Deutsche Wirtschaft

 

 

 

 

Nichts hat das deutsche Volk - dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden

- so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers

 

 

 

 

Die schlechte Nachricht: Nur 23 Prozent der Menschen sind derzeit optimistisch, was Politik und Gesellschaft angeht.

Die gute Nachricht: 87 Prozent blicken voller Zuversicht auf ihr privates Glück. So eine Diskrepanz ist nur mit Eskapismus zu erklären. Die Deutschen flüchten vor der Wirklichkeit. Maximaler Pseudo-Optimismus durch Minimierung des Fokus: Der Rückzug ins private Schneckenhaus hat Hochkonjunktur, wenn die Wirtschaft in der Rezession steckt.

 

Frei nach dem Motto „Geh bloß weg mit all den schlimmen Nachrichten und den Krisen“ wird auch der Zustand des eigenen Arbeitgebers zum theoretischen Konstrukt. Mag der auch in argen Nöten stecken, die Vier-Tage-Woche kann man ja trotzdem mal fordern, ist ja schließlich Personalmangel. Wo das Vertrauen in die Regierung schwindet, wird es das auch bald beim Arbeitgeber und leitendem Personal. Wo die Streitkultur bei politischen Themen vor die Hunde

geht, leidet auch die Konfliktkultur im Betrieb.

 

Mit dem Gang ins Ausland zu drohen, ist dabei keine ideale Lösung. Besser wäre es für Führungskräfte, zu verstehen, woraus sich die hohe Zuversicht im Privaten speist und darauf im beruflichen Kontext aufzubauen: Erstens wäre da

das Ego zu nennen als Dreh- und Angelpunkt für (gefühlte) Selbstwirksamkeit. Sport, Gesundheit, all das kann ein Arbeitgeber auch bieten und viele tun das auch, Stichwort Retention-Maßnahmen. Auch die wichtigen Bollwerke aus Gleichgesinnten lassen sich im Berufsalltag nutzen.

 

Wichtig ist in diesen Zeiten zudem, Komplexität zu verringern. Das bedeutet, Transformationsprozesse in kleine Etappen zu unterteilen, Mitmachen zu ermöglichen und den Menschen das Gefühl zu geben, den Wandel zumindest ein stück-weit unter Kontrolle zu haben. Die viel zitierte German Angst kann ja auch Kräfte freisetzen. Wie heißt es in diesen Disney-Filmen doch immer so schön: Nur wer sich seiner Angst stellt, kann dauerhaft glücklich sein.

 

Thorsten Giersch, Chefredakteur Markt und Mittelstand

 


 

 

Nichts hat das deutsche Volk ... so erbittert,

so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.

 

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers

 

 

 

Schrumpfende deutsche Wirtschaftskraft

 

Strukturkrise statt Rezession

 

Deutschland befindet sich in einer technischen Rezession. Doch das Problem ist größer: Hinter den nackten Wirtschaftszahlen verbirgt sich nämlich eine ernste Strukturkrise. Die einstige Erfolgsformel, Können mit Fleiß und kostengünstiger Energieversorgung so zu verbinden, dass aus vielen Unternehmen Weltmarktführer werden, funktioniert nicht mehr. Die Politik aber stellt sich blind.

 

Thomas Mayer am 26. Mai 2023 in CICERO ONLINE

 

Gemäß der ökonomischen Folklore hat eine Rezession begonnen, wenn das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen geschrumpft ist. Folglich war die Aufregung groß, nachdem das Statistische Bundes-amt seine vorläufige Schätzung einer Stagnation des BIP im ersten Quartal dieses Jahres zu einer Schrumpfung revidiert hatte. Zusammen mit dem im vierten Quartal ebenfalls geschrumpften BIP ist nun der folkloristische Tatbestand der Rezession erfüllt.

 

Ob die Diagnose tatsächlich stimmt, lässt sich jedoch erst sagen, wenn eine breitere Sammlung von Daten ausgewertet ist. Für die USA hat das National Bureau of Economic Research die Technik dafür entwickelt, für Deutschland hat das Flossbach von Storch Research Institute ein Pendant dazu vorgestellt. Unser Indikator weist klar auf eine Schwäche-phase hin, die man als Rezession bezeichnen kann, wenn sie anhält. Viel gravierender ist jedoch, dass die Schwäche-phase der Beginn einer tiefen Strukturkrise sein könnte, die weit über eine Rezession hinausgeht.

 

Folkloristische Rezessionsanalyse

 

Zur folkloristischen Rezessionsanalyse gehört der scharfe Blick auf die Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Er zeigt, dass vor allem der öffentliche und etwas weniger stark der private Konsum das BIP gedrückt haben. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die sich schon im vierten Quartal abgezeichnet hat. Der private Konsum leidet unter der durch die Inflation geminderten Kaufkraft der Einkommen, der öffentliche Konsum geht aufgrund des Abbaus staatlich finanzierter Coronatests zurück – was einen ja freuen sollte.

 

Dagegen wurde das BIP durch die Nettoexporte, die Baunachfrage und die Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen angehoben. Ob das im weiteren Verlauf des Jahres so bleibt, ist allerdings sehr fraglich. Denn die Bauwirtschaft erlebt aufgrund gestiegener Zinsen und dem politischen Tumult über künftige Heizungsvorschriften einen gewaltigen Nachfrageeinbruch. Die Unternehmen klagen über schlechte Standortbedingungen – und Deutschlands große Auslandskunden, allen voran China, beginnen ebenfalls zu schwächeln.

 

Vor diesem Hintergrund lässt sich trefflich streiten, ob sich die deutsche Wirtschaft im weiteren Verlauf dieses Jahres noch berappelt oder die folkloristische zur offiziellen Rezession wird. Spannender als dieser Streit ist jedoch die Frage, ob sich hinter diesen Zahlen nicht eine ernstere Strukturkrise verbirgt. Stutzig macht zum einen, dass die Wirtschaftsschwäche den Arbeitsmarkt bisher kalt gelassen hat. Die Erwerbstätigkeit steigt weiter, und die Arbeitslosigkeit verharrt auf einem historischen Tiefstand. Zwar ist der Arbeitsmarkt in der Regel ein nachlaufender Konjunkturindikator, aber die Zeichen mehren sich, dass diese Regel jetzt ausgesetzt ist. Obwohl das reale Bruttoinlandsprodukt seit Ende 2019 nicht mehr gewachsen ist, sind heute mehr Menschen beschäftigt als damals. Doch der Anstieg der Arbeitsintensität der Wirtschaft dürfte nur vorübergehend sein, da in den nächsten Jahren die Pensionierung der Generation der Baby-Boomer ansteht. Möglicherweise bereiten sich viele Unternehmen schon darauf vor, indem sie jetzt die Nachfolger ihrer künftigen Rentner einstellen.

 

Abschwächung des Produktivitätswachstums

 

Zum anderen bestätigen die Zahlen des ersten Quartals einen schon länger andauernden Trend: die Abschwächung des Produktivitätswachstums. Von Anfang der 1990er Jahre bis Anfang 2008, dem Zeitpunkt vor Beginn der Rezession 2008/09, wuchs die Produktivität (gemessen als reales BIP je Beschäftigten) mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 1,2 Prozent. Von diesem Zeitpunkt an schwächte sich das jährliche Wachstum bis Anfang 2019 dann auf nur noch 0,2 Prozent ab. Und vom ersten Quartal 2019 bis zum ersten Quartal 2023 schrumpfte die Produktivität schließlich mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 0,4 Prozent.

 

Seit Anfang 2008 ist die deutsche Bevölkerung dank Zuwanderung um 4,4 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum wuchs die Beschäftigung um nur 2,9 Prozent und die Produktivität um lediglich 0,7 Prozent. Die Zuwanderer kamen also nur teilweise im Arbeitsmarkt an, und wo sie es schafften, trugen sie zum Rückgang des Produktionswachstums bei. Ein Grund dafür dürfte sein, dass Deutschland aufgrund seines großzügigen Sozialsystem und hoher Abgaben bei weniger leistungsfähigen Zuwanderern sehr beliebt ist, Leistungsträger hingegen abschreckt. Der Rückgang der Produktivität dürfte sich beschleunigen, wenn die höher qualifizierten Baby-Boomer durch weniger qualifizierte Zuwanderer oder mangelhaft ausgebildete deutsche Arbeitskräfte ersetzt werden. Eine chronische Produktivitätsschwäche führt jedoch in den wirtschaftlichen Abstieg.

 

Ideologische Steckenpferde

 

In einem früheren Beitrag habe ich die Erosion des deutschen Wirtschaftsmodells beklagt. Die Erfolgsformel, Können mit Fleiß und kostengünstiger Energieversorgung so zu verbinden, dass aus vielen Unternehmen Weltmarktführer werden, funktioniert nicht mehr. Können und Fleiß nehmen ab, und die Energieversorgung wird aufgrund widriger Umstände und eigener Politikfehler teuer und unzuverlässig. Deutschland bräuchte eine „Agenda 2030“ zur Steigerung der Produktivität. Doch leider klaffen die harte Realität und ihre Wahrnehmung durch die Politik weit auseinander. Weil sie den Wohlstand für gegeben nehmen, reiten ausschlaggebende Bereiche der Politik ihre ideologischen Stecken-pferde. Eine „technische Rezession“ dürfte sie kaum erschrecken.

 

Wahrscheinlich muss die Strukturkrise erst offen ausbrechen, bis sie von der Berliner Politikblase wahrgenommen wird.

 

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

 

https://www.cicero.de/wirtschaft/schrumpfende-deutsche-wirtschaftskraft-strukturkrise-statt-rezession

 



 

Die Erosion des deutschen Wirtschaftsmodells

 

Das jahrelang erfolgreiche deutsche Wirtschaftsmodell steht angesichts explodierender Energiekosten, lähmen-der Bürokratie und einem maroden Bildungssystem vor einer existenziellen Bedrohung. Um das Land auf die Zukunft vorzubereiten, brauchen wir eine Agenda 2030.

 

Thomas Mayer am 11. Mai 2023 in Cicero Online

 

Wollte man das über viele Jahre erfolgreiche Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft auf den Punkt bringen, könnte man sagen, es bestand daraus, Können mit Fleiß und kostengünstiger Energieversorgung so zu verbinden, dass aus vielen Unternehmen Weltmarktführer wurden. Seit einiger Zeit werden jedoch die Träger dieses Modells schwächer.

 

Erosion des Könnens

 

Die Kenntnisse der Schüler in den Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen und Schreiben lassen nach. Die Autoren des IQB-Bildungstrends 2021 ziehen den Schluss:

 

„Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends liefern ein besorgniserregendes Bild. Die negativen Trends sind erheblich und der Anteil der Viertklässler, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, ist zu hoch. Im Jahr 2021 liegt dieser Anteil in Deutschland insgesamt zwischen gut 18 Prozent (Zuhören) und etwa 30 Prozent (Orthografie), wobei die Anteile in einzelnen Ländern noch deutlich höher sind. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind. Bei Mindeststandards handelt es sich um Anforderungen, die von allen Schülern erreicht werden sollten.“

 

Erosion des Fleißes

 

Zudem gilt Fleiß in einer Gesellschaft, die mehr an der „Work-Life-Balance“ als an Arbeit interessiert ist, nicht mehr als Tugend. Dies ist zwar kein allein deutsches Phänomen. Aber in Deutschland wird es in eine durchschnittliche jährliche Arbeitszeit übersetzt, die 30 Prozent unter der amerikanischen und 70 Prozent unter der chinesischen liegt.

 

Anstieg der Energiekosten

 

Am schwersten wiegt jedoch unser Nachteil bei den Energiekosten. Für elektrischen Strom müssen deutsche Unter-nehmen den fünffachen Preis amerikanischer und den achtfachen Preis chinesischer Unternehmen bezahlen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, zwingt die Politik der Industrie Technologien auf, in denen andere Länder Vorteile haben. Dazu gehören Elektroheizungen ebenso wie Autos mit Elektroantrieb. Kein Wunder also, dass in den letzten Jahren die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen die Investitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland übersteigen.

 

Erschwerend kommt eine Politik hinzu, die ein interventionistisches Regelsystem samt einer lähmenden Bürokratie geschaffen und den Verfall der Infrastruktur zugelassen hat. Mancher mittelständische Unternehmer denkt über die Verlagerung des gesamten Unternehmens ins Ausland nach.

 

Warnendes Beispiel Italien

 

Was geschieht, wenn einem Industrieland die Anpassung an veränderte Umstände nicht gelingt, zeigt das Beispiel Italiens. Wie andere westliche Industrieländer erlebte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg einen kräftigen Aufschwung. Und wie Deutschland verringerte Italien sogar den Abstand zu den USA. Doch gegen Ende der 1970-Jahre kam der Auf-holprozess mit den USA an sein Ende, und seit Anfang der 1980er-Jahre wächst der Rückstand. Im Jahr 2018 lag das reale BIP pro Kopf sogar unter dem Niveau von 2007.

 

Der wesentliche Grund für die Abschwächung des Wirtschaftswachstums liegt am Versiegen des Wachstums der Pro-duktivität von Arbeit und Kapital. Die sogenannte gesamte Faktorproduktivität (GF) stieg von Anfang der 1950er- bis Ende der 1970er-Jahre stärker als in den USA und im Gleichklang mit Deutschland. Nach dem Einbruch in der An-passungsrezession von 1981-82 erholte sich das GF-Wachstum in den Folgejahren jedoch im Gegensatz zu den USA

und Deutschland nicht mehr. Die gesamte Faktorproduktivität blieb bis Ende der 1990er-Jahre gleich und sinkt seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts.

 

Trotz der Stagnation des GF-Wachstums stieg das reale BIP noch bis zum Beginn der Großen Finanzkrise im Jahr 2007. Grund dafür waren bis zum Eintritt Italiens in die Europäische Währungsunion Exportverbilligungen durch Abwertung des Wechselkurses der Lira. Bis 2001 setzte sich die Abwertung aufgrund der anfänglichen Schwäche des Euros fort.

Die Währungsschwäche erlaubte es, den Anstieg der Staatsverschuldung zur Stützung der inländischen Nachfrage vorübergehend auszusetzen. Mit der Erholung des Euro-Wechselkurses fiel jedoch der Antrieb durch die Währungs-abwertung weg, und die Fiskalpolitik versuchte, die Wirtschaft durch Neuverschuldung zu stimulieren.

 

Die Gründe für die italienische Wachstumsschwäche werden unter Ökonomen intensiv diskutiert. Lorenzo Codogno und Giampaolo Galli finden in einer Ende letzten Jahres veröffentlichten umfangreichen Analyse, dass eine überbordende Bürokratie, eine träge Justiz, ein sklerotischer Arbeitsmarkt, ein unterentwickeltes Finanzsystem, ein schlechtes Bil-dungssystem, mangelnder Wettbewerb, Überschuldung und ein von Gruppenegoismen und der Verfolgung von Sonderinteressen bestimmtes politisches System den Übergang von einer traditionellen Wirtschaft zu einer wissens-basierten Wirtschaft verhindert hätten. Italien bleibt in überkommenen Strukturen gefangen, während sich seine Umwelt grundlegend verändert hat.

 

Wir bräuchten eine Agenda 2030

 

Noch steht Deutschland weit besser da als Italien. Doch die Erosion des deutschen Wirtschaftsmodells deutet darauf hin, dass Deutschland heute drohen könnte, was Italien in den 1980er-Jahren zum Verhängnis wurde: mangelnde Anpas-sung an eine stark veränderte Welt aufgrund verkrusteter Strukturen.

 

Die Lage erinnert an 2002, als Deutschland der „kranke Mann Europas“ genannt wurde. Damals reagierte die Regierung Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“ darauf. Deutschland steht heute wieder an einem Scheideweg — nicht nur politisch mit der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende, sondern auch wirtschaftlich. Das Land muss

sich bei der Energieversorgung neu aufstellen. Der Staat muss die Bürokratie abbauen und die öffentliche Infrastruktur modernisieren. Die Industrie muss die neueste Herausforderung auf dem Gebiet der digitalen Technologie, die künst-liche Intelligenz, annehmen. Und Gesellschaft und Politik müssen mit der Alterung der Bevölkerung fertig werden, das Bildungssystem reformieren und die Migrationskrise bewältigen.

 

Deutschland bräuchte eine „Agenda 2030“, denn die Zeit drängt. Doch leider klaffen die harte Realität und ihre Wahr-nehmung durch die Politik weit auseinander. Weil sie den Wohlstand für gegeben nehmen, reiten ausschlaggebende Bereiche der Politik ideologische Steckenpferde. Wenn die Wirtschaft aber nicht mehr gehört wird, entschließt sie sich (nach Albert O. Hirschmann) zum „Exit“. Und wenn den Bürgern ihre Stimme genommen wird, gehen sie in die innere Emigration.

 

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

 

 


 

Klimaoptimismus statt Weltuntergang

 

Die deutsche Industrie wird derzeit auf dem Altar eines zunehmend radikalen Klimaschutzes geopfert. Eine denkwürdig pessimistische Zukunftsallianz aus Politikern und Aktivisten bestimmt den öffentlichen Diskurs. Dabei können wir unseren Wohlstand nur mit Technologieoffenheit und Mut retten.

 

Markus Pieper am 11. Juli 2023 in CICERO ONLINE

 

Klimaneutrales Europa 2050. Max Mustermann im Elektrobus auf dem Weg zur Arbeit in das große Chemiewerk am Rande der Stadt. Immerhin 20 Prozent der Beschäftigten konnten bleiben. Sie produzieren chemische Grundstoffe jetzt klimaneutral mit grünem Wasserstoff. Alles andere lässt der Konzern aus Kostengründen und der in der EU zu starken Wasserstoffregulierung an anderen Konzernstandorten der Welt herstellen – dort auch ohne Chemikalienverordnung (Reach). Traurig blickt Max aus dem Fenster. 25 Prozent Arbeitslosigkeit in der Region sind zu viel.

 

Und dann kommt noch rechts das Fabrikgelände einer ehemaligen Verzinkerei. Grün überwuchert, aber immerhin hat es das ehemalige Familienunternehmen noch geschafft, ein kleines Industriemuseum „Haus der Verzinkerei-Geschichte“ für die Nachwelt zu erhalten.

 

Kreativ erhalten blieb auch die benachbarte ehemalige Großgärtnerei. Heute mit einer Demonstrationsanlage für den Treibhauseffekt – im ehemals größten Gewächshaus der Region. Max war einmal da und hörte die Geschichte, dass Energie schlicht unbezahlbar war, Blackouts die Pflanzen vernichteten und Brüsseler Regulierung ein Problem damit hatte, dass mithelfende Familienangehörige nach Geschlechtern unterschiedlich entlohnt wurden, obwohl das im kleinen Betrieb doch alles freiwillig und pragmatisch geregelt war.

 

Deutsche Industrie ist über der Belastungsgrenze

 

Ein fatalistischer Ausblick für 2050 ? Nein, Mittelstand und Industrie sind wegen Bürokratieaufwand und der weltweit höchsten Strompreise an der Belastungsgrenze oder darüber. Auch der Fachkräftemangel lässt die Betriebe verzweifeln. 46 Prozent des industriellen Mittelstands verlagern gerade aktiv Teile der Produktion ins Ausland beziehungsweise haben dafür konkrete Pläne.

 

Noch überdeckt die demographische Lücke die Folgen für den Arbeitsmarkt. Aber in spätestens zehn Jahren ist klar: Deutschland geht mit Europa den Weg Großbritanniens von der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft mit viel Finanz- und Versicherungsprodukten, aber ohne Innovationskraft. Schmerzlich erfährt die Insel, dass es zu sozialen Verwerfungen führt, wenn man ohne Exportbasis davon leben muss, sich gegenseitig zu versichern und die Haare zu schneiden.

 

Innovationsgeist erstickt vor lauter Katastrophenszenarien

 

Ist den Menschen, vor allem aber der Politik noch bewusst, dass die Exporte der Industrie zu etwa 50 Prozent unseren Wohlstand und damit überhaupt die Grundlage unserer sozialen Errungenschaften verantworten? Wohl kaum, denn die Industrie wird derzeit auf dem Altar eines zunehmend radikalen Klimaschutzes geopfert.

 

Etwa wenn eine Landesregierung bei Abiturarbeiten die Untergangsszenarien einer Luisa Neubauer als Thema vorgibt, aber Deutschlands Vorreiterrolle im Klimaschutz keine Erwähnung findet. Wer sieht den Zusammenhang zwischen in-dustrieller Innovationsführerschaft und sozialen Errungenschaften, wenn politisierte Kirchen selbst extremste „Klima-prognosen“ der „Letzten Generation“ für bare Münze nehmen und Katastrophenszenarien ausmalen, die Angst machen? Politik und Kirche sollten der Jugend Angst nehmen und nicht Angst machen.

 

Denn ängstliche Forscher und Arbeitnehmer werden später niemals die Kraft für notwendige Klima-Innovationen mit dem Mut für marktwirtschaftliche Lösungen haben. Verängstigten Menschen fehlt dann auch die Zuversicht, dass der Mix aus Klimaschutz und Klimaanpassung unsere Lebensgrundlagen sehr wohl erhält, ja sogar verbessert. Und zwar völlig im Einklang mit den Klima- und Wohlstandsprognosen des IPCC und der Thinktanks der EU. Man muss diese nur lesen wollen.

 

Anstatt sich aber mit Mut und Zuversicht für Klimaschutz und Klimaanpassung zu engagieren, entsteht eine denkwürdig pessimistische Zukunftsallianz. Denn eines haben die „Letzte Generation“ und die Zeugen Jehovas gemeinsam: eine hochgradig pessimistische Sichtweise auf die Zukunft. Wer so Angst macht, will gar nicht argumentieren. Es geht darum, Kinder und Erwachsene gefügig zu machen – für ihre Weltsicht.

 

Radikale Bevormundungs-Gesetzgebung in Brüssel

 

In weiten Teilen der Politik fällt das Spiel mit der Angst auf fruchtbaren Boden, bestätigt es doch eigene politischen Zielsetzungen. So in Brüssel: Anstatt die wirtschaftlichen Chancen des Klimaschutzes technologieoffen zu betonen und auch EU-Gelder für Klimaanpassung bereitzustellen, arbeiten zu EU-Kommissionsbeamten verwandelte ehemalige Klimaaktivisten, EU-Kommissare und NGOs zusammen und versuchen, radikale Bevormundungs-Gesetzgebung durchzudrücken.

 

Für Frans Timmermans, Margarethe Vestager oder Virginijus Sinkevičius scheinen die Argumente der energieintensiven Industrie, des Mittelstands und der ländlichen Räume nicht existent. Der belastende Dreifach-Wumms durch Inflation, Krieg und Energiekrise auch nicht. Unbeirrt und ohne Rücksicht auf Arbeitsplatzverluste drücken sie mit den politischen Verbündeten im Europaparlament Gesetzgebung für Flächenstilllegungen, „All-Electric“ oder Zwangssanierungen durch, die vor dem Krieg erdacht und deren Kumulation von Bürokratie und Verteuerung der Energie die Betriebe verzweifeln lässt.

 

Wenn wenigstens die deutsche Bundesregierung im Rat deutsche Interessen vertreten würde. Stattdessen macht sie

bei Euro 7, Wasserstoffimporten, Lieferkette, Einschränkungen von Biomasseenergie oder europäischer Arbeitnehmer-definition das Gegenteil.

 

Sargnägel für die Wettbewerbsfähigkeit

 

Ursula von der Leyen setzt mit dem Green Deal das richtige Ziel, Klimaneutralität bis 2050, hatte bei den Mehrheits-verhältnissen der 27 Kommissare aber keine wirkliche Handhabe, wenn aus dem bei Gesetzgebung versprochenen „One in One out“ mittlerweile ein „Three in, One out“ geworden ist.

 

Immerhin gelingt es der Kommissionspräsidentin und dem (kleinen) Team der EVP-Kommissare mit Unterstützung eines zunehmend sensibilisierten Parlaments, wichtige Punkte für Technologieoffenheit durchzusetzen, so bei der Taxonomie für Energie oder der Wasserstoffbank für Energieimporte. Auch das mit „Reach“ oder europäischem Bodenschutz weitere Sargnägel für die Wettbewerbsfähigkeit zunächst nicht eingeschlagen werden, ist auch ihr Verdienst. Große Erwartungen setzt der europäische Mittelstand jetzt auf das für die zweite Jahreshälfte angekündigte „Mittelstandsentlastungspaket“.

 

Politik muss Unternehmen mitnehmen

 

Ja, mit Entlastung und ohne Bürokratie schnell nach vorn. 95 Prozent der deutschen Industriebetriebe sagen, dass sie globale Lieferketten nachhaltiger gestalten wollen, aber nur 13 Prozent fühlen sich dadurch am Standort Europa vor-bereitet. Mit anderen Worten: Politik muss sich auf Gesetzgebung konzentrieren, die die Unternehmen mitnimmt, die aus der Krise führt.

 

Das sind neue Handelsverträge, die Europa strategisch unabhängiger machen. Das ist eine Außenpolitik, die stärker

die eigenen Interessen wahrnimmt. Das sind Lieferkette und Taxonomie ohne ideologischen Ballast. Das ist eine technologieoffene Energiewende auch mit buntem Wasserstoff und neuen Optionen für Fusion-Kernkraft und Geothermie, das ist synthetische Biologie. Und das sind auf nationaler Ebene Steuererleichterungen und Superabschreibungen für diese Zukunftsinvestitionen.

 

Mut machen statt Angst machen

 

Anreize statt Zwang. Mut machen statt Angst machen. Gerade in Deutschland gelingt es doch in den letzten Jahrzehnten vorbildlich, Wirtschaftswachstum und CO2-Anstieg zu entkoppeln. Unser Land ist bei den Patentanmeldungen nach den USA immer noch Vizeweltmeister. Bei den Wasserstoff-Patenten rund um diesen Energieträger der Zukunft ist Deutsch-land mit 11 Prozent sogar Weltmeister. Mit den dabei global führenden Regionen München und Ruhrgebiet. Das macht Mut.

 

Max Mustermanns Traurigkeit 2050 ist Utopie. Denn seinen Eltern ist es noch gelungen, die Weichen so zu stellen, dass Deutschland 2050 moderner Industriestandort und kein Industriemuseum ist. Und im Gewächshaus der Gärtnerei werden schönste Sommerblumen verkauft und nicht die Verfehlungen letzter Generationen beklagt.

 

Dr. Markus Pieper ist seit 2004 Europaabgeordneter für das Münsterland. Er ist Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU / CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Sprecher des Parlamentskreises Mittelstand und Berichterstatter für die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (REDIII).