Philosophie der Mathematik

 

 

 

Ist unser Mathematikverständnis angeboren?

 

Eine Studie mit Indigenen in Bolivien untersuchte, wie Bildung das Verständnis von Mathematik beeinflusst. Auch völlig ungebildete Menschen entwickeln einschlägige Fähigkeiten.

 

Reinhard Kleindl, Der Standard, 22. August 2023

 

Mathematik gilt als universell und unabhängig von kulturellen Besonderheiten ihrer Ausübung. Weder große räumliche oder zeitliche Distanzen können der Gültigkeit ihrer Aussagen etwas anhaben. Und abgesehen von wenigen spektaku-lären Ausnahmen gibt es keine regionalen Befindlichkeiten, die für Verwirrung sorgen würden. Das geht so weit, dass manche Fachleute vermuten, die Fähigkeit zur Mathematik oder zum Zählen könnte dem Menschen in gewisser Weise angeboren sein.

 

Vor allem natürliche Zahlen sind so fundamental, dass diese Idee nicht ganz abwegig erscheint. Es gibt starke Hinweise auf einen evolutionär erfolgreichen Mechanismus zur Unterscheidung der Größe von Ansammlungen einzelner Objekte, der vielen Spezies gemeinsam ist. Schimpansen sind dazu in der Lage. Auch Gorillas, Kapuzineräffchen, Totenkopf-äffchen, Lemure, Delfine und Elefanten können auf rudimentäre Weise zählen, was ebenfalls für eine angeborene Fähigkeit spricht.

 

Den meisten Menschen erscheinen die natürlichen Zahlen so "natürlich", dass sie kaum weiter erklärt werden müssen, Leopold Kronecker hielt sie für "vom lieben Gott gemacht". Eine Definition lieferte erstmals 1888 der deutsche Mathe-matiker Richard Dedekind, knapp gefolgt von seinem italienischen Kollegen Guiseppe Peano. Inzwischen hat sich Peanos Definition weitgehend durchgesetzt. Salopp gesagt fordern seine Axiome nur, dass jede natürliche Zahl einen Nachfolger hat, es eine natürliche Zahl gibt, die nicht Nachfolger einer anderen ist (die Eins), dass zwei Zahlen mit identischem Nachfolger einander gleich sind und dass jede Menge, die jene nachfolgerlose Zahl und alle ihre Nach-folger enthält, die natürlichen Zahlen enthält.

 

Manche Forschende vermuten, dass der menschliche Geist eine Art kognitive Version der Peano-Axiome quasi vor-installiert hat, insbesondere die Idee einer Zahl eins und einer Nachfolgefunktion. Diese Ansicht einer angeborenen Logik für die einfache Mathematik des Zählens ist aber umstritten. Kritisiert wird etwa, dass die Kinder, die zur Klärung dieser Frage untersucht wurden, durchwegs aus westlichem, gebildetem, industrialisiertem, reichem, demokratischem Umfeld stammen (eine Abkürzung, die im Englischen den schönen und tatsächlich gängigen Ausdruck "WEIRD" ergibt, zu Deutsch "schräg"). Sie hätten einfach zu früh zu guten Zugang zu abstrakteren Mathematikkonzepten, um sich zur Untersuchung dieser Frage zu eignen.

 

Studie im Amazonasgebiet

 

Eine Forschungsgruppe um David O'Shaughnessy und Steven Piantadosi von der University of California in Berkeley nahm sich dieser Kritik an und versuchte, der Frage mit einer experimentellen Studie abseits der industrialisierten Welt auf den Grund zu gehen. Die Ergebnisse wurden nun im Fachjournal "PNAS" veröffentlicht. Konkret untersucht wurde das Zahlenverständnis des indigenen Volks der Tsimane im bolivianischen Amazonasgebiet.

 

Die Tsimane erregten schon früher die Aufmerksamkeit der Wissenschaft, weil ihre Vertreter als außergewöhnlich gesund gelten und 2017 den geringsten gemessenen Wert für Arterienverkalkung im Vergleich zu allen bisher unter-suchten Menschengruppen aufwiesen.

 

Die Tsimane waren für die neue Untersuchung besonders geeignet, weil ihr Bildungsniveau stark variiert. Manche Gruppen erhalten eine gewisse Schulbildung, zu der auch Unterricht in Mathematik gehört, andere erhalten keinerlei Unterricht. In den Jahren 2012 bis 2019 untersuchte das Team um O'Shaughnessy und Piantadosi bei 25 Tsimane-Gemeinschaften die Fähigkeit zum Zählen. Getestet wurde, neben anderen Dingen, ob die befragten Personen bis acht zählen konnten.

 

Erwachsene ohne Schulbildung können zum Teil zählen

 

Kinder mit zwei bis drei Jahren Schulbildung bewältigten diese Aufgabe in der Regel, Kinder ohne Schulbildung scheiter-ten daran. Das ist eher nicht überraschend und deutet laut den Autoren darauf hin, dass die Fähigkeit zu zählen vermut-lich nicht angeboren ist. Überraschend war hingegen, dass 58 Prozent der Erwachsenen ohne Schulbildung die Aufgabe bewältigten.

 

Je weiter abgeschieden sie lebten, desto weniger waren sie allerdings dazu in der Lage. Eine Erklärung dafür könnte laut den Forschenden die Distanz zu Märkten sein. Das ließ sich durch die Beobachtung stützen, dass Frauen, die bei den Tsimane traditionell nicht auf Märkte gehen, diese Fähigkeit seltener besaßen.

 

Das Team konzentrierte sich daraufhin auf entlegen lebende Menschen ohne Schulbildung. Es zeigte sich, dass manche dieser Menschen Schwierigkeiten mit den meisten einfachen Additionen und Subtraktionen hatten, etwa mit der Aufgabe, eins zu einer Zahl zu addieren. Doch bei allem, was die Zahl fünf betraf, zeigten sie sich geschickt. Sie konnten etwa verlässlich eine Zahl mit fünf multiplizieren, eine deutlich komplexere mathematische Aufgabe. Das dürfte, so heißt es in der Studie, an der Art der lokalen Wirtschaftstätigkeit liegen, in der die Fünf eine wichtige Basiseinheit darstellt.

 

Bedeutung der Fünf

 

Dass ausgerechnet die Fünf einen so hohen Stellenwert hat, ist kein Zufall. Auch in anderen Kulturen ist die Fünf eine Basiseinheit. Eine Analyse von 307 Zahlsystemen indigener amerikanischer Kulturen ergab 106 mit der Fünf als Grund-einheit, während 146 Dezimalsysteme waren. Charles Darwin vermutete einst in seiner "Abstammung des Menschen", dass diese Tendenz zu Vielfachen der Fünf "ihren Ursprung in dem Zählen der Finger, zuerst der einen Hand, dann der andern und endlich auch der Zehen gefunden hat". Spuren davon finde man in unserem eigenen Dezimalsystem und

in den römischen Zahlzeichen. Die Zahl der Finger dürfte bei der Herausbildung dieser Zähltraditionen tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Hinzu kommt, dass die Fünf intuitiv gut zu fassen ist, wie Studien belegen.

 

In Summe deuteten die Ergebnisse jedenfalls nicht auf angeborene Fähigkeiten hin. Das ist das Fazit der Studie. Das Verständnis von natürlichen Zahlen dürfte als Fähigkeit anhand konkreter Aufgaben des Zusammenlebens entwickelt werden. "Die Arbeit mit Nicht-WEIRD-Populationen birgt das Potenzial, universelle Eigenschaften der menschlichen Natur aufzudecken, dient aber auch als Kontrolle gegen überzogene Ansprüche auf Universalität", betonen die Studien-autoren.

 

Reinhard Kleindl, 22.8.2023 

 


 

Das Wie und Warum mathematischer Wirkung

 

Was macht Mathematik effektiv?

 

An d r e a s  Lo o s | Ra i n e r Si n n | Gü n t e r M. Zi e gl e r

 

https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1002/piuz.202201660

 


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Eugene Wigner, The Unreasonable Effectivesness of Mathematics in the Natural Sciences
Reprinted from Communications in Pure and Applied Mathematics, Vol. 13, No. I (February 1960).
New York: John Wiley & Sons, Inc. Copyright © 1960 by John Wiley & Sons, Inc.
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