Demokratie - Rechtsstaat - Marktwirtschaft

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

 

 

Man's and women's capacity for justice makes democracy possible,

but their inclination to injustice makes democracy necessary.

 

Reinhold Niebuhr

 

 


 

Grenzen der Demokratie - Essay

 

Wahlen allein schaffen und sichern keine freiheitliche Grundordnung. Entscheidend ist der Rechtsstaat - und eine äußere Macht, die ihn schützt

 

Der Wahlsieg der militanten und bis dato außerparlamentarisch agierenden Hamas in den Palästinensergebieten erinnert uns daran, was die Demokratie nicht leisten kann. Niemand in einem der etablierteren demokratischen Staaten ist überrascht, wenn die eigene Seite nicht gewinnt. Bei der Demokratie geht es um den Wettbewerb der Parteien, und sofern sie keine "große Koalition" bilden, können nicht alle gewinnen. Was aber, wenn Wahlsieger nicht die Absicht haben, sich an die Regeln zu halten, die ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Prozesses sind?

Man erinnere sich an Hitler, der sich, obgleich seine eigene Partei die absolute Mehrheit der Stimmen verfehlte, bei seiner "Machtergreifung" auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. In jüngerer Zeit haben Wahlen in den postkommunistischen Ländern Europas Gruppen an die Macht gebracht, deren demokratische Verbundenheit, gelinde gesagt, zweifelhaft ist.

 

Dies ist nicht als Vergleich der Hamas mit irgendeiner dieser politischen Kräfte zu verstehen. Trotzdem muß man sich über eine siegreiche Bewegung Gedanken machen, bei der eine größere Zahl der gewählten Abgeordneten in israelischen Gefängnissen sitzt, während andere kaum die Erlaubnis erhalten werden, in das Land einzureisen, in welchem sie gewählt wurden - so daß das neue Parlament nicht ordnungsgemäß funktionieren kann.

All dies sagt drei Dinge über die Demokratie aus:

 

Erstens lösen Wahlen nur selten grundlegende Probleme. Insbesondere schaffen sie keine freiheitliche Grund-ordnung. Damit sie wirksam sein kann, muß einer Wahl ein umfassender Zeitraum der Debatte und des Austauschs von Argumenten vorausgehen. Es müssen Thesen aufgestellt und angegriffen beziehungsweise verteidigt werden. Vor allem erste Wahlen sind als Fundamente der Demokratie fast zwangsläufig von begrenztem Wert, da sie in einer emotional aufgeheizten Atmosphäre und überwiegend ohne substantielle Debatte stattfinden. Sie sind eher eine Einladung, darzustellen, wer man ist und wohin man gehört, als ein Wettstreit wohldefinierter und umfassender politischer Programme.

 

Dies bedeutet zweitens, daß erste Wahlen, und vielleicht auch Wahlen im allgemeineren, selbst keine aus-reichende Garantie der Freiheit darstellen. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungs-gericht, hat es in die berühmten Worte gefaßt, daß Demokratien die Bedingungen für ihr Überleben und ihren Erfolg nicht selbst hervorbringen können.

 

Was sind diese Bedingungen, und wer bringt sie hervor? Die Antwort auf die erste Frage lautet: die Rechtsstaatlichkeit. Es muß bestimmte politische Spielregeln geben, die für alle bindend sind, so daß jeder, der diese nicht akzeptiert oder befolgt, von der politischen Teilhabe ausgeschlossen wird.

 

Dies ist freilich leichter gesagt als getan. Wer bestimmt die Spielregeln? Es steckt eine offensichtliche Logik dahinter, zunächst eine verfassunggebende Versammlung einzurufen und anschließend die Wahlen gemäß den dort vereinbarten Regeln abzuhalten. So geschah es beispielsweise im Irak. Aber auch die verfassunggebende Versammlung muß gewählt werden, und diese Wahl kann genau dieselben Schwierigkeiten aufwerfen, wie sie erste Parlamentswahlen in neuen Demokratien plagen.

Nachdem die Spielregeln festgelegt sind, bleibt noch immer die Frage, wer sie durchsetzt. Wer könnte der Hamas erklären, daß ihre Wahl, sofern die Hamas bestimmte Regeln nicht akzeptiert, nichtig ist? Dies erfordert so etwas wie ein Verfassungsgericht sowie eine Justiz und Institutionen, die deren Urteile durchsetzen. In souveränen Staaten und Territorien ist es höchst unwahrscheinlich, daß sich diese von selbst entwickeln. Es ist kein Zufall, daß der demokratische Prozeß sich dort am reibungslosesten fortentwickelt hat, wo eine äußere Macht vorhanden war, die die Verfassung stützte.

Die dritte Lektion ergibt sich aus diesen Überlegungen. Das Vorhandensein einer Demokratie im Sinne freier Wahlen mit bestimmten Regeln gestattet es den übrigen von uns nicht, zu sagen, die Sache der Freiheit habe gesiegt und wir könnten gehen. Im Gegenteil: Demokratie ist eine langfristige Aufgabe. Manche behaupten, sie wäre erst erreicht, wenn ein Land zwei friedliche Regierungswechsel bewältigt habe ("two-turnover test"). Man muß dieses Kriterium um das Vorhandensein einer Debattenkultur ergänzen, die Wahlen zu einem echten Wettkampf unterschiedlicher Antworten auf die anstehenden Probleme macht.

 

Für die Palästinensergebiete bedeutet dies, daß die Erwartungen der Menschen an die Wahlen vermutlich zu hoch waren. Eine Reduzierung der Erwartungen bedeutet entsprechend, daß die Bedeutung der Ergebnisse nicht überbewertet werden sollte. Wer weiß? Vielleicht erweist sich das Wahlergebnis noch als ein Schritt hin zu einem effektiven Staat, der internationale Anerkennung verdient. Bis dahin ist die Schlüsselaufgabe die Förderung der Rechtsstaatlichkeit, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

 

Aus dem Englischen von Jan Neumann. Ralf Dahrendorf war Buchautor, ehemaliger deutscher EU-Kommissar, Mitglied des britischen Oberhauses und ehemaliger Leiter der London School of Economics und des St. Antony's College in Oxford.

 

© Project Syndicate 2006

 

 

https://www.welt.de/print-welt/article199202/Grenzen-der-Demokratie-Essay.html

 


 

Krise der Demokratie: An den Grenzen des Systems

 

Weltweit diffamieren Autokraten und Populisten freiheitliche Werte. Was muss sich ändern, damit die Demokratie sich dagegen behaupten kann? Ein Essay von Moritz Döbler

 

Berlin, Der Tagesspiegel, 04.01.2019

 

Um die Demokratie zu retten bedarf es mehr als guter Intentionen und eindringlicher Appelle. Denn sie ist weltweit bedroht, und das zeigt sich am Ende des Jahres 2018 deutlich. Donald Trump, Wladimir Putin, Viktor Orban oder Recep Tayyip Erdogan stellen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit infrage. In Frankreich rütteln die Gelbwesten an der politischen Legitimität der Regierung. Auch in Deutschland macht sich ein Hass auf Eliten breit, besonders auch auf die gewählten Vertreter des Staates. Eine offen antiparlamentarische Partei stellt bereits die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag und ist in allen Landesparlamenten vertreten.

 

Die Demokratie bröckelt in vielen Staaten. Vom Ende der Geschichte, das den Sieg dieses politischen Systems beinhaltet, ist längst keine Rede mehr. Denn es bringt auch offenkundige Pannen hervor. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ein Volk wie im Fall des Brexit eine demokratische Entscheidung trifft, die seinen eigenen Interessen völlig zuwiderläuft? Was soll man von einem US-Präsidenten halten, der die Mehrheit der Stimmen knapp verfehlte, aber dank eines komplizierten Wahlrechts trotzdem an die Macht kam und nun demokratische Werte verächtlich macht?

 

Solche Phänomene lassen sich nicht als Kollateralschäden eines ansonsten funktionierenden Systems entschuldigen. Demokratien müssen lernen, sich zu reformieren – sonst gehen sie tatsächlich unter. Ohnehin ist die geordnete Mehrheitsentscheidung historisch gesehen eine exotische Angelegenheit. In der 300.000-jährigen Geschichte des Menschen nimmt sie keinen breiten Raum ein. Selbst wer nur die sogenannte Neuzeit der jüngsten 500 Jahre betrachtet, wird vielfältige politische Systeme finden, in denen Demokratie aber selten eine Rolle spielte. Wenn sie unterginge, bliebe sie eine kurze Episode der Geschichte.

 

Viele Menschen empfinden sich nicht als "frei"

 

An Appellen, die Demokratie zu schützen, fehlt es nicht. Aber die Begründungen bleiben seltsam vage. Von Freiheit ist dann die Rede, aber viele Menschen empfinden sich nicht als frei, obwohl sie in demokratischen Systemen leben. „Wir sind das Volk“, hieß es vor fast 30 Jahren auf Massendemonstrationen in der wenig später untergegangenen DDR. Die Losung galt als Ruf nach Freiheit und Demokratie. Doch heute, da sich ein freiheitliches und demokratisches System an der Stelle des Staatssozialismus etabliert hat, ist es vielen Menschen auch nicht recht. Die Freiheit scheint ihnen nicht ihre Freiheit zu sein – und so ihren Reiz verloren zu haben.

 

Im Westen Deutschlands stand die Überlegenheit – vor allem die moralische – der Demokratie nie infrage. Sie galt in ihrer bundesrepublikanischen Ausprägung als das Gute, als die quasi evolutionäre Konsequenz aus der Herrschaft der Barbarei in den NS-Jahren. Und als wirtschaftliches System, das untrennbar mit der Demokratie verbunden sei, galt die Marktwirtschaft. Beide Vorstellungen sind, aus heutiger Sicht betrachtet, mindestens naiv. Weder setzt Demokratie sich zwangsläufig durch, denn die Geschichte hat kein Ende, noch ist Marktwirtschaft nicht auch in Verbindung mit anderen politischen Systemen denkbar. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in China.

 

Nach einer Konferenz mit dem Titel „Deutsch-Chinesischer Mediendialog“, zu der das Auswärtige Amt im vergangenen Jahr nach Peking eingeladen hatte, saßen die deutschen Journalisten, zu denen auch der Autor dieses Essays zählte, verdattert beisammen. Mit im Raum standen die unausgesprochenen Fragen der chinesischen Gastgeber. Fragen wie: Welchen Nutzen hat denn eure Demokratie? Oder: Wie schnell hättet ihr mit eurem politischen System wohl den Wohlstand geschaffen, der das heutige China prägt?

 

Worin liegt die Rendite der Demokratie?

 

Nun lässt sich mühelos umfassende Kritik am Modell China formulieren, angefangen bei der systematischen Verletzung der Menschenrechte, aber trotzdem sind diese Fragen mit dem Blick von außen auf Deutschland und Europa und im Kontext der Geschichte legitim. Ganz unabhängig von China: Welchen Nutzen hat die Demokratie jenseits der gefühlten moralischen Überlegenheit? Oder, noch schärfer, worin liegt ihre Rendite?

 

Schwerfällig ist sie auf jeden Fall. In der Theorie sollten demokratische Entscheidungen stets die besseren sein, weil hinter ihnen die Mehrheit im Sinne einer Schwarmintelligenz steht. Selbst wenn vielleicht nicht sofort die richtige Richtung eingeschlagen wird, am Ende hat der Schwarm immer recht, das ist die Theorie. Aber die Praxis des Brexit spricht eine andere Sprache. Und auch die Beweglichkeit, die im Bild des Fischschwarms zum Ausdruck kommt, zeigt sich in der Realität demokratischer Systeme kaum. So flink, geschlossen und klug, wie der im Meer Gefahren ausweicht, präsentiert sich wohl keine einzige Demokratie auf der Welt.

 

Dass der deutsche Staat der gesetzlichen Rentenversicherung, die sich eigentlich aus den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern speisen soll, inzwischen pro Jahr fast 100 Milliarden Euro aus Steuermitteln zuschießt, mag eine innere Logik haben, aber eine nachhaltige Alterssicherung für alle kann so nicht entstehen. Also bleibt es so verkorkst, wie es ist, weil es keine Mehrheiten für eine Reform gibt. Vor nun schon zehn Jahren ging die Lehman-Bank in New York pleite, doch bis heute tut sich die Europäische Union schwer, die Folgen der globalen Finanzkrise gemeinschaftlich zu lösen. Die quälende Langsamkeit, demokratisch legitimiert, bringt immer wieder neue, enorme Risiken hervor, vor allem für die südlichen, weniger wohlhabenden Staaten der Gemeinschaft. Dass der Klimawandel die Menschheit bedroht, lässt sich nicht übersehen, aber die Effekte selbst der schärfsten Emissionsvorgaben in Europa greifen offensichtlich zu kurz.

 

Politiker, die sich an den vier oder fünf Jahren bis zum nächsten Wahltag orientieren, werden solche Themen nur selten mit der nötigen Vehemenz angehen wollen. Alterssicherung, Finanzkrise, Klimawandel – drei Beispiele für das Unvermögen des demokratischen Systems, angemessene Antworten auf wirklich bedeutende Fragen zu finden. Vieles, was in Deutschland längst einer Erneuerung bedürfte, bleibt im Gewirr des Föderalismus’ stecken. Weder das Bildungs- noch das Steuersystem sind zeitgemäß, doch wirksame Reformen sind nicht absehbar. Stattdessen werden komplizierte Ausgleichsmechanismen gefunden, wenn es hakt, etwa über einen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern.

 

Im neuen Jahr jährt sich die Gründung der Bundesrepublik und das Inkrafttreten ihrer demokratischen Verfassung zum 70. Mal. Das gilt es zu feiern, keine Frage. Aber wenn man diesen Staat neu erfinden müsste, wäre er ganz sicher nicht so aufgebaut, wie er sich heute präsentiert. Ähnlich ist es auf der Ebene der Europäischen Union. So sehr sie ohne jeden Zweifel eine historische und nicht zu schmälernde Errungenschaft darstellt, mit der ein Kontinent Krieg und Verwüstung überwunden hat, so sehr hat sie sich auch in einen bürokratischen Moloch mit undurchsichtigen Entscheidungsmechanismen entwickelt. Freiheit als Begründung für diese Ausprägungen demokratischer Systeme greift offensichtlich zu kurz.

 

Gerechtigkeit ließe sich zusätzlich anführen. Aber wer mit den Augen jener chinesischen Gesprächspartner auf Deutschland und Europa blickt, dürfte Zweifel empfinden. Die Schicksale der vielen Menschen, die hier zu kurz kommen, ob nun Rentnerinnen der früheren DDR, arbeitslose Jugendliche in Spanien oder gar der zu Tausenden im europäischen Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge zeigen, dass auch demokratische Systeme nicht zwingend für Gerechtigkeit sorgen, selbst dann nicht, wenn sie Milliarden für Transfer- und Hilfsleistungen mobilisieren. Geht es zum Beispiel in Griechenland, einem demokratisch verfassten Mitgliedsland der Europäischen Union, wirklich überall gerechter zu als in China?

 

Die EU wäre mächtiger, wenn sie geeint wäre

 

Wenn aber die Demokratie keinen Effizienzgewinn bietet, wenn die Menschen am Wert der Freiheit zweifeln und sich Gerechtigkeit nicht hinreichend einstellt, ist die schwindende Bindungskraft dieses Systems kein Wunder. Es wird nur dann nicht untergehen, wenn es den Wettbewerb mit anderen Formen der politischen Willensbildung gewinnt. Die Europäische Union wäre die größte Volkswirtschaft der Erde, wenn sie politisch geeint wäre, und ihre Überlegenheit wäre offensichtlich. Als überlegen im Wettbewerb der Systeme kann die Demokratie auf Dauer nur sein, wenn sie effizient organisiert ist und Wohlstand für alle produziert. Dann lässt sie sich legitimieren, dann hat sie gelenkten und autoritären Systemen nicht nur ihren Freiheitsbegriff voraus. Aber wie reformieren sich demokratische Systeme, die in die Jahre gekommen sind? Wie überwindet etwa die Bundesrepublik Vorkehrungen, die den Vätern des Grundgesetzes vor 70 Jahren sinnvoll erschienen, die aber im Wettbewerb der Systeme heute hinderlich geworden sind? Dass der Bundestag mit dem Bundesrat ein dezentral austariertes Gegengewicht haben sollte, mag richtig sein, aber über die notwendige Zahl der Bundesländer und deren Zuständigkeiten sagt das noch nicht viel.

 

Nun lässt sich Vernunft nicht verordnen. Die Demokratie wird nur dann überleben, wenn sie sich auf ihre Stärke besinnt, nämlich die Kraft der kollektiven, mehrheitlichen Entscheidungen. Die Menschen müssen ihre politische Teilhabe neu schätzen lernen und nicht nur auf die Kreuze reduzieren, die sie gelegentlich auf Wahlzetteln machen dürfen. Demokratie lebt vom Mitmachen; sie ist kein System, das man erduldet. Parteien und Institutionen müssen sich öffnen.

 

So wie der Flügelschlag eines Schmetterlings das Wetter beeinflusst, kann eine öffentlich vorgetragene Meinung die Gesetzgebung verändern. Die 15-jährige schwedische Schülerin Greta Thunberg hat das gerade gezeigt. Das Video von ihrer Rede bei der Uno-Klimakonferenz in Kattowitz ging um die Welt. Noch erstaunlicher ist die Vorgeschichte: Nach den vergangenen Sommerferien, als es auch in Schweden ungewöhnlich heiß war, startete sie Schulstreiks, um für einen kompromisslosen Klimaschutz einzutreten. Binnen weniger Monate haben sich ihr Jugendliche in vielen Ländern angeschlossen. Warum für die Zukunft lernen, wenn es keine Zukunft gibt? Mit dieser Frage hat Greta Thunberg die Interessen ihrer Generation auf die Tagesordnung der schwedischen Regierung und der Vereinten Nationen gesetzt.

 

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit dürfen nicht untergehen

 

Ohne das Internet wäre das nicht möglich gewesen. Bisher scheint es den Feinden der Demokratie besser zu gelingen, sich die Informationstechnologie zunutze zu machen, etwa in Russland, China und den USA. Über soziale Medien lassen sie falsche Behauptungen massenhaft verbreiten, um Regierungen zu destabilisieren oder Wahlen zu beeinflussen. Die europäischen Institutionen halten technologisch nicht Schritt. Das muss sich dringend ändern. Die gesamte Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert. Mit den Möglichkeiten eines weltumspannenden, leistungsfähigen Datennetzes finden Angebot und Nachfrage auf neue Art zusammen.

 

Der Sinn der Demokratie in der Europäischen Union ist es, rund einer halben Milliarde Menschen ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und relativem Wohlstand zu ermöglichen. Die Deutschen sollten sich berufen fühlen, dieses großartige politische System zu schützen. Dafür muss es in all seinen Ausprägungen – von der Kommune über Land und Bund bis zum Europaparlament, das in fünf Monaten neu gewählt wird – effizienter werden. Denn die Demokratie steht in einem ständigen, an Fahrt zunehmenden inneren und äußeren Wettbewerb. Das geht jeden Stadtrat, jeden Abgeordneten, jeden Minister und jede Ministerin etwas an. Wer von seinen demokratischen Rechten Gebrauch macht, muss nicht nur Sachfragen, sondern mehr denn je das politische System als Ganzes im Blick haben. Jede demokratische Institution sollte sich ganz konkret fragen, wie sie effizienter und besser werden kann, welche Regeln sie dafür verändern muss und welche Technologien sie einsetzen sollte. Die Demokratie muss sich besser organisieren, wenn sie überleben soll. Es wäre eine Katastrophe für die Menschheit, wenn ihre Feinde triumphierten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit dürfen nicht untergehen.

 

https://www.tagesspiegel.de/politik/krise-der-demokratie-an-den-grenzen-des-systems/23813360-all.html

 


 

Warum der Bekenntniszwang unserer Demokratie schadet

 

Alexander Kissler im CICERO ONLINE am 27. Dezember 2019

 

Auch zwischen den Jahren wirkt die Gesellschaft polarisiert. Statt miteinander zu diskutieren, bekämpfen wir einander und fordern eindeutige Standpunkte voneinander ein. Doch Demokratie braucht mehr als ein Entweder-Oder:

 

Nun sind sie da, die seltsamsten Tage des Jahres. Sie umfassen nicht einmal eine ganze Woche, diese Tage vom 27. bis 31. Dezember, doch man gab ihnen einen besonderen Namen. „Zwischen den Jahren“ heißt diese Episode, und das stimmt und stimmt zugleich nicht. Das alte Jahr ist nicht vergangen, das neue nicht angebrochen. Der Kalender kennt keine solche Zeit dazwischen, für ihn gibt es immer nur ein Entweder-Oder, ein 2019 oder ein 2020, ein Jetzt oder ein Künftig. Jeder Kalender ist humorlos, phantasielos, unrettbar analog. Diese seltsamen Tage sprechen uns einen antikalendarischen Mut zu, wie er vielleicht nie nötiger war. Sie sagen uns: Wage es, nicht sofort Partei zu ergreifen. Gönne dir den Luxus des zweiten Gedankens. Vielleicht sogar des dritten, vierten, fünften. Sei deine eigene Partei.

 

Dazwischen steht der Unentschlossene, und Unentschiedenheit ist verpönt. Bei allen Debatten, die uns momentan umtreiben, gilt der alte DDR-Slogan, „Sag mir, wo du stehst.“ Gefragt ist das Sofortbekenntnis, das Einreihen in die richtige Kohorte an der Meinungsfront. Wir debattieren nicht, wir fragen Standpunkte ab. Wir streiten nicht, wir zeigen uns unsere weltanschaulichen Vereinsabzeichen. Wir widersprechen nicht, wir verdammen. Wir argumentieren nicht, wir preisen uns. Wer nur Interesse zeigt, sich also im Wortsinn dazwischen befindet, gilt als unsicherer Kantonist. Wer fragen will, bevor er einer Antwort zustimmt, muss sich den Vorwurf des Defätismus gefallen lassen. Optimismus ist zur Bürgerpflicht geworden und meint Einverstandensein mit der Regierungslinie. Oder einer anderen politischen Großerzählung.

 

Dogmatisierung statt Differenzierung

 

Nehmen wir die beiden Megathemen Migration und Klima. Handtuchschmal ist da der argumentative Zwischenraum geworden. Dieselbe Epoche, die im Namen der Differenz antrat und in der Dogmatisierung von Vielfalt zu enden droht, diese westliche Moderne, schätzt theoretisch, was sie praktisch ablehnt: das Abwägen, das Zögern, die Eigensinnigkeit. Wer in der Flüchtlingspolitik auf einem nationalstaatlichen Vorbehalt beharrt, wer das Gemeinwohl aufruft und nach sozialen Folgekosten fragt, der wird mit dem Vorwurf konfrontiert, er wolle Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Wer vom Leid fremder Menschen berührt wird und auf praktische Anteilnahme drängt, der kann in den Ruch geraten, das Land islamisieren und einen „Bevölkerungsaustausch“ vorantreiben zu wollen. Auf beiden Pfaden verdummen wir intellektuell und verrohen wir seelisch.

 

Noch unredlicher verläuft das Ping-Pong-Spiel von Stolz und Vorurteil in der Klimadebatte, die deshalb nur in Aus-nahmefällen eine Debatte ist. Die einen sagen, die Welt sterbe, der Planet Erde brenne, es sei eigentlich alles schon zu spät, weshalb drastischste Sofortmaßnahmen alternativlos seien. Der „Jugendrat der Generationenstiftung“ fordert ein sofortiges „Verbot von Inlandsflügen und Kurzstreckenflügen bis 1000 km“ und ein Tempolimit von 30 km/h in allen Städten. Wer diesen oder vergleichbaren Forderungen nicht zustimmt, habe die Erde auf dem Gewissen, sei also böse, ein Mörder. Von der klimapolitisch gegenüberliegenden Seite heißt es, der Mensch habe keinen oder einen derart geringen Einfluss auf das Klima, dass wir an unserem Umgang mit den natürlichen Ressourcen gar nichts ändern müssten. Auch hier gilt: Ein Königreich für eine Atempause, ein Ausscheren, ein Nachdenken.

 

Die Kunst des Eigensinns

 

Natürlich: Sich einen schlanken Fuß machen, wenn Entscheidungen gefragt sind, kann feige sein und dumm. Das endlose Räsonieren, die ewige Ironie taugen nicht zum Ideal. Wer nie Position bezieht, schenkt der Unvernunft billige Triumphe. Aber genauso wahr ist: In Reih und Glied stirbt alle Freiheit. In den Zwischenräumen wächst das Leben, in Brüchen gedeiht Kunst, im Unverfugten und darum Unverfügbaren keimt Erkenntnis.

 

Wer mag, kann diesen Zusammenhang mit den Worten Jorge Luis Borges' ins Metaphysische wenden: „Die Zukunft ist unvermeidlich, präzise; aber es mag sein, dass sie nicht zustande kommt. Gott lauert in den Intervallen.“ Wir sollten die Kunst des Eigensinns und der Nachdenklichkeit wieder erlernen – nicht nur zwischen den Jahren.

 

https://www.cicero.de/kultur/zwischen-den-jahren-debatte-diskussion-streit-demokratie/plus

 


 

Ist die Demokratie am Ende? – Nein, aber sie muss sich weiterentwickeln, wenn sie zukunftsfähig bleiben will

 

Kritik an der Demokratie gehört mittlerweile fast zum guten Ton. Aber ist sie berechtigt? Wie können Demo-kratien den Herausforderungen genügen, die Globalisierung, Klimawandel und digitale Revolution mit sich bringen?

 

Otfried Höffe, NZZ, Bücher, 04.07.2021

 

Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wähnten sich die freiheitlichen Demokratien auf der Siegesspur. Die wirtschaftlichen Erfolge autoritärer Staaten wie Russland und vor allem China stellten diese Ein-schätzung bald infrage. Und heute gehört Kritik an der Demokratie bei vielen Intellektuellen zum guten Ton. Im Fall des britischen Soziologen und Politikwissenschafters Colin Crouch hat sie sich, unter erstaunlichem Beifall, zum Gedanken verstiegen, der Westen habe die Idee einer Herrschaft des Volkes hinter sich gelassen und befinde sich auf dem Weg zur Postdemokratie.

 

Die politische Realität hat dieser Diagnose gründlich widersprochen. Ohne Zweifel tun Demokratien sich mit neueren Herausforderungen wie dem Umwelt- und Klimaschutz, den Flüchtlingsströmen und der Virokratie schwer. Die Prä-sidentschaft von Donald Trump in einer der ältesten Demokratien der Welt und osteuropäische Staatsführer mit anti-demokratischen Tendenzen geben zu generellem Optimismus gewiss keinen Anlass. Anzeichen dafür, dass sich die Demokratie selbst aufheben würde, sind aber nirgends zu erkennen.

 

Wie reagiert die Theorie des Politischen auf diese Situation? Übt sie kräftige Kritik? Oder ist sie wirklichkeitsoffen genug, anzuerkennen, dass die realen Demokratien immer noch beachtliche Regenerationskräfte entfalten? Diesen Fragen gehen zwei neuere Monografien nach, die beide von Europäern verfasst wurden, die in den USA leben und lehren.

 

Das Recht, sich zu engagieren

 

Jan-Werner Müller, Politikwissenschafter an der Princeton University, stellt in seinem Buch «Freiheit, Gleichheit, Unge-wissheit. Wie schafft man Demokratie?» die Frage, was Demokratie «eigentlich» ausmache, und antwortet in vier Ka-piteln und einer bilanzierenden «Coda». Der facettenreiche Text ist souverän geschrieben: in umfassender Kenntnis der einschlägigen Probleme und mit einer so unaufdringlichen Gelehrsamkeit, dass er sich als Grundtext der politischen Bildung empfiehlt.

 

Im ersten Kapitel, «Vorgetäuschte Demokratie. Jeder hat seine Gründe», weist Müller für den Grundbegriff, das (Staats-) Volk, die ethnische, über jeden politischen Konflikt erhabene Definition zurück. Populisten, die mit diesem Begriff ope-rieren, geben für Müller zwar vor, die «wahre Stimme des Volkes» zu sein und dieses zu einen. Tatsächlich aber laufe ihr «Geschäftsmodell» auf eine Spaltung der Gesellschaft hinaus.

 

Müller leitet aus der Freiheit das Recht ab, sich politisch zu engagieren – aber auch das Recht, sich nicht zu engagieren. Entscheidend für das Gelingen der Demokratie ist für ihn die «kritische Infrastruktur». Ihre entscheidenden Elemente, die Parteien und Medien, sollen für ein vernünftiges Funktionieren der Demokratie sorgen, indem sie «den politischen Konflikt strukturieren, dabei unterschiedliche ‹Visionen von Konfliktlinien› präsentieren, internen und externen Pluralis-mus sichern und, nicht zuletzt, politische Zeit auf nachvollziehbare Weise einteilen».

 

Da politische «Lösungen sich niemals einfach nur aus Fachwissen oder der Fiktion eines vollkommenen einheitlichen Volkswillens ergeben», brauche es Parteien, die den Bürgern hälfen, «sich miteinander zu verbinden», und professio-nelle Medien, um Institutionen vor ökonomischer und politischer Macht abzuschirmen. Gegen die neuen sozialen Netzwerke erhebt Müller kein absolutes Veto, sieht aber die Gefahr, dass hier die einzelnen Bürger zum «Bestandteil eines ständig verfeinerten Machtapparates» werden.

 

Gleichheit und Einverständnis

 

Das Buch der in Chicago lehrenden Philosophin Cristina Lafont «Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung» entfaltet sein Modell in drei Schritten – und beginnt mit einem Paukenschlag: «Neueren empirischen Untersuchungen zufolge sind die Vereinigten Staaten keine Demokratie mehr», schreibt Lafont. Dies deshalb, weil die Wahrnehmung der politischen Präferenzen der Wähler seitens der Politiker von den tatsächlichen Präferenzen der Bürger weitgehend abgekoppelt sei. Eine harsche Diagnose, die eine nähere Überprüfung verdienen würde.

 

Nach dem ersten Schritt von Lafonts Argumentation «Warum deliberative Demokratie?» kommt es in einer Demokratie über die politische Gleichheit hinaus auf die Selbstregierung freier und gleicher Bürger an. Deshalb dürfen sich Demo-kratien nicht mit der Anerkennung prozeduraler Regeln begnügen, sondern brauchen auch ein substanzielles Einver-ständnis der Bürgerinnen und Bürger.

 

Um der drohenden Gefahr einer bloss repräsentativen Demokratie zu entgehen – dass die Bürger den politischen Entscheidungen ihrer Repräsentanten sich «blind zu fügen» haben –, muss für Lafont deshalb «durch eine verbesserte Qualität der Information und der Deliberation in der Öffentlichkeit eine wohlüberlegte öffentliche Meinung heraus-gebildet werden». Wo aber wäre denn ein blindes Sich-Fügen annähernd gegeben? Beispiele werden keine angeführt. Hier vermisst man einen Blick etwa auf die Demokratien in Europa, auf deren Ansätze zur direkten Demokratie und auf deren Vorbild, die Schweiz.

 

Das Recht auf Gehör

 

Im zweiten Teil, «Warum partizipatorische deliberative Demokratie?», lehnt Cristina Lafont «Elitetheorien» ab: Konzepte also, die Bürgerinnen und Bürger an Wahlen beteiligen, substanzielle politische Entscheidungen aber den politischen Experten überlassen wollen. Sie erteilt aber auch «radikal-pluralistischen Konzeptionen» eine Absage, nach denen sich Bürger der Mehrheit blind fügen müssen.

 

Besonders eindrücklich sind Lafonts Argumente gegen die Überschätzung der vielerorts so gelobten «lottokratischen Demokratiekonzeptionen». Dass Bürgerversammlungen, Bürgerforen und Bürgerkonferenzen, die nach bestimmten Kriterien per Los zusammengesetzt sind, für eine deliberative Demokratie hilfreich sein können und dass sie blossen Meinungsumfragen überlegen sind, bestreitet Lafont nicht. Diese «Mini-Öffentlichkeiten» dürfen ihrer Ansicht nach aber auf keinen Fall die grosse Öffentlichkeit ersetzen.

 

Im dritten Argumentationsschritt, der Verteidigung einer «partizipatorischen Konzeption der öffentlichen Vernunft», versucht Lafont en passant am Beispiel der gleichgeschlechtlichen Ehe und des Kopftuchtragens im öffentlichen Raum zu zeigen, wie man auch bei hoch umstrittenen Themen am Ende doch zu einem Einverständnis kommen kann.

 

In Anlehnung an John Rawls verteidigt Lafont die Bedeutung eines Verfassungsgerichts als «exemplarische Instanz der öffentlichen Vernunft». Über das Verfassungsgericht erlaube der Rechtsweg, was der politische Prozess nicht garan-tieren könne: das individuelle Recht auf rechtliches Gehör. Kritiker werden dem auf der Hand liegenden Gegen-argument, der Beeinträchtigung der demokratischen Selbstregierung, ein grösseres Gewicht zubilligen.

 

Jan-Werner Müller: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?

Aus dem Englischen von Michael Bischoff.

Berlin: Suhrkamp 2021. 270 S., Fr. 37.90.

 

Cristina Lafont: Unverkürzte Demokratie. Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung.

Aus dem Amerikanischen von Bettina Engels und Michael Adrian.

Berlin: Suhrkamp 2021. 447 S., Fr. 49.90.

 


 

         Laurence W. Britt,  Frühe Warnsignale für Faschismus (2003)

  • Starker und dauerhafter Nationalismus
  • Verachtung für die Grund- und Menschenrechte
  • Identifizierung eines Feindes als ein Zweck zur Vereinigung
  •  Vorherrschaft des Militärs
  •  Zügelloser Sexismus
  •  Kontrolle über die Massenmedien
  •  Fixierung auf das Ziel der nationalen Sicherheit
  •  Verflechtung zwischen Religion und Regierung
  •  Schutz der Macht der Banken und Unternehmen
  •  Unterdrückung der Macht der Gewerkschaften
  •  Verachtung der Intellektuellen und Künstler
  •  Fixierung auf Verbrechen und Bestrafung
  •  Unkontrollierte Vetternwirtschaft und Korruption
  •  Betrug bei demokratischen Wahlen

 

Laurence W. Britt wrote about the common signs of fascism in April, 2003, after researching seven fascist regimes: Hitler's Nazi Germany; Mussolini's Italy; Franco's Spain; Salazar's Portugal; Papadopoulos' Greece; Pinochet's Chile; Suharto's Indonesia. Get involved!