligen nationalen Staatsgebietes (Carl Schmitt).

 

Die Anerkennung und Wertschätzung von Bürger- und Menschenrechten entsteht aus der spezifisch menschlichen Intelligenz, d.h. aus einem komplexen Zusammenspiel von menschlicher Erfahrung, Intuition und Gewissen, Ein-fühlungsvermögen, Phantasie und Reflexion. Daher sind die Bürger- und Menschenrechte nicht einfach von der Natur, von Gott, der Religion oder dem Staat gegeben. Es gab viele und es gibt immer noch einige menschliche Kulturen und Religionen ohne irgendeine Vorstellung von unveräußerlichen Bürger- und Menschenrechten. Die Idee der Bürger- und Menschenrechten stammt ursprünglich aus der stoischen Philosophie, aus dem jüdischen und christlichen Glauben und aus dem römischen Recht. Sie blühte aber erst im Zeitalter der Aufklärung auf, als traditionelle theologische Vorstel-lungen vom Naturrecht säkularisiert und in vernünftige Rechte (Kant und Hegel) und schließlich in Bürger- und Menschen-rechte umgewandelt wurden. Die Idee, dass die Rechtsstaaten moderner Demokratien grundlegende Bürger- und Menschenrechte verfassungsmäßig garantieren, gesetzlich verankern und politisch realisieren sollten, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter einer Bezugnahme auf moderne Verfassungen (die aus den französischen und amerika-nischen Menschenrechtserklärungen hervorgegangen sind) und auf die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen festgelegt.

 

Aber eine rechtliche Verfassungsgarantie und ein allgemeiner politischer Wille zur bestmöglichen Realisierung von Grund- und Menschenrechten unter den Realbedingungen einer bestimmten Nation oder Föderation bleibt immer hinter dem erträumten und erwünschten Ideal eines "Himmels auf Erden" zurück. Daher kommt es in der politischen Philosophie immer auf "das lebendige Gute" (Hegel) an, das sich in der Wirklichkeit praktisch realisieren lässt und nicht nur auf das erwünschte ideale Gute und erträumte noch Bessere, das nur allzu oft der Feind des schon erreichten lebendigen Guten ist.

 

Die politische Philosophie des 20. Jahrhunderts krankt jedoch oft an einer rationalistischen Dominanz und Reduktion der komplexen Vielfalt der Grundprobleme des Politischen, d.h. der Probleme der demokratischen, parlamentarischen und rechtsstaatlichen Etablierung und Konservierung angemessen regulierter Freiheiten, auf abstrakte "Theorien der Ge-rechtigkeit” (John Rawls). Die selten benannten Schwächen dieser abstrakten Konzeptionen einer "Theorie der Gerech-tigkeit" (Rawls) und einer "Theorie der Menschenrechte" (Amartya Sen) sind ihre nicht hinreichend reflektierten Voraus-setzungen (a.) eines naturalistischen Menschenbildes (Charles Taylor), (b.) einer unbestimmten und vagen, aber gren-zenlosen und nicht substanziellen "Wir-Gemeinschaft" (Michael Walzer), (c.) einer fragwürdigen Voraussetzung der Gleichheit der Menschen ohne Anerkennung der inkommensurablen Vielfalt von Idealen des guten Lebens (Charles Larmore) und der substanziellen Bedeutung der Weltanschauungen, der Religionen und Konfessionen (Alasdair McIntyre), (d.) des fehlenden konkreten Adressaten, der eine bestimmte Konzeption der Gerechtigkeit realisieren könnte, (e.) des unbewussten Machbarkeitsglaubens solcher "Theorien der Gerechtigkeit", (f.) der unbewussten Miss-achtung der kontingenten und partikularen Umstände des politischen Denkens, Fühlens und Handelns, (g.) des fehlenden Ausganges von den konkreten Realbedingungen in Form von sozialen Konventionen, Traditionen und Institutionen der menschlichen Praxis und Poiesis sowie (h.) der geistigen Flucht in die spekulativen Fiktionen und Gedankenexperimente eines ursprünglichen Naturzustandes, eines fiktiven Gesellschaftsvertrages oder eine fiktiven Entscheidungssituation unter dem "Schleier der Unwissenheit" (John Rawls).

 

Daher kommt es immer auch auf die realen Bedingungen und Qualitäten der legislativen, judikativen und exekutiven Funktionen und Organe konkreter Rechtsstaaten an. Jedes positive Gesetz kann gut oder schlecht sein, d.h. moralisch gerecht oder ungerecht, ethisch gerecht oder ungerecht, pragmatisch wirksam oder unwirksam, usw. Daher sollte jedes positive Rechtssystem ein möglichst kohärentes Maximum an guten Gesetzen enthalten, d.h. bestenfalls nur faire, gerechte und wirksame Gesetze. Da sich die Natur und die Gesellschaften in der Geschichte verändern, kann kein juristisches und etabliertes Rechtssystem für immer angemessen oder gar vollkommen sein. Und da alle positiven Rechtssysteme konkrete Institutionen sind, die auf kulturellen Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen ge-wachsen sind, brauchen sie ständige Reformen, indem sie das etablierte Rechtssystem korrigieren und verbessern. Jedes angemessene, integre und kohärente Rechtssystem sollte jedoch gegenwärtig grundlegende Bürgerrechte und Menschenrechte sowie allgemeingültige Rechtsideale wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und Solidarität der gleichen Chancen auf ein menschenwürdiges Leben, pragmatische Sicherheit und exekutive Effektivität, usw. respektieren.

 

Darüber hinaus enthält jedes gute Rechtssystem einige synthetisch-apriorische und kategorische Prinzipien der Gesetz-gebung und der Rechtsprechung (Ulpian, Kant und Otfried Höffe), wie z.B. die Prinzipien: keine willkürlichen Gesetze, keine Bestrafung ohne Gesetz, keine Schuld ohne Zurechenbarkeit, keine Zurechenbarkeit ohne Wahlfreiheit, Schuld ist individuell, Keine Sippenhaftung, keine legitime Bestrafung ohne faires Verfahren, kein faires Verfahren ohne Anwalt, keine Selbstjustiz, keine legitime Macht über Menschen, Tiere, Sachen und Güter, wenn sie nicht von rechtmäßigen Organen des Rechtsstaates ausgeführt wird, usw. Diese juristischen Ideale und kategorischen Prinzipien der Gesetz-gebung und Rechtsprechung haben eine besondere und höhere verfassungsrechtliche Dignität und müssen deshalb vor gewöhnlichen Rechtsreformen durch die Gesetzgebungsbefugnisse demokratisch gewählter Regierungen und Parlamente geschützt werden. Sie unterliegen daher höheren Organen des Rechtsstaates, wie z.B. den Bundes- und Verfassungsgerichten mit ihrem besonderen Auftrag zu einer verbindlichen Auslegung der nationalen Verfassungs-prinzipien.

 

12. In der politischen Philosophie vertrete ich eine Philosophie eines sozialen und ökologischen Liberal-Konservatis-mus, der das Ziel der Verwirklichung der Chancengleichheit (Ralf Dahrendorf) auf ein möglichst eigenverantwortliches und gutes Leben zum Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Menschenwürde entsprechend den eigenen realen Begabungen, Tugenden, Überzeugungen, Idealen und Zielen anstrebt.

 

Da jedoch Kinder und Jugendliche eine angemessene Ausbildung und Bildung benötigen und da behinderte, chronisch kranke und alte Menschen nicht nur von ihren Familien, sondern auch von öffentlichen Einrichtungen finanziell und medizinisch ausreichend unterstützt werden müssen, sollte es auch ein angemessenes nationales System der öffent-lichen Solidarität in der Ausbildung und Bildung, im Gesundheitswesen und in der Daseinsvorsorge, in der Wohnungs- und Rentenpolitik geben. Dieses Solidarsystem sollte nicht so sehr durch Steuern auf das Einkommen durch anständige Arbeit und fairen Handel, sondern vielmehr durch hohe Steuern auf bloße Finanzspekulationen und den Verbrauch von natürlichen Ressourcen und Luxusgütern finanziert werden (Gero Jenner).

 

Andernfalls kann das politische Ziel der Chancengleichheit (im Gegensatz zu einer sozialistischen Gleichheit der Resultate) nicht verwirklicht werden. Unter den sich ändernden politischen Bedingungen des realen Lebens und den verbleiben-den ökonomischen Grenzen und begrenzten Ressourcen des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens kann Chancengleichheit für eine möglichst große Zahl von Menschen jedoch immer nur durch gemeinsame Anstrengungen einer Vielzahl unterschiedlicher, effektiver und subsidiärer Zentren privatwirtschaftlicher, öffentlicher und staatlicher Aktivitäten erreicht werden.

 

Das beste politische System, um dieses politische Ziel der Chancengleichheit zu erreichen, ist eine moderne Nation mit einer parlamentarischen Demokratie, mit einem repräsentativen Präsidialamt oder wahlweise einer repräsentativen Monarchie, mit einem Rechtsstaat, mit einem Sozialstaat und mit einer sozialen Marktwirtschaft, die nach den Prinzipien eines pragmatischen Ordoliberalismus arbeitet, im Gegensatz zu einem dysfunktionalen Neoliberalismus und zu einem dogmatischen Keynesianismus. Demokratisch gewählte Regierungen benötigen die politische Macht und Stärke recht-licher Institutionen, um das vermeintlich beste Interesse des bürgerlichen Staatsvolkes einer Nation und den demokra-tischen Willen des Staatsvolkes, der durch regelmäßige freie und diskrete Wahlen zum Ausdruck kommt, zu sichern.

 

Der nationale Markt, die gemeinsame öffentliche Infrastruktur und die Bedingungen der Daseinsvorsorge und der Lebenschancen zukünftiger Generationen müssen durch ausreichende Regelungen geschützt werden, um sowohl eine übermäßige Ausbeutung der Tendenzen der globalen und lokalen Märkte zu verhindern als auch, um zu verhindern, dass die Kosten der Politik der Gegenwart auf zukünftige Generationen abgewälzt werden. Bürger- und Menschenrechte sollten durch eine moderne Verfassung und durch einen legitimen Rechtsstaat garantiert werden, der möglichst frei ist von übermäßiger Korruption, von der politischen Vorherrschaft der demokratischen Mehrheit und von ökonomischem Lobbyismus, der der Mehrheit der Produzenten und Konsumenten schadet.

 

Die nationale Verfassung und der Rechtsstaat sollten nicht vollständig dem Einfluss der stärksten Partei und dem Willen der Regierung unterliegen, sondern sie sollten von allen als weitgehend über der Parteipolitik und den Partikular-interessen stehend respektiert werden. Die mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten politischen Organe zum wehr-haften Schutz von Recht und Ordnung zugunsten der Bürger und Menschen vor inneren Rechtsbrechern und zur

wehrhaften Verteidigung der Nation gegen äußere Feinde müssen von Regierung und Parlament geachtet und wert-

geschätzt, politisch reguliert und finanziell ausgestattet werden, weil sie in Notlagen der unverzichtbatre Garant der

frei-heitlich-demokratischen Grundordnung des politischen Lebens einer Nation sowie des Lebens, der Freiheit und

der Würde der Bürger und Menschen sind.

 

Da kein Rechtsstaat und keine Verfassung die notwendigen Voraussetzungen für ihren eigenen zukünftigen Bestand schaffen können (Ernst-Wolfgang Böckenförde), muss es staatliche Regelungen geben, die eine Vielzahl von rechtlichen, wirtschaftlichen, medizinischen, religiösen und pädagogischen Institutionen und Traditionen erhalten. Da jeder Rechts-staat ein Monopol über die legitime Gewalt seiner Polizei und seines Militärs haben muss, hat er auch die besondere Er-laubnis, verfassungsfeindliche gewalttätige Umwälzungen der Massen zu kontrollieren, ganz gleich, ob sie von einem totalitären Nationalismus und Rassismus oder von einem totalitärem Sozialismus und Anarchismus ausgehen.

 

Gewaltloser Widerstand, politische Kritik, kritischer Journalismus, politisches Kabarett, politische Karikaturen und Satiren, öffentliche Demonstrationen und soziale Bewegungen gegen eine ungerechte und repressive Politik, die den gemeinsamen Willen des Volkes und die zuverlässigen Ergebnisse gültiger demokratischer Wahlen nicht respektieren, können jedoch eine legitime Form des zivilen Ungehorsams sein und müssen dann von jedem legitimen Rechtsstaat respektiert werden. Politische Bildung, öffentlicher Zugang zu Informationen, Diskussionen und kulturellen Veranstal-tungen (in den Grenzen pragmatisch notwendiger Abschirmung von geheimen Informationen und Dokumenten der Regierungen und Geheimdienste, der Polizei und des Militärs) sowie ausreichende Transparenz über parlamentarische und staatliche Vorgänge gehören zu den bürgerlichen Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger einer modernen Demokratie mit einem soliden Rechts- und Sozialstaat. Politische Ausnahmen wie in nationalen Notlagen von Bürger-kriegen oder Kriegen, von Naturkatastrophen oder Epidemien regelt das nationale Notstandsrecht.

 

13. In der Ästhetik und Kunstphilosophie vertrete ich eine post-kantianische und post-hegelianische Auffassung von Ästhetik und Kunst. Ästhetische Urteile darüber, was schön oder hässlich, erhaben oder kitschig, interessant oder lang-weilig, heilig oder profan, faszinierend oder schrecklich ist, scheinen prima facie sehr subjektiv zu sein, je nach Persönlichkeit, Charakter und Temperament, kulturellem Hintergrund und Bildung der einzelnen Menschen. Emotionale Urteile darüber, was jemand als angenehm oder unangenehm, wohlschmeckend oder ekelhaft, aufregend oder langweilig, komisch oder tragisch, lustig oder traurig usw. empfindet, sind sicher auch subjektiv, aber sie hängen nicht nur von der Persönlichkeit, dem Charakter und Temperament, dem kulturellen Hintergrund und der Bildung der einzelnen Menschen ab, sondern oft auch von tieferen affektiven Reaktionen und sogar von vitalen Instinkten, die menschlichen Kulturen und sozialen Gruppen gemeinsam sind.

 

Kant hatte grundsätzlich Recht, dass ästhetische Urteile über Natürliches oder über Kulturelles zwar vom persönlichen Interesse an einem Objekt (interesseloses Wohlgefallen) weitgehend unabhängig sind, aber dennoch in der Regel eine Erwartung der Zustimmung seiner Mitmenschen implizieren. Dennoch können ästhetische Urteile in einer guten Ausbildung reflektiert und durch Kultivierung verfeinert werden, denn die begriffliche Differenzierung bei der Beschreibung und Bewertung ästhetischer Phänomene kann anhand einer zuverlässigen Tradition qualifizierter Beispiele und bewährter und erprobter Paradigmen gelernt werden.

 

Die persönliche Urteilskraft darf daher nicht nur als subjektiv im Sinne einer bloßen Relativität ohne zuverlässige gemein-same und vermittelbare Standards betrachtet werden. Es gibt zwar gut ausgebildete Kritiker und ausgewiesene Ex-perten in verschiedenen Bereichen (von der Küche bis zu den schönen Künsten), die es gelernt und geübt haben, kulturelle Artefakte mit ihrer verfeinerten Sensibilität und Intuition zu beurteilen, und die auch in der Lage sind, ihre Urteile mit guten Gründen gegenüber anderen Kritikern oder Experten auf dem gleichen Gebiet zu rechtfertigen.

 

Aber dennoch gibt es keine absolute oder nur allgemein akzeptierte Hierarchie der Künste, wie Hegel behauptete, und

es gibt kein absolutes Urteil oder eine absolut richtige Beurteilung in ästhetischen Fragen über die Natur, die kulturellen Artefakte oder die Künste (durch sog. “Kunstpäpste”). Aus diesem Grund neigen die Künste und die kulturellen Artefakte in modernen Gesellschaften dazu, dem Wandel der Moden, den politischen Ideologien oder dem aktuellen Markt-geschehen zum Opfer zu fallen. Darüber hinaus neigen sie dazu, zu bloßen Waren, zu Signalen der Gruppenidentität und zu Fetischen des sozialen Status zu werden. Auf diese Weise neigen sie dazu, ihren ursprünglichen Status und den innewohnenden Wert als Kunstwerke mit ihrer besonderen Aura (Walter Benjamin) zu verlieren.

 

Deshalb müssen Religionen, Konfessionen und andere Identitätsgruppen in modernen Gesellschaften ihre gemein-samen ästhetischen Standards und emotionalen Präferenzen - zusammen mit ihrem Glauben, ihrer Ethik und ihrer Weltanschauung - gegen die plumpen Neigungen und ungebildeten Vorurteile der Massen, gegen den post-modernen Individualismus und gegen den ökonomischen Totalitarismus verteidigen. (Theodor W. Adorno und Pierre Bourdieu) Eine politische Steuerung des persönlichen Selbstverständnisses und damit verbundener ästhetischer Präferenzen wie in der zeitgenössischen Identitätspolitik ist ein anti-liberaler und staatsdirigistischer Übergriff auf die Menschen und Bürger und von daher abzulehnen.  

 

Dennoch sind interkulturelle Zustimmung in Urteilen über das Schöne und Erhabene manchmal möglich wie z.B. in

der Volkskunst, der Volksmusik, den Volksliedern und Märchen der Menschheit (Gottfried Herder). Obwohl in offenen Gesellschaften die Freiheit der Künstler und Kulturschaffenden geschützt werden muss, ist ein breiter Konsens von Urteilen über ästhetische Fragen möglich, wie z.B. über angemessene Proportionen in Architektur, Design und Stadt-planung (Roger Scruton).

 

14. In der Religionsphilosophie vertrete ich eine pan-en-theistische Auffassung (Karl Christian Friedrich Krause): Gott ist universaler Geist, der von Menschen weder wahrgenommen noch vollständig erkannt werden kann. Er wird daher als der letzte unverfügbaren Grund und als das höchste intelligente Wesen geglaubt und verehrt, das das ganze Universum in Raum und Zeit mit seinen intelligiblen Naturgesetzen erschaffen hat und das die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf der Erde in der Naturgeschichte und die Entstehung und Entwicklung des Menschen als intelligentes Lebewesen in der Kulturgeschichte ermöglicht hat. Daher ist Gott ein selbstständiges und ungeschaffenes, allum-fassendes und ewiges, notwendiges und unveränderliches Wesen, das jedoch auch geheimnisvoll und für menschliche Vorstellungen und Begriffe nicht vollständig verstehbar ist.

 

Da Gott von der kontingenten und weitgehend verstehbaren raumzeitlichen Lebenswelt verschieden ist, kann er nicht einfach mit der Totalität aller Dinge identisch sein, weder mit dem Sein (Meister Eckhart) noch mit der Natur (Spinoza) noch mit der Weltgeschichte (Hegel), wie in den verschiedenen Formen des Pantheismus. Die kontingente raumzeitliche Welt hängt von Gott ab und existiert immer und überall in Gott und sie entwickelt sich von Anfang an bis in alle Ewigkeit aufgrund der endlosen schöpferischen Energie und erhaltenden Kraft Gottes. Als alles umfassender Schöpfer des Universums und der gesamten Menschheit transzendiert Gott jedoch alle Kulturen, Religionen und Konfessionen.

 

Das Problem der Theodizee, d.h. die Frage, wie die theistischen Vorstellungen von Gott als einem allmächtigen und all-wissenden Wesen mit denen vereinbart werden können, dass Gott vollkommen gut (d.h. liebend, gerecht, gütig und barmherzig) ist, bedürfen einer philosophischen Überwindung mythologischer und anthropomorpher Vorstellungen von Gott. Die Vorstellung von der Personalität Gottes, die im Gebet zum Ausdruck kommt, weil die Menschen darin

Gott für sich als ein "absolutes Du" (Martin Buber) ansprechen, ihn um etwas bitten und ihm für etwas danken, ist eine zutiefst menschliche Vorstellung, von der Philosophen jedoch nicht wissen, ob sie Gott wirklich entspricht.

 

Die bildreiche fromme Poesie und Volksfrömmigkeit ist dadurch gekennzeichnet und voll davon, aber Philosophen

und Wissenschaftler können das nur bedingt nachvollziehen. Aber weil sie von Gott mehr im Sinne des Panentheismus denken, ist der Glaube an Gott in diesem Sinne mit den besten wissenschaftlichen Theorien über den Beginn des Universums (basierend auf dem evidenten Prinzip des ex nihilo nihil fit) vereinbar, d.h. mit der immer noch rätselhaften Entstehung des Lebens auf der Erde, mit der noch nicht ausreichend verstandenen Evolution des intelligenten Lebens auf der Erde und mit der Emergenz der Kulturgeschichte des homo sapiens.

 

15. Da die Philosophie vor allem ein intellektuelle Disziplin und im Wesentlichen eine kognitive und reflektierende Wahrheitssuche ist, die tiefe Aporien, methodologische Skepsis und schwierige Fragen zulässt, ist sie weder ein miß-liebiger Rivale noch ein ideologischer Ersatz für den Glauben, wie z.B. den jüdischen, christlichen oder islamischen Glauben. Dennoch kann die Philosophie durchaus auch eine Vorbereitung auf den Glaubens (preambula fidei) und eine persönliche Suche nach dem Glauben an Gott sein. Da man gemeinhin zurecht davon ausgeht, dass der religiöse Glaube auf einer Offenbarung beruht, die die Herzen und den Verstand der Gläubigen direkter anspricht, unterscheidet er sich jedoch wesentlich von der Philosophie. Daher gibt es viele andere Wege zum Glauben, und der Weg der Philo-sophie ist nur einer davon.

 

Da der jüdische, christliche und islamische Glaube jedoch auch einige Überzeugungen über Gott und über Jesus (Yeschua oder Isa) enthält, die für ihre jeweiligen Glaubensweisen wesentlich, aber untereinander unvereinbar sind, müssen sich seriöse Philosophen mit ihnen auseinandersetzen, sobald sie mit ihnen konfrontiert werden. Dies ist

jedoch genau der Moment, in dem die Philosophie endet und die Theologie beginnt. Die biblische und trinitarische christliche Theologie liegt außerhalb dessen, was Philosophen alleine durch philosophisches Nachdenken über das Dasein des Menschen in der Welt und ihre eigene Selbst- und Welterfahrung erreichen können.

 

Der Gott der hebräischen Propheten ist jedoch anders als der absolut vollkommene (allmächtige, allwissende, überall gegenwärtige und ewige) Gott der griechischen Philosophen ein dynamischer, lebendiger und geschichtlicher Gott,

der zuerst aus Liebe mit den Juden, seinem Volk in Israel eine wechselhafte Beziehung eingeht und dann in der Not

zur Rettung seinen eigenen Sohn als Messias schickt, um dann jeden einzelnen Menschen aus Liebe zu retten. So eine spannende Abenteuergeschichte kann man sich nicht ausdenken. Dazu braucht man kein auch noch so  vernünftiges philosophisches Nachdenken, sondern ein wachsendes Verständnis für die dramatischen Stories der Bibel.

 

Heidelberg, 31. Oktober 2020 (geringfügig überarbeitet am 12. August 2022)