Herfried Münkler

 

 

 

Unser Nachhilfelehrer

 

Von Wolfgang Schäuble

 

Gesellschaftsberatung statt Expertenherrschaft: Herfried Münkler mutet Politikern und Bürgern zu, durch Lektüre klug zu werden. Ein Gastbeitrag zum siebzigsten Geburtstag des Politikwissenschaftlers.

 

 

Ob Herfried Münkler bei der Fußball-EM und den Olympischen Spielen nicht nur mitgefiebert, sondern auch wieder gelitten hat? Nämlich dann, wenn die Sportler nach dem Wettkampf die offenbar unvermeidliche Reporter-Frage beantworten sollten: „Und wie fühlen Sie sich jetzt?“ Der Wissenschaftler hat daraus vor einiger Zeit ein gesellschaft-liches Phänomen abgeleitet: Heute zähle viel weniger, was ist, als bloße Gefühligkeit. Wen wundert’s, dass dieser Zeit-geist dem kühlen Analytiker ordentlich auf den Nerv geht? Was am Spielfeldrand vielleicht noch zu ertragen ist, wird

im politischen Raum zum Problem. Dagegen schreibt Münkler an.

 

Mit ihm gibt es keine „routinierte Langeweile“, das schätze ich an seinen Büchern, und das spürt man im Gespräch. Münkler macht auf unkonventionelle Art komplexe Zusammenhänge anschaulich, wo es die Wissenschaftsprosa gerne umgekehrt hält. Ein Beitrag über internationale Beziehungen wird bei ihm leichthändig zum Ausflug in die „politische Zoologie“: Europa, heißt es dann, solle weniger Hasenfüßigkeit und mehr „füchsische Schläue“ zeigen, um sich gegen-über dem „löwenhaften Auftreten“ der Vereinigten Staaten zu behaupten.

 

In unserer immer komplexeren, immens beschleunigten Welt wächst die Verunsicherung, das Bedürfnis nach halt-gebenden Erklärungen. Münkler leuchtet Ungewissheiten aus, um sie beherrschbar zu machen, er durchdringt die Probleme, bevor er alternative Handlungsoptionen aufzeigt. Seine Auseinandersetzung mit dem Dreißigjährigen Krieg verstand er als „Übung zur Desillusionierung“ eingespielter Überzeugungen. Er zeigt in seinem monumentalen Buch aus dem Jahr 2017, dass die Fixierung auf das Recht gerade nicht half, Konflikte zu bewältigen und strategische Kompromisse zu finden. Und wie die unbedingte Wertbindung einen Friedensschluss erschwert hat.

 

Zentrale Analysekategorie einer neuen Weltordnung

 

Dass dieser abgeklärte Blick gerade auf dem aus nachvollziehbaren Gründen hierzulande moralisch aufgeladenen Feld der Außen- und Sicherheitspolitik nicht ohne Widerspruch bleibt, überrascht nicht. Mancher fühlt sich provoziert. Das erfuhr der umtriebige Hochschullehrer, als ein Teil seiner Studenten an der Berliner Humboldt-Universität anonym und mit moralinsaurem Furor jedes Wort seiner Vorlesungen sezierte. Ihn ärgerte das, aber er ließ sich nicht beirren.

 

Auch vereinnahmen lässt sich Münkler nicht, er ist politisch unabhängig – so wie er als Wissenschaftler eine Eigen-ständigkeit im Denken kultiviert. Die Politik profitiert davon. Ungezählt die Reden, die ihn zitieren, weil er neue Begriffe prägt oder verschüttet geglaubte ausgräbt, wie das „Imperium“, das ihm zur zentralen Analysekategorie der neuen Weltordnung wurde. Der Rede von der asymmetrischen Kriegführung gab er nach dem 11. September ein zeitgemäßes Profil und damit der politischen Debatte über den Terror eine neue Wendung.

 

Ein modernes Verständnis der Nation

 

Trotz imponierender thematischer Bandbreite seiner Studien: Der Krieg zieht sich wie ein roter Faden hindurch. Mich fasziniert besonders, wie Münkler dabei aktuelle Fragen mit geschichtlichen Konstellationen zusammenbringt. Dadurch gewinnt er seinem historischen Untersuchungsgegenstand bislang Unerkanntes ab, und er verhilft uns Lesern gleich-zeitig zu neuen Einsichten in die gegenwärtigen Verhältnisse. Das gilt nicht zuletzt für seine facettenreiche Analyse politischer Mythen. Das Buch von 2008 ist mir auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil wenige Jahre danach der Brite Neil MacGregor mit den Mitteln des Ausstellungsmachers die in mythischen Erzählungen verdichtete deutsche Ge-schichte geradezu kongenial präsentierte. Münklers Fokussierung auf den Mythos machte die Arbeiten zur Erinnerungs-kultur politisch anschlussfähig. Vielleicht war sein Buch deshalb so erfolgreich, weil er damit die Frage nach der großen Erzählung des wiedervereinigten Landes aufwarf? Erdrückt von der Übermacht historischer Erinnerungen und der Größe neuer Herausforderungen in der globalisierten Welt, verlangt es auch heute nach einem leitenden Narrativ.

 

So selbstverständlich Münkler in Großräumen denkt, in denen sich zwangsläufig nicht mehr allein die Nationen, sondern Europa bewähren müssen: Den Nationalstaat hält er dennoch nicht für überholt. Im Band „Die neuen Deutschen“ stellte er 2016 zusammen mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, ein modernes Verständnis der Nation zur Diskussion. Unter den Bedingungen der Globalisierung und der großen Migrationsbewegungen sei die Nation nicht mehr ethnisch ausgrenzend zu begründen. Aber beide beharren darauf, dass sie bis heute den geeigneten politischen Rahmen setze, um Solidarität und Gemeinsinn in einer vielfältigen Gesellschaft zu mobilisieren.

 

Nüchterne Analyse und strategische Weitsicht

 

Münkler findet Gehör, er ist viel gefragter Ratgeber, längst nicht nur, aber gerade in der Politik. Kurz bevor die Pandemie das spannungsreiche Verhältnis von Wissenschaft und Politik grell ausleuchtete, widmete sich Münkler in einem an-regenden Text der Politikberatung. Der Typus des Wissenschaftlers „mit uneingeschränktem Anspruch auf überlegenes Wissen“ und der Erwartung, dass seinen Einsichten und Vorschlägen von der Politik unbedingt zu folgen sei, kommt dabei nicht allzu gut weg. Auch noch so relevante wissenschaftliche Ratschläge könnten eben, so Münkler, mit dem demokratischen Mehrheitswillen konkurrieren. Statt der Verwissenschaftlichung der Politik ist für ihn deshalb der „Um-weg über die Gesellschaftsberatung“ der Pfad, der am besten der Demokratie entspricht.

 

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