Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will,
sondern dass er nicht tun muß, was er nicht will.
Jean-Jacques Rousseau
Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.
Edmund Burke
Daß Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Daß aber Könige oder königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist beiden zur Beleuchtung ihres Geschäftes unentbehrlich.
Immanuel Kant
Ich glaube es ist kein besseres Zeichen als dieses, daß die Menschheit vor sich selbst so achtungswert dargestellt wird. Es ist ein Beweis, daß der Nimbus um den Häuptern der Unterdrücker und
Götter der Erde verschwindet. Die Philosophen beweisen die Würde, und die Völker werden sich fühlen lernen und ihre in den Staub erniedrigten Rechte nicht fordern, sondern selbst wieder annehmen,
sich aneignen. Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt. Jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte: Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgendeinem Guten,
durch sich selbst etwas zu sein. Mit der Verbreitung der Idee, wie alles sein soll, wird die Indolenz der gesetzten Leute, ewig alles zu nehmen, wie es ist, verschwinden.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man verlangt, dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter ihm herrschen, dass es seinen inneren Wert so hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn von ihm, als dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen großen und würdigen Gehalt gewönne.
Wilhelm von Humboldt
Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, indem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdet keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr Klassenhass schürt. Ihr werdet den Armen nicht helfen, indem ihr die Reichen ausmerzt. Ihr werdet mit Sicherheit in Schwierigkeiten kommen, wenn ihr mehr ausgebt, als ihr verdient. Ihr werdet kein Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten und keinen Enthusiasmus wecken, wenn ihr dem Einzelnen seine Initiative und seine Freiheit nehmt. Ihr könnt den Menschen nie auf die Dauer helfen, wenn ihr für sie tut, was sie selber für sich tun sollten und könnten.
Abraham Lincoln
Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte. Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich ratlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen die ihr Gemüt ausfüllt, jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber; seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschen-geschlecht, was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht, er berührt sie und er fühlt sie nicht, er ist nur in sich und für sich allein vorhanden und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat.
Alexis de Tocqueville
Soziale Kohäsion ist eine Notwendigkeit, und es ist der Menschheit noch nie gelungen, Zusammenhalt auf rein rationalem Wege zu erzwingen. Jeder Staat ist zwei gegensätzlichen Gefahren ausgesetzt: der Verknöcherung durch zuviel Disziplin und Ehrfurcht vor der Tradition einerseits; andererseits der Auflösung oder Niederlage durch Eroberung von außen, weil zunehmender Individualismus und wachsende persönliche Unabhängigkeit jede Zusammenarbeit unmöglich machen.
Bertrand Russell
Die größte Gefahr der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus,
sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.
Hannah Arendt
Freiheit ohne Gleichheit ist ein Dschungel.
Gleichheit ohne Freiheit ist ein Gefängnis.
Anonymus
Das Grundproblem des Politischen
Von klassischen Denkern des Politischen, wie Platon und Aristoteles, Rousseau und Montesquieu, Kant und Hegel - und zwar sowohl aus ihren bewahrenswerten Einsichten und Stärken als auch aus ihren korrekturbedürftigen Fehlern und Schwächen - können wir bis heute lernen, was das Grundproblem des Politischen ausmacht: nämlich die Erfindung, Errichtung und Erhaltung einer möglichst friedlichen und gerechten Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen und Bürger unter bestimmten natürlichen und kulturellen Realbedingungen mit Hilfe einer effektiven Regierung.
Eine solche politische Regierung bedarf nicht nur der Legitimierung ihrer politischen Gewalt, sondern auch einer dauerhaften und stabilen Orientierung an rechtsstaatlichen Prinzipien, die im politischen Alltag einer parlamentarischen Demokratie gerade nicht zur Disposition stehen, sondern einen sakrosankten Status genießen, der nur in dringenden Ausnahmesituationen und unter einer strengen parlamentarischen Kontrolle zwecks Reformen angetastet werden darf. Die politische Gewalt einer Regierung mit ihren politischen Institutionen der Legislative, Judikative und Exekutive ist nur deswegen legitim, weil sie mit der regelmäßigen demokratischen Zustimmung der Bürger dem Gemeinwohl dient und dabei auch die sozial Schwachen unterstützt, ethnische und religiöse Minderheiten anerkennt sowie politische Dissidenten und kritische Intellektuelle respektiert.
Das Grundproblem des Politischen ist demzufolge weder das Problem der strategischen Aufrechterhaltung des Machtmonopols und die bürokratische Regulierung der Machtverhältnisse (Max Weber) noch die Bewahrung einer bestimmten politischen Ordnung nach Maßgabe der Ordnung der menschlichen Psyche (Eric Voegelin) noch die Errichtung eines Staatswesens nach Maßgabe einer bestimmten Weltreligion, wie z.B. des Katholizismus (Donoso Cortes) noch das Verhältnis zwischen Freund und Feind (Carl Schmitt) noch das Problem von Inklusion oder Exklusion (Giorgio Agamben). Dies alles sind bloße Teilprobleme des Grundproblems des Politischen, die zwar alle wichtig sind, jedoch nicht für das ganze oder wesentliche Grundproblem gehalten werden dürfen.
Das Grundproblem der Politischen Philosophie besteht vielmehr in der Frage nach dem angemessenen und rechten Verhältnis von gesellschaftlicher Vielfalt und einheitlicher Ordnung unter einer legitimen staatlichen Gewalt und unter einer aufgeklärten, klugen und effektiven Regierung. Dieses Grundproblem geht grundsätzlich über alle die Probleme des geschickten strategischen Regierens und der klugen pragmatischen Ordnung der Machtverhältnisse hinaus. Deswegen bedarf eine jede politische Philosophie, die über das Grundproblem des Politischen aufgeklärt und gut beraten ist, bestimmter sittlicher Ideale und Prinzipien, Normen und Werte sowie Maximen und Kompetenzen, die der praktischen Orientierung im politischen Umgang mit dem komplexen Verhältnis von gesellschaftlicher Vielfalt und einheitlicher Ordnung unter gegebenen Realbedingungen und wechselnden Umständen dienen.
Politische Philosophie bedarf nach Kant einer "Metaphysik der Sitten", also einer Philosophie von Moral, Recht und Politik in kosmopolitischer Perspektive jenseits von bloß strategischem und rein pragmatischem Denken. Das Problem des rechten Verhältnisses der Freiheiten der Selbstbestimmung der Individuen und der sozialen Gruppierungen von Individuen zu den gesetzlichen Ordnungen kann auch und gerade in einer pluralistischen Gesellschaft mit einem modernen demokratischen Rechtsstaat und einer effektiven staatlichen Gewalt in Form von Legislative, Judikative und Exekutive nur dann erreicht, geregelt und erhalten werden, wenn es nach Prinzipien geregelt wird, die abstrakt und allgemein genug sind, um jenseits bestimmter Weltanschauungen und Menschenbilder, Religionen und Konfessionen sowie Traditionen und Konventionen eine formale Geltung haben können.
Nach Kant gibt es drei unzulängliche Ordnungsmuster des Politischen, die grundsätzlich in der wirklichen Welt des politischen Handelns nicht erfolgreich sein können und deswegen zu vermeiden sind, sowie ein viertes Ordnungsmuster des Politischen, das grundsätzlich richtig ist und deswegen auch realpolitisch produktiv wirken kann.
A. Anarchie (Libertarismus) als das Zusammenspiel von gesetzlicher Ordnung und persönlicher Freiheit ohne eine regulierende staatliche Gewalt.
B. Despotismus (Diktatur) als das Zusammenspiel von gesetzlicher Ordnung und regulierender staatlicher Gewalt ohne persönliche Freiheit.
C. Barbarei (Tyrannei) als die Herrschaft einer staatlichen Gewalt ohne ein ausgewogenes Zusammenspiel von gesetzlicher Ordnung und persönlicher Freiheit.
D. Republik (Demokratie) als vom Volk legitimierte rechtsstaatliche Gewalt und Regierung mit einem ausgewogenen und wohlgeordneten Zusammenspiel von persönlicher Freiheit und gesetzlicher Ordnung.
Kants politische Philosophie lehrt uns, dass drei der möglichen Formen des Politischen, nämlich Anarchie (Libertarismus), Despotismus (Diktatur) und Barbarei (Tyrannei) zu vermeiden sind, weil sie aus prinzipiellen strukturellen Gründen nicht realpolitisch erfolgreich sein können. In einer diachronischen bzw. historischen Betrachtung hängen diese an sich gegensätzlichen Herrschaftstypen jedoch in der dynamischen Realität der politischen Entwicklungen in der Geschichte eines Landes oder einer Nation viel enger zusammen als man auf den ersten Blick meinen könnte. Die despotische Regierung einer bestimmten Oligarchie (wie z.B. eines Familienklans, einer Mafia, einer Einheitspartei oder einer wirtschaftlichen Machtclique) oder eines bestimmten Diktators (eines Zaren, Cäsars, Kaisers, Königs oder eines politischen Führers) kann in die Barbarei bzw. Tyrannei führen, wenn es nach und nach gelingt, die bestehenden gesetzlichen Ordnungen so umzugestalten, dass sie der Gewinnung, Erhaltung oder Erweiterung der Machtbefugnisse der Oligarchie oder des Diktators nützen.
Beispiele für eine solche Entwicklung gab es im 20. Jahrhundert zuhauf in allen ideologischen und politischen Massenbewegungen, wie z.B. im deutschen Nationalsozialismus, im italienischen und spanischen Faschismus, im Marxismus-Leninismus des Ostblocks unter sowjetischer Führung oder auch im Maoismus chinesischer, vietnamesischer oder kambodschanischer Regierungen. Aber auch das 21. Jahrhundert ist noch lange nicht frei von den Gefahren der Entstehung von despotischen Regierungen, die zu neuen Diktaturen führen können. Die geschichts-philosophische Diagnose des Historikers Francis Fukuyama gegen Ende des 20. Jahrhunderts war unter dem Eindruck des Zusammensturzes der UdSSR insofern zu optimistisch ausgefallen, als er angenommen hatte, dass die vorwiegend westlichen liberalen Demokratien mit ihren marktwirtschaftlichen Verhältnissen einen irreversiblen historischen Sieg davon getragen hätten. Unter dem Eindruck dieser voreiligen geschichtsphilosophischen Diagnose mit prognostischen Anteilen, waren nur noch so unterschiedliche despotische Regierungen wie Kuba, Iran oder Nordkorea als letzte Bastionen des politischen Widerstandes gegen die liberalen Demokratien erschienen. Was ist jedoch mit China, Russland und anderen autoritär regierten Nationen? Diese von einer Hegelschen Geschichtsphilosophie inspirierte Hoffnung auf einen Siegeszug der liberalen Demokratien, die keine echten ideologischen Gegenspieler mehr kennen würden, sodass mit diesem Siegeszug zugleich ein friedliches "Reich der freien und gleichen Nationen" unter mehr oder weniger demokratischen Verhältnissen anbrechen würde, hat sich mit gleich zu Beginn des 21. Jahnunderts als eine Illusion erwiesen, als die Hegemonialmacht der westlichen Welt, nämlich die USA in ersten und zweiten "Krieg am Golf" ihr existenzielles Interesse am Zugang zu den Ölvorräten sicherten.
Die Diktatur Saddam Husseins im Irak war ein Beispiel für die despotische Regierung eines Diktators, die zu einer barbarischen Tyrannei führte. Aber gerade das letzte Beispiel zeigt, dass und wie schnell ein Land nach dem voreiligen Sturz einer solchen Regierung ohne hinreichende politische Vorkehrungen für den geregelten Übergang in eine demokratische und rechtsstaatlichen Republik unter deregulierten politischen Verhältnissen in eine Anarchie umkippen kann. Unter den unkontrollierbaren dynamischen Veränderungen, die der mutwillige Sturz eines Diktators auslöst, kann ein Volk manchmal noch mehr leiden als unter der vorhergehenden Diktatur. Denn der mutwillige Sturz eines Dikators kann - wie im Irak geschehen - zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den mächtigsten kulturellen und politischen Gruppierungen führen und dann den Tod von Tausenden von Zivilisten herbeiführen mit schweren existenziellen, kulturellen und politischen Folgelasten für mehrere Generationen.
Wenn sich aufgrund eines tief greifenden Verlustes persönlicher und bürgerlicher Freiheiten oder einer umfassenden Pervertierung gesetzlicher Ordnungen zu bloßen Machtinstrumenten der regierenden Staatsgewalt eine innere politische Opposition entsteht, die zum gewaltsamen Sturz einer despotischen oder tyrannischen Regierung, d.h. eines Diktators oder einer Oligarchie führt, dann kann ein solcher Putsch oder Umsturz auch zu den chaotischen Machtverhältnisse einer Anarchie führen, wo das sog. Faustrecht des Stärkeren gilt, also keine rechtsstaatlichen Ordnungen mehr gelten, die mit Hilfe einer legitimierten staatlichen Gewalt für Recht und Gerechtigkeit sowie eine kulturell angemessene soziale Ordnung und einen stabilen politischen Frieden sorgen können.
Das Verhältnis zwischen Despotie bzw. Tyrannei und Anarchie ist demzufolge ein dynamisches und real-dialektisches Verhältnis im Sinne der geschichtlichen Möglichkeit eines Umschlages von einem Extrem in ein anderes Extrem, nämlich von einem Zustand des Mangels an persönlichen und bürgerlichen Freiheiten nicht etwa in ein Übermaß an diesen Freiheiten aller, wie es sie nur in einer libertären Demokratie geben kann, sondern in einen Mangel an gesetzlichen Ordnungen, die durch eine staatliche Gewalt geschaffen und aufrecht erhalten werden.
Deswegen ist das Gegenstück zur rechtsstaatlichen Republik mit einer demokratisch legitimierten Regierung die barbarische Tyrannei und weder die Anarchie noch die Diktatur, denn eine solche Republik hat immer schon die unvermeidbare politische Aufgabe, mittels einer möglichst legitimen rechtsstaatlichen Gewalt und Regierung ein ausgewogenes und wohlgeordnetes Verhältnis zwischen persönlichen und bürgerlichen Freiheiten einerseits und gesetzlichen und effektiven Ordnungen andererseits zu schaffen.
Die Kunst des Regierens besteht unter solchen günstigen politischen Umständen in der effektiven, aber Freiheiten bewahrenden sowie möglichst gerechten und friedlichen Austarierung von anarchischen Tendenzen zum politischen Chaos des Freiheitsüberschusses bzw. Ordnungsmangels und diktatorischen Tendenzen zum politischen Diktat des Freiheitsmangels und des Regulierungsüberschusses. Die Kunst des Regieren in der demokratischen Republik besteht dann wesentlich in der Kunst der dialektischen Balance zwischen Form und Formlosigkeit, zwischen der vorsorgenden Disziplin der aufgeklärten und wohlberatenen Regulierung des menschlichen Zusammenlebens mit einer produktiven Gemeinwohlorientierung und dem vertrauensvollen Laissez Faire des unüberschaubaren Lebens der vielseitigen, sich immer auch schon gegenseitig neutralisierenden antagonistischen Kräfte.
© Ulrich W. Diehl, April 2009
Henning Ottmann: Platon, Aristoteles und die neoklassische politische Philosophie der Gegenwart
Der unglücklich gewählte Terminus „normativ“
In den Lehrbüchern der Politikwissenschaft findet man unter den verschiedenen Gegenwartsströmungen der politischen Philosophie eine, die „normativer“ Ansatz oder „normative“ politische Philosophie genannt wird. Unter diesem nicht gerade glücklich gewählten Etikett versammelt man die Wiederbegründer der Politischen Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg: Hannah Arendt, Dolf Sternberger, Eric Voegelin, Leo Strauss sowie die Freiburger und die Münchner Schule. Geistige Verwandtschaften dieser Denker bestehen zu Joachim Ritter und seinen Schülern oder zu den Kommunitaristen in den USA.
Ich spreche im folgenden nicht von einem „normativen“ Ansatz, sondern fasse die genannten Denker unter dem Begriff „neoklassische politische Philosophie“ zusammen. Denn schon der Name „normativ“ ist irreführend. Arendt, Sternberger und Strauss erneuern auf je unterschiedliche Weise die klassische Philosophie der Antike. Diese lässt sich jedoch nicht mit dem Begriff „normativ“ erfassen, ist dieser doch in seiner heutigen Verwendung durch das 19. Jahrhundert geprägt, von der Differenz zwischen Sein und Sollen. Diese findet sich jedoch weder bei den genannten Denkern noch bei ihren Vorbildern, den klassischen Philosophen der Antike. Das Etikett „normativ“ versucht unglücklich zu umschreiben, dass die neo-klassische politische Philosophie in scharfer Frontstellung steht zu einer wertneutralen, an Max Weber orientierten Sozialwissenschaft. Sowohl Voegelin als auch Strauss sehen in Weber einen Wertrelativisten und Wertnihilisten. Eine wertneutrale Sozialwissenschaft verfehlt nach ihrer Meinung die Hauptaufgabe der Politikwissenschaft, nämliche eine Lehre von der guten Verfassung und vom guten Bürger zu sein. Was nützt eine Wissenschaft, die zwischen Diktatur und Demokratie nicht werten will? Sie wird selbst wertlos, ein Instrument, das vielen, ja beliebigen Zwecken dienen kann.
Damit erneuert die neoklassische Philosophie noch einmal die querelle des anciens et des modernes und den Streit um die Frage, ob die Neuzeit der Antike vorzuziehen sei. Viele der Neoklassiker haben für die Antike votiert. Aus der Erfahrung des Totalitarismus heraus, den man der Neuzeit anlastete, wollte man das antike Erbe unserer Kultur erneuern: das Naturrecht (Strauss), die platonisch-aristotelische epistēmē (Voegelin), den Politikbegriff des Aristoteles gegen den des Machiavelli oder des Augustinus (Sternberger), die vita activa gegen die instrumentelle Vernunft und die Technik der Neuzeit (Arendt).
Unterschiede in der klassischen antiken Philosophie
Die Bedürfnisse der Epochen haben die Unterschiede verwischt, die zwischen den Philosophien des Platon und des Aristoteles bestehen. Heute ist es vielleicht eher als früher möglich zu erkennen, dass die politische Philosophie der Klassik zwei Wurzeln hat und dass das politische Denken der Gegenwart zwei große Vorbilder besitzt: Platon und Aristoteles
Innerhalb der politischen Philosophie der Antike lassen sich fünf relevante Differenzen unterscheiden, die sich auch bei ihren modernen Anknüpfern wieder finden:
1. Platonische Kulturrevolution versus aristotelische Anknüpfung an das Bestehende
Platons Politik setzt den Bruch mit der attischen Demokratie und mit der vorherrschenden Bildung voraus. Die Interpreten streiten, was die Politeia eigentlich ist: Handelt es sich um eine Utopie, ein Ideal, ein bloßes Paradigma? Oder hat Platon geglaubt, dass diese Stadt verwirklicht werden kann? So oder so, Platons beste Stadt ist ein philosophisches Gegenbild zum existierenden Athen. Keine Demokratie, sondern eine Herrschaft von Philosophenkönigen.
Platon ist ein Kulturrevolutionär, Aristoteles dagegen ein Philosoph, der wieder die Verbindung sucht zur herrschenden Kultur und zur existierenden Politik. Die Konkurrenz des Philosophen mit den Dichtern wird verabschiedet. Wenn Platon vor allem mit den Dichtern der Tragödie konkurriert und diese aus der idealen Stadt vertreibt, so schreibt Aristoteles der Tragödie eine für die Stadt nützliche Rolle zu. Die Katharsis, welche die Tragödie beim einzelnen bewirkt, ist auch nützlich für die Stadt.
Platon ist ein politischer und kultureller Revolutionär. Was Aristoteles vertritt, kann man mit Joachim Ritter eine „hermeneutisch-hypoleptische“ Philosophie nennen. Hypolepse ist die Anknüpfung an die Rede eines anderen, und Aristoteles knüpft auf vielfache Weise an das schon Bestehende an: an die schon bestehenden Lehren seiner Vorgänger, an die Sprichwörter, an die schon existierenden Verfassungen und an die schon vorliegenden Sitten. Aber Aristoteles intendiert keineswegs eine unkritische Übernahme des Bestehenden. Es geht ihm eher um so etwas wie die Beweislastverteilungsregel Joachim Ritters: Begründen muss, wer verändern, nicht wer bewahren will. Auszugehen ist zunächst einmal von einer Vermutung für die Vernünftigkeit des Bestehenden. Ob sie sich bewahrheitet, steht dahin.
2. Einheitsdenken versus Vielheitsdenken
Platon will nur das Eine: die Einheit der Stadt, die Einheit der Idee. Die Einheit ist ihm das höchste Gut, weil die Idee das Eine ist und alle Vielheit auf die Seite des Schlechten gerät. Aufgrund seiner Einheitsliebe denkt Platon die Stadt wie einen einzigen großen Körper, wie eine einzige Großfamilie. Was Platon für die beste Stadt fordert: Kommunismus und Menschenzüchtung, die Auflösung der Familien und die Hochzeitslotterie – alles das sind Resultate seines Einheitsdenkens.
Aristoteles stellt dem Streben nach strenger Einheit den programmatischen Satz entgegen: „eine Vielheit (ist) ihrer Natur nach die Stadt“ (Pol. II, 2). Die Stadt setzt sich nach Aristoteles zusammen aus Menschen verschiedener Art. Diese Verschiedenheit soll politisch nicht aufgelöst werden. Die strenge Einheit der Familie kann kein Vorbild der politischen Bindungen sein. Im Haus herrscht der Hausherr über Unmündige und Unfreie. In der Stadt begegnen sich freie und mündige Bürger. Im Haus wird paternalistisch geherrscht. In der Stadt regieren sich die Bürger selbst. Haus und Stadt sind so geschieden wie Paternalismus und Selbstregierung oder wie Paternalismus und Republik.
Die aristotelische Unterscheidung von Haus und Stadt, von Oikos und Polis ist bedeutsam geworden für Locke und für Kant. In unserem Jahrhundert sind vor allem Hannah Arendt und Dolf Sternberger der aristotelischen Kritik an Platons Einheitsstaat gefolgt. Sternberger und Arendt haben die Pluralität zu einer fundamentalen Kategorie des Politischen gemacht. Politik hat mit der Vielzahl der Meinungen und Lebensformen zu tun, und weil keine von diesen als die einzig wahre gelten kann, besteht Politik im Miteinander-Reden, im Miteinander-Beraten und im Miteinander-Entscheiden der Bürgerschaft. Der Politiker ist kein Hausherr und kein Landesvater. Ökonomie und Politik muss man voneinander trennen. Nach Hannah Arendt gehören Arbeiten und Herstellen zur Notdurft des Lebens, zur Schaffung des Lebensnotwendigen. Im Reich dieser Notwendigkeit kann der Mensch nur begegnen als homo faber oder als Konsument, jedenfalls reduziert auf das Exemplar der Gattung oder den Funktionär der Technik. Hier herrscht immer nur Vermittlung und kein Zweck, und für Hannah Arendt lag das Reich der Freiheit jenseits der Sphäre der Lebensnotwendigkeit, jenseits von Oikos und Ökonomie.
3. Expertokratie versus Bürgerpolitik
Platons Begriff von Politik ist expertokratisch. Die Idiopragie (dass jeder das Seine tut; dass jeder das tut, was er am besten tun kann) führt zu einer fundamentalen Spezialisierung. Das entscheidende politische Wissen ist exklusiv; es steht nur wenigen offen. Im idealen Staat bilden sich die Stände der Nur-Ernährer, der Nur-Wächter, der Nur-Philosophen als spezialisierte Stände heraus. Jeder versteht sich auf seine Techne, auf seine Kunst. Politik ist die Kunst eines Sachverständigen, eines Experten, der weiß, was ein Laie nicht wissen kann. Wo ein solches sachverständiges Wissen von der Politik angesetzt wird, da ist die Forderung unausweichlich, dass die Experten regieren sollen.
Idiopraxie und Techne führen bei Platon zur Herrschaft der Experten.
Aristoteles dagegen hat ein bürgerpolitisches Modell von Politik. Den Vergleich des Politikers mit dem Fachmann hat Aristoteles zurückgewiesen. Kapitel 11 des 3. Buches seiner Politik enthält die berühmte „Summierungstheorie“: Die Summierung der vielen Urteile der Bürger ist demnach „besser oder doch nicht schlechter“ als das Urteil der Fachleute. Wer eine Kunst nicht selber ausüben kann, ist gleichwohl kompetent genug, ihre Produkte beurteilen zu können. (Das ist, wenn man so sagen darf, das Reich-Ranicki-Phänomen.) Nach Aristoteles beurteilt ein Haus nicht der Architekt, sondern der Bewohner. Ein Mahl beurteilt nicht der Koch, sondern der Gast. Politik ist bei Aristoteles das, was im Prinzip jeder kann; Bürgerpolitik besteht in der Teilhabe an Volks- und Gerichtsversammlung, in Herrschaft auf Zeit, im Ausgleich zwischen arm und reich.
Bei Platon ist Politik, was nur wenige können. Politisches Wissen ist Fachwissen, und in dieser Auffassung von politischem Wissen liegt einer der Schlüssel von Platons Gegnerschaft gegen die Demokratie. Es ist die Empörung darüber, dass ansonsten immer das Urteil der Fachleute gesucht wird – bei Krankheit das Urteil der Ärzte, beim Hausbau das der Architekten –, dass aber in der Volksversammlung, wie Sokrates im Protagoras entrüstet vorbringt: „jeder aufstehen und seinen Rat erteilen (darf): Zimmermann, Schmied, Schuster, Krämer, Schiffsherr, Reiche, Arme, Vornehme, Geringe“ (319 d). In der Demokratie darf jeder mitreden, ob er etwas von der Sache versteht oder nicht. Das ist für Platon eines der Ärgernisse der Demokratie.
Expertokratie versus Bürgerpolitik – dahinter verbergen sich bei Platon und Aristoteles grundlegend verschiedene Auffassungen von politischer Redekunst und von Rhetorik überhaupt. Platon, obwohl er selber zweifelsohne ein Meister der Rhetorik ist, reiht diese zusammen mit der Sophistik bei den bloßen Schmeichelkünsten ein. Rhetorik ist bei Platon eine bloße Geschicklichkeit, die ohne Wissen um Ursachen und Gründe nur auf das Angenehme und auf die Wirkung zielt. Bei Aristoteles ist die Rhetorik von ganz anderer Bedeutung als bei Platon. Aristoteles hat die Rhetorik rehabilitiert. Schon ihre Großeinteilung – beratende Rede, Gerichtsrede, Festrede – verrät die Nachbarschaft zu den Institutionen der attischen Demokratie, zu Volksversammlung und Gerichtsversammlung. Das Zu- und Abraten, das Anklagen und Verteidigen, das Loben und Tadeln – alles weist auf die Polis, ihren Nutzen, ihre Gerechtigkeit, ihr Kalon.
4. Politik mit Metaphysik und Politik ohne
Es gehört zu den fundamentalen Unterschieden der politischen Philosophie des Platon und des Aristoteles, dass Platon seine Politik unmittelbar auf Metaphysik gegründet hat, Aristoteles jedoch nicht. Von einer Metaphysik der Politik lässt sich nur bei Platon sprechen. Auch ein Begriff wie „Politische Theorie“ ist nur bei Platon möglich, nicht bei Aristoteles. Die Politeia führt die Philosophen, die herrschen sollen, bis zur Idee des Guten; das Höhlengleichnis, das den Aufstieg zur Idee des Guten darstellt, ist der Höhepunkt des Werkes; die Nomoi sind Theologie; sie beginnen mit dem Wort Theos, und sie enden mit schärfsten Asebie-Gesetzen gegen „Atheisten, Deisten und Magiker“.
Bei Aristoteles beginnen sowohl die Nikomachische Ethik als auch die Politik ohne Theologie und ohne Metaphysik. Sie beginnen bei der Natur des Menschen, beim anthropinon agathon, beim „menschlich Guten“, bei dem, was der Mensch durch sein eigenes Handeln bewirken und erreichen kann. Die Metaphysik gilt Aristoteles als Bereich des Ewigen und Unveränderbaren, das in keiner direkten Beziehung zur menschlichen Praxis steht. Für die Praxis, für Ethik und Politik, braucht man nach Aristoteles nicht Metaphysik, sondern Erfahrung und Klugheit, man braucht nicht Metaphysik, sondern praktische Philosophie.
Das „theoretische Leben“ ist bei Aristoteles – daran besteht kein Zweifel – die höchste Lebensform, und es ist die höchste Form von Glück. Im kontemplativen Leben versucht der Mensch das Göttliche nachzuahmen, so wie das Kreisen der Sterne oder die Fortpflanzung der Lebewesen eine Nachahmung des Göttlichen ist (Gen. an II, 1, 731 b 31 – 732 a 1). Die Philosophen des Aristoteles, welche die vita contemplativa leben, sind keine Philosophenkönige. Auch sollen die Bürger des Aristoteles keine Philosophen sein. Das theoretische Leben ist überpolitisch, um nicht zu sagen a-politisch. Die Sophia, die Weisheit der Theorie, trägt zum Glück des Menschen, der nicht Philosoph ist, nichts bei (NE VI, 13).
Der Gott des Aristoteles hat mit dem Gott der platonischen Philosophie nur noch wenig gemein. Er ist eher ein kosmologisches Prinzip der Bewegung als ein Gott der Epimeleia. Er ist ein Gott ohne Allmacht, ohne Güte, ohne providentia, ein rein auf sich selber bezogener – sit venia verbo – „deistischer“ Gott. Welche Begründungsfunktion sollte er für die Praxis des Menschen haben, auf die er selbst gar nicht bezogen ist?
5. Einheit von Theorie und Praxis versus eigenständige praktische Philosophie
Bei Platon fallen Theorie und Praxis unmittelbar in eins. Das theoretische Leben der Philosophen ist zugleich das praktische und politische Leben. Was für die Schule gilt, gilt ebenso für die ideale Stadt. Bei Aristoteles dagegen werden theoretisches und politisches Leben, vita activa und vita contemplativa, getrennt. Was für die Schule gilt, das theoretische Leben, gilt nicht für die Stadt. Vielmehr bilden Politik und Ethik einen eigenen Bereich der Praxis und der praktischen Philosophie.
Bei Aristoteles ist die Theorie von der Praxis durch mindestens drei Unterschiede getrennt. Da ist erstens ein unterschiedliches Ziel. Ziel der praktischen Philosophie ist Handeln, Ziel der Theorie Erkenntnis (NE I, 1). Politik und Ethik werden nicht betrieben, bloß um etwas über sie zu wissen; man will sich vielmehr im Handeln und für das Handeln orientieren. Sinn von Ethik und Politik ist, dass man besser handeln kann.
Da ist zweitens ein Unterschied in der Genauigkeit des Wissens. Die Theorie handelt vom Ewigen und Unveränderlichen, von dem strenges Wissen möglich ist. Die praktische Philosophie hat es mit dem Bereich des Veränderbaren zu tun, in dem es nur Regeln, relative Allgemeinheiten, Präzedentien und Ähnliches gibt. Hier gilt das „meist so, aber auch anders“ (NE I, 1, 1094 b 21). Theoretische Exaktheit gibt es nicht. Diese darf man im Praktischen nach Aristoteles nicht erwarten, was nicht ein Mangel des Praktischen ist, sondern eben seine Eigenart (NE I, 1, 1094 b 14).
Und da ist drittens der Unterschied zwischen erfahrungstranszendentem theoretischem Wissen und erfahrungs-geleiteter Klugheit. Die Klugheit, die bei Aristoteles das praktische Wissen ausmacht, setzt Erfahrung und eine hermeneutische Vermittlung von Regel und Einzelfall voraus. Sie ist keine logische Subsumtion, sondern ein Wissen, das Takt und Fingerspitzengefühl verlangt. Klugheit ist keine Gerissenheit, keine Verschlagenheit. Sie ist ein sittliches Wissen, worum es in einer Lebensführung geht, und wie man, wenn man weiß, was man will, die einzelnen Handlungen auf das Ganze eines Lebensentwurfes beziehen kann.
Die neoklassische politische Philosophie
Diese Unterschiede zwischen Platon und Aristoteles finden sich in der neoklassischen politischen Philosophie wieder: Neben Neo-Platoniker finden sich Neo-Aristoteliker. und in aller Regel sind diese durch unterschiedliche Stellungnahmen zur Modernität geprägt. Die Neo-Aristoteliker sind in aller Regel modernitätsfreundlich, die Neo-Platoniker nicht. Neben Neo-Platonikern wie Eric Voegelin und Leo Strauss finden sich jene, die mehr zu Aristoteles neigen: Arendt, Sternberger, Ritter, bei den Kommunitaristen von heute MacIntyre oder Martha Nussbaum. Die beiden Strömungen neo-klassischen Denkens stehen unterschiedlich zur Neuzeit und zur Modernität. Das ist zunächst verwunderlich. Denn die alteuropäische Gesellschaft, deren „Normalphilosophie“ der Aristotelismus war, ist durch die bürgerliche Gesellschaft abgelöst worden. Manche Voraussetzung der Aristotelischen Politik passt modernen Zeiten nicht mehr, wie überhaupt der ganze moderne Individualismus den Philosophen der Antike noch unbekannt war.
Neo-Aristoteliker
Aber trotz dieser Veränderungen ist das Denken des Aristoteles erstaunlich aktuell geblieben. Gadamer spricht in Wahrheit und Methode von der „hermeneutischen Aktualität des Aristoteles“. Sternberger deutet den Verfassungsstaat mithilfe der Aristotelischen Politie. Als die SPD ihr hundertjähriges Jubiläum feierte, verblüffte Sternberger die Festversammlung mit einem Vortrag über die aristotelische „Staatsfreundschaft“. Er empfahl die aristotelische Freundschaftslehre, die man vielleicht besser mit dem Begriff „Bürgerfreundschaft“ umschreibt. Hannah Arendt erneuert mithilfe von Aristoteles die Unterscheidung von Praxis und Poesis und gibt damit Jürgen Habermas das Stichwort für die Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, strategischem und kommunikativem Handeln.
Bei aller Kritik, die auch Neo-Aristoteliker an neuzeitlichen Entwicklungen üben, sind sie in der Regel Modernitätskonservative. Hier sind vor allem Joachim Ritter und seine Schüler (wie Marquard oder Lübbe) zu nennen, die Aristoteles mit Hegel verbinden. Es geht ihnen nicht darum, die Moderne zu verabschieden, man will diese vielmehr stützen durch das, was dieser fehlt und was ihr durch eine Erneuerung antiker Einsichten wieder verschafft werden kann.
In der politischen Philosophie Amerikas macht seit einigen Jahren eine Reihe von politischen Philosophen von sich reden, die man wegen ihrer gemeinschaftsorientierten Philosophie die communitarians“genannt hat. Dazu gehören neben anderen Benjamin Barber, Robert N. Bellah, Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre, Martha Nussbaum, Michael Sandel, Charles Taylor und Michael Walzer. Diese Kommunitaristen greifen auf Rousseau und Tocqueville, auf Hegel und auf Aristoteles zurück, und insbesondere bei Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum wird für eine Rückkehr zu Aristoteles plädiert. Darüber hinaus sind im Kommunitarismus als ganzem aristotelisierende Tendenzen zu bemerken: eine Abkehr vom Individualismus, eine Frontstellung gegen Verfahrensethiken wie die Diskurs- und Kommunikations-ethik von Apel und Habermas, eine Kritik am Universalismus, eine Hinwendung statt dessen zu den lokalen Gemeinschaften und zum Gemeinsinn der Bürger, eine Hinwendung zu einer Ethik des guten Lebens, die der Orientierung an formaler Gerechtigkeit übergeordnet wird.
Höffes Aristoteles-Deutung
Ob Kommunitaristen sich heute mit Recht auf Aristoteles berufen, ist inzwischen allerdings auch Gegenstand des Streits. Der Philosoph Otfried Höffe hat den Kommunitaristen das Recht abgesprochen, Aristoteles als einen ihrer Ahnherren zu betrachten. Aristoteles ist nach der Deutung von Otfried Höffe gerade das, was die Kommunitaristen verwerfen: ein „Universalist“. Die kommunitaristische Hervorhebung der Lebensformen und der partikularen Gemeinschaften sei eine Verwechslung der Lernbedingungen der Gerechtigkeit mit deren (immer gültigem) Gehalt. Nicht die Moral selbst sei „partikular, sondern nur ihre Aneignung“. Die politische Philosophie des Aristoteles erhebe „Geltungsansprüche für jede Polis“ und die Lehren des Aristoteles gälten für „jeden Menschen jedweder Kultur und Epoche“, so etwa die Lehre von der Eudaimonie, von der Gerechtigkeit, von der spezifischen Leistung des Menschen (seiner Vernunft) und von den Tugenden wie der Tapferkeit. Der Kommunitarismus hingegen habe Schwierigkeiten mit dem „gemeinsamen Moralerbe der Menschheit“.
Höffes Kritik ist zu verstehen als eine Reaktion auf Überspitzungen des Neo-Aristo-telismus, wie sie etwa für den Denkstil Mac-Intyres kennzeichnend sind. MacIntyre bringt Aristoteles in einen schroffen Gegensatz zur Aufklärung, eine Frontstellung, die man mit Höffe als eine Überzeichnung verwerfen kann. Aristoteles war kein Traditionalist, der Traditionen und Üblichkeiten schon durch ihr bloßes Bestehen für gerechtfertigt gehalten hätte. Das sittliche Handeln ist bei Aristoteles immer schon reflektiert, und es ist Sache der eigenen bewussten Entscheidung, der Prohairesis.
Auf der anderen Seite verdankt sich Höffes scharfe Kritik einer nicht weniger radikalen Leseweise des Aristoteles. Sie hat ihre Hindergründe in einer Verschmelzung von aristotelischer und kantischer Ethik. Diese gelten Höffe nicht wie sonst üblich als eine Alternative, sondern als miteinander verwandte Formen von Ethik. Das ist erstaunlich, denkt man an den Apriorismus hier und die Erfahrungsorientierung dort, und das ist erstaunlich, sieht man die unterschiedlichen Lehren vom Glück oder die je andere Auffassung der empirischen Motive des sittlichen Handelns. Können denn eine antike Glücksethik und eine neuzeitliche Autonomie- und Pflichtethik miteinander verträglich sein?
Aristoteles verteidigt nicht, was zeitgemäß naheläge, den Universalismus des Alexanderschen Weltreiches. Seine politische Philosophie bleibt nicht zufällig, sondern bewusst bei der Polis als der letzten politischen Einheit stehen. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Griechen und Barbaren, wie sie Alexander durch seine Politik der Homonoia betrieb, wird von Aristoteles verworfen. Bei ihm bleibt die alte Entgegensetzung von Asien und Griechenland, von Despotie und Freiheit erhalten (Pol. VII, 7). Aristoteles’ Beharren auf der Polis als der besten Größe der politischen Gemeinschaft hat mit grundsätzlichen Überlegungen über das Maß politischer Einheiten zu tun. Eine Stadt muss nach Aristoteles so groß sein, dass Autarkie möglich wird. Sie darf aber nicht so groß werden, dass die Bürger einander nicht mehr kennen würden und sich „blindlings“ in die Ämter wählen müssten (Pol. VII, 4).
Ähnlich steht es bei Aristoteles um den Begriff des Menschen. Auch diesem fehlt bei Aristoteles noch die universalis-tische Weite. Bei Aristoteles ist der „Mensch“ immer konkret, das heißt, er ist Mann – Frau, Herr – Sklave, Kind – Elternteil, Grieche –Barbar.
Die Abstraktion zu dem einen unterschiedslos bloß Mensch seienden Menschen wird nicht vollzogen, so wie es dementsprechend bei Aristoteles auch keine Menschenrechte gibt. Hier ist insbesondere die Rechtfertigung der Sklaverei „von Natur aus“ von Bedeutung. Sie wird ja versucht in Gegnerschaft gegen die damals auch schon vertretenen Theorien von der Gleichheit der Menschen von Natur.
Höffe gelangt zur Einschätzung der Ethik des Aristoteles als eine dem Prinzipienuniversalismus analoge Ethik“, weil er die Ethik des Aristoteles theoretisiert, sie nicht so sehr vom Ethos und der lebensweltlich schon gelebten Klugheit als vielmehr von der „emanzipierenden“ Reflexion auf diese liest, wobei diese Reflexion noch bis zu einer Metareflexion vom Wissen des Wissens gesteigert wird. Für Höffe wird die Verbindung der universalen Prinzipien mit der Praxis zu einem bloßen Anwendungsproblem. Aber Aristoteles kennt kein starres Schema von schon feststehender Allgemeinheit und nur noch subsumtionslogisch einzuordnendem oder deduktiv abzuleitendem Einzelfall.
Einer universalistischen Deutung der aristotelischen Ethik widerspricht schließlich die aristotelische Lehre von Gerechtigkeit und Freundschaft. Wie die Kommunitaristen der Gerechtigkeit eine Ethik des guten Lebens überordnen, so ist bei Aristoteles die Freundschaft ranghöher als die Gerechtigkeit (NE VIII, 1), weil sie das der „Eintracht“ vergleichbare eigentliche Band zwischen den Bürgern ist und weil Freunde das gerechte Handeln überbieten. „Sind die Bürger einander freund, so ist kein Rechtsschutz nötig, sind sie aber gerecht, so brauchen sie außerdem noch die Freundschaft …“ (NE VIII, 1).
Aristoteles und der Kommunitarismus – das Thema verlangt eine Befreiung von der falschen Antithese Traditionalismus und Antiaufklärung hier, Aufklärung und Universalismus dort. Es hat einer jahrhundertelangen Entwicklung bedurft, bis in der Neuzeit der Universalismus der Moral und der Menschenrechte zutage getreten ist. Noch für die Stoa oder das Christentum waren die Gleichheit der Menschen von Natur oder die Gleichheit der Seelen vor Gott mit den Unterschieden der Klassen und den Privilegien einzelner Stände in dieser Welt durchaus vereinbar gewesen. Im Grunde haben erst die großen Revolutionen wie die Französische und die Amerikanische dem Universalismus auch in der politischen Realität Geltung verschafft.
Heute steht das politische Denken vor der Aufgabe, die falsche Alternative von Universalismus und Ethik des guten Lebens zu überwinden. Den Universalismus alleine zu preisen, hieße, die Dominanz des Allgemeinen über die schönen Differenzen zu rechtfertigen, aus denen die Lebensformen der Einzelnen und der Völker bestehen. Nur von den verschiedenen Lebensformen und vom guten Leben zu sprechen, ginge an der auch universalen Dimension von Recht und Moral vorbei. Man kann von einem Vater nicht verlangen, alle Kinder dieser Welt so wie die eigenen zu lieben. Aber man kann ebensowenig fordern, dass Recht und Moral nur gelten sollen für Freunde, Verwandte und Bürger, mit denen man in einer Gemeinschaft lebt. In der Moderne lebt man im Zwiespalt und, wenn man Glück hat, im Kompromiss, den man zwischen universeller Moral und konkreter Sittlichkeit zu schließen hat.
Neo-Platoniker
Neo-Platoniker stehen der Moderne kritisch, ja feindlich gegenüber. Eric Voegelin verwirft die Neuzeit als gnostische Selbstüberhebung des Menschen. Leo Strauss wirft der Neuzeit vor, das Naturrecht durch Historismus und Positivismus vernichtet zu haben. Der Neo-Platonismus kann in der Gefahr schweben, ein radikaler Antimodernismus zu werden. Nachdem schon Platon die Wissenden von den bloß Meinenden unterscheidet und er nur einer Elite die richtige politische Erkenntnis zutraut, besteht auch bei den Neo-Platonikern die Gefahr eines Elitismus, besonders deutlich bei Leo Strauss. Strauss knüpft an die platonische Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Wissen an, ja man hat den Eindruck, dass er sich sogar des Instruments der „edlen Lüge“ bedienen will. Wenn die Menge das Richtige schon nicht verstehen kann, muss sie durch gutgemeinte Lügen zum Richtigen geführt werden. (Anlässlich des Irak-Krieges und der Lüge von den Massenvernichtungswaffen wurde darüber diskutiert, ob man die Straussianer in der US-Administration für diese Täuschung der Öffentlichkeit verantwortlich machen kann.)
Es ist nicht nur der anti-demokratische Zug der platonischen Philosophie, der ihre Aktualisierung erschwert. Es ist auch ihre metaphysische und theologische Verankerung. Vor allem in den Nomoi hat Platon eine auf Theologie gegründete Ordnung entworfen. Sie lässt für Abweichungen von der Orthodoxie keinen Raum. Trotz ihrer Gründung auf Gesetze ist auch die Ordnung der Nomoi eine, die auf Einheit und nicht auf Pluralismus zielt.
Platons Grundfragen sind Fragen der politischen Philosophie geblieben. Was ist die beste Stadt? Was ist die gerechte Ordnung? Solche Fragen sind der Stoff, aus dem die Utopien geboren werden und aus dem sich der Wille zur Verbesserung der Verhältnisse speist. Man sagt heute gerne, das Zeitalter der Utopien sei zu Ende. Aber warum sollte es zu Ende sein? Die Menschheit lässt sich das Träumen nicht verbieten, auch nicht in der Politik. Und alle Versuche, den Platonismus „umzukehren“, wie sie Nietzsche oder die Postmoderne unternahmen, haben sich nicht von Platon lösen können. Wer ihn „umkehrt“, verbleibt mit umgekehrten Vorzeichen noch im Banne seiner Metaphysik.
Während des Zweiten Weltkrieges hat Popper den Versuch unternommen, ein für allemal mit Platon aufzuräumen und hat ihn als Vorläufer des Totalitarismus zu brandmarken versucht. Aber was immer Popper gegen Platon vorbringt, geht an Platon vorbei. Platons Staat ist kein „Klassenstaat“ und kein „Kastensystem“, dient nicht der Ausbeutung und soll auch nicht mit Gewalt errichtet werden. Er kennt weder Terror noch Massenparteien und Ideologien: Popper hat auf Kosten Platons Propaganda gemacht.
Nach Popper besteht die Grundfrage der Politik darin, ob Personen oder Verfahren herrschen sollen. Platons Fehler sei es gewesen zu fragen: „Wer soll regieren?“. Dabei müsse die Frage lauten: „Wie könnten wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten und inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“ („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 6. Auflage, S. 170). So Die berechtigt die Frage ist als Alternative ist sie falsch gestellt. Die Demokratie braucht beides: Personen und Verfahren.
Wozu neo-klassische Philosophie?
Die liberale Gesellschaft mit ihren Vertragstheorien, mit ihrem Pochen auf den Rechten des Einzelnen, mit ihrer Atomisierung des Individuen, mit ihrem Utilitarismus und Eudaimonismus erzeugt aus sich selbst den Bedarf nach einem Korrektiv. Dies liefern ihr Philosophien, die den Liberalismus nicht aufheben, sondern korrigieren und ergänzen.
Sie verweisen ihn auf das, was er aus eigener Kraft nicht hat: Gemeinschaftsdenken, Solidarität, Maßstäbe einer nicht bloß utilitaristischen Gerechtigkeit, Vorzüge des praktischen Lebens vor instrumenteller Vernunft. Auf dem einen Bein der liberalen Freiheiten allein kann man nicht stehen. Eine gelingende Moderne braucht beides: die moderne Freiheit und die Erinnerung an das antike Erbe unserer Kultur.
Das politische Denken der Neuzeit hat sich von Platon und Aristoteles zugleich entfernt. Dadurch rückten beide Philosophen noch einmal näher zusammen. Die Alten standen nun gegen die Modernen, so als ob es nur eine Antike und nur ein politisches Denken der Antike gegeben hätte. Die neuzeitliche Emanzipation der Politik von der Moral, wie sie Machiavelli vollzieht, ist beiden Klassikern fremd. Dass das Hauptinteresse das Überleben und das angenehme Leben sein soll, wie es Hobbes behauptet, lehnen sie beide im Namen des guten Lebens ab. Statt beim Individuum, wie Hobbes, Locke oder Rousseau, setzen sie bei der Gemeinschaft an. Anders als Hobbes, Locke, Rousseau, Kant oder Fichte ist ihnen die Gemeinschaft kein Vertrag. Die querelle des anciens et des modernes erweckt den Eindruck, dass Platon und Aristoteles auf engste zusammengehören, vereint gegen Tendenzen der neuzeitlichen Philosophie stehen.
Die Bedürfnisse der Epochen haben die Unterschiede verwischt, die zwischen den Philosophien des Platon und des Aristoteles bestehen. Heute ist es vielleicht eher als früher möglich zu erkennen, dass die politische Philosophie der Klassik zwei Wurzeln hat und dass das politische Denken der Gegenwart zwei große Vorbilder besitzt.
UNSER AUTOR:
Henning Ottmann ist Professor für Politische Philosophie an der Universität München. Der Autor behandelt das Thema ausführlicher in: Ottmann, H., Platon, Aristoteles und die neoklassische Philosophie der Gegenwart. 47 S., kt., 2005, € 18.—, Nomos, Baden-Baden. Von ihm ist weiter zum Thema erschienen: Geschichte des politischen Denkens. Band 1: Die Griechen. Teilband 1: Von Homer bis Sokrates. XVI, 276 S., kt. € 19.90, Teilband 2: Von Platon bis zum Hellenismus. XII, 322 S., kt., € 19.90, J.B. Metzler, Stuttgart.
http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=229&n=2&y=1&c=2#
Klassische Texte zur politischen Philosophie
Platon, Apologia / Kriton / Eutyphron / Protagoras / Politeia / Nomoi
Aristoteles, Politike
Cicero, De re publica / De legibus
Jean Bodin, Über den Staat
Thomas Hobbes, Der Leviathan
Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus
Rousseau, Du Contrat Sociale ou Principes De Droit Politique (Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechtes)
Montesquieu, De l'esprit des loix (Vom Geist der Gesetze)
Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes)
Kant, Metaphysik der Sitten / Über den Gemeinspruch / Zum ewigen Frieden
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts
Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen
Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft)
Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik / Die politischen Religionen / Evangelium und Kultur
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
John Rawls, A Theory of Justice / Political Liberalism
Dahrendorf, Ralf, Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, München: dtv 1994
ders., Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch, München: Beck 2002
ders., Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert,
München: Beck 2003
ders., Versuchungen der Unfreiheit. Die intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München: C.H.Beck 2006
Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München: C.H.Beck 2001
ders., Politische Gerechtigkeit: Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003
ders., Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung,
München: C.H.Beck 2004
ders., Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München: C.H.Beck 2010
Norbert Hoerster, Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München: C.H. Beck 2013
Wolfgang Kersting, Verteidigung des Liberalismus, Hamburg: Murmann 2009
ders., Gerechtigkeit und soziale Marktwirtschaft, Hamburg: Murmann 2010
Charles E. Larmore, Patterns of Moral Complexity, Cambridge: CUP 1987;
dt. Strukturen moralischer Komplexität, Stuttgart: Metzler 1995
Robert Paul Wolff, Das Elend des Liberalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968