Eine Welt in Aufruhr

 

 

Die Verdunkelungsgefahr und wie der Westen sie überwinden kann

 

Eine Chagall-Ausstellung in Frankfurt nimmt unser Autor zum Anlass, über die Zunahme der Gewalt in den inter-nationalen Beziehungen zu reflektieren. Die liberalen Demokratien haben es in der Hand, das Blatt zu wenden. Aber wie?

 

MARTIN WIESMANN am 25. Dezember 2023 in CICERO ONLINE

 

„Chagall. Welt in Aufruhr“ hieß eine Ausstellung, mit der die Kunsthalle Schirn Frankfurt Besucherrekorde erzielte. Gezeigt wurden Werke von Marc Chagall aus den 30er und 40er Jahren, eine Zeit, in der sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelte. Die Ausstellung schloss fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

 

Jener 24. Februar 2022 schien die größtmögliche Zäsur zu sein, die Begriffe wie Zivilisationsbruch und Zeitenwende zu Gegenständen täglichen Diskurses machten. Doch der Aufruhr geht weiter: Der 7. Oktober 2023 steht für eine neue Qualität systematischen genozidalen Terrors der Hamas gegen Israel. Gerade noch haben wir ukrainischen Flüchtlings-familien Unterkunft gegeben, jetzt erleben wir die Angst von Juden in unseren Straßen und Schulen. Und wir erleben, dass Islamisten und ihre Sympathisanten keine Angst haben müssen, nicht mal, wenn sie die Vernichtung Israels herbei-skandieren.

 

Was manifestiert sich hier weltweit als „Aufruhr“? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir nachdenken über Men-schen und Gewalt, den Zerfall des internationalen Systems und die Bedrohung unserer liberalen Demokratie. So viel vorweg: Die liberalen Demokratien haben es in der Hand, das Blatt zu wenden.

 

Gewalt und AI – der anthropologische Blick

 

Beginnen wir mit einem anthropologischen Blick. Für uns scheint sich gerade Chagalls Zeiterfahrung zu wiederholen, die Erfahrung der völligen Entgrenzung von Gewalt. Wir stellen uns die Frage nach der Gattung Mensch und ihrer Zukunft. Nicht umsonst bezog sich Salman Rushdie in seiner Friedenspreisrede auf Homer: „Homer sagt uns, dass es Frieden erst nach Jahrzehnten des Krieges gibt, also dann, wenn Troja zerstört ist und alle, an denen uns lag, längst gestorben sind.“

 

Aus der Ilias stammt der Dialog zwischen Menelaos, als diesen ein Anflug von Humanität erfasst, und Agamemnon,

der ihm das Prinzip der totalen Vernichtung entgegenschleudert: „Ausgelöscht sollen die Troer werden, unbestattet und spurlos, auch der, den eine Mutter als Knaben in ihrem Leib trägt, alle sollen sie vertilgt sein aus Ilios.“ Nicht nur bei dem Angriff der Hamas wurden wir Zeuge dieses Vernichtungswahns. Im russischen Fernsehen erklärte eine Kommenta-torin, dass Russland den ganzen Weg der Vernichtung gehen müsse, denn sonst kämen die Kinder der Ukrainer und rächten an „uns Russen“ ihre Eltern. Man muss sich daran erinnern: Wir leben im Jahr 2023 nach Christus.

 

Rund 3000 Jahre nach Homer, im Jahre 2005, formulierte der französische Philosoph André Glucksmann zur Dimension des Bösen in der Welt: „Der Hass ist eine fundamentale menschliche Gegebenheit, er nährt sich selbst, ohne notwendi-gerweise einen Grund zu brauchen. Für die Gläubigen ist er eine Frage der Erbsünde, für die Psychoanalytiker der Aus-bruch des Todestriebes – Eros und Thanatos, Liebe und Tod.“

 

Wir werden gleichzeitig im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts Zeugen sich verbreitender apokalyptischer „Ängste“. Sind sie vor diesem anthropologischen Hintergrund nicht geradezu natürlich? Die Erfinder von künstlicher Intelligenz (AI) warnen vor dieser Technologie als einer möglichen Massenvernichtungswaffe, Oppenheimer hat sich vergebens für die Begrenzung der Weiterverbreitung von Nukleartechnologie eingesetzt, und der Klimawandel stellt die Menschheit vor eine kaum lösbare Herausforderung ihrer kollektiven Selbstorganisationsfähigkeit über Grenzen und Nationen hinweg. Furor und Aufruhr werden also weitergehen, die Angst vor dem Weltuntergang nicht nachlassen.

 

Auflösung der Weltordnung

 

Zu dem Empfinden von der Bedrohung des Menschen durch den Menschen kommt die Erfahrung der Auflösung einer globalen Ordnung – oder dem, was wir für globale Ordnung halten wollten. Vom Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen und Institutionen der ökonomischen Governance wie der WTO gab es das verbreitete Gefühl, dass Foren der internationalen Verständigung und Regelhaftigkeit der Welt ein gewisses Maß an Verlässlichkeit verliehen. Und dem war ja auch durchaus so. Gerade Deutschland hat wohl mit am meisten davon profitiert, in der Nachkriegs- und Nachwende-zeit relativ ungehindert einem globalen Geschäftsmodell nachgehen zu können.

 

Unterschätzt wurde, dass diese Strukturen nicht ohne die stabilisierende Kraft eines Hegemons existieren konnten. Dieser Hegemon hat sicher nicht alles richtig gemacht, aber viele Jahrzehnte hinweg die Rolle einer Ordnungsmacht überwiegend wirkungsvoll gespielt. Nicht zuletzt der Nahe und Mittlere Osten waren Schauplätze beständiger diplo-matischer Initiativen der USA, um das Problem in Palästina zu lösen, und es konnten immer wieder Erfolge erzielt werden. Aber 9/11, die wachsende Unabhängigkeit vom Öl aus Nahost, der Aufstieg Chinas und der nachlassende Wille, die Kosten der Rolle als Weltpolizist zu tragen, führten sowohl zu einem desaströsen Krieg wie zu nahezu ebenso desaströsen Rückzugsentscheidungen der USA.

 

Die Konsequenzen sind heute weithin zu besichtigen. Der Angriff auf den Irak 2003 hat dem Iran den Weg zur domi-nanten Macht in der Region geebnet. Gleichzeitig hat er wie keine zweite Entscheidung der USA die Axt an die Grund-festen der internationalen Ordnung gelegt. 2008 war es schließlich die kollektive Unentschiedenheit des Westens, die den Aggressionswillen Russlands gegen die Ukraine und Georgien noch verstärkte, statt diesen an den Westen anschlusswilligen Ländern Schutz zu geben.

 

Auch die Statistik spricht eine deutliche Sprache. So schreibt das Peace Research Institute Oslo in einer gerade ver-öffentlichten Studie: „The number, intensity, and length of conflicts worldwide is at its highest level since before the end of the Cold War. The study found that there were 55 active conflicts in 2022, with the average one lasting about eight to 11 years, a substantial increase from the 33 active conflicts lasting an average of seven years a decade earlier.“

 

Demographie verstärkt die Tendenzen zu Dauerkonflikten. Die Mudschahedin vertrieben die Sowjetunion aus Afgha-nistan nicht nur wegen der amerikanischen Waffenunterstützung, sondern auch, weil sie den Russen stets neue Ge-nerationen an Kämpfern entgegenzusetzen hatten. Im Gaza hat sich die palästinensische Bevölkerung seit dem Ende der Besatzung durch Israel um mehrere Hundertausend erhöht.

 

Kriege und Demographie erhöhen den Druck auf den Westen ausgerechnet da, wo gerade Europa am verwundbarsten ist, bei der Migration. Absolut niemand in der arabischen Welt will die mehr als zwei Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen auch nur zu einem kleinen Teil bei sich aufnehmen. Wir wissen, was das für Europa bedeutet. War der Rückzug aus Afghanistan ein weiterer Brandbeschleuniger, ist die Rolle der US-Regierung unter Biden bei der Bewälti-gung dieser multiplen Krisen seit dem Angriff auf die Ukraine beeindruckend. Ein grundsätzlicher Wandel in der Rück-zugsdynamik der amerikanischen Politik zeigt sich jedoch nicht.

 

Wenn heute im amerikanischen Kongress über die US-Militärhilfe für die Ukraine und für Israel debattiert wird, dann entwickelt sich die wohl größte Schnittmenge zwischen zwei Gruppen, den sogenannten „restrainers“ – die wollen grundsätzlich Militärausgaben begrenzen – und den sogenannten „prioritisers“ – die wollen priorisieren. Beide Gruppen werden die Hilfe mindestens für die Ukraine reduzieren wollen, denn die prioritisers schauen nach Taiwan, und sie stützen sich auf den verbliebenen Rest politischen Konsenses in den USA, demgemäß China der eigentliche Gegner der USA ist. Ist es also im Falle der USA der Rückzug, der den Aufruhr begünstigt, so ist es im Falle Chinas der Aufstieg, der den Aufruhr hervorruft.

 

Globalisierung und Systemkonkurrenz

 

Lange war von Aufruhr nichts zu spüren, sieht man davon ab, dass mit der Integration in die Weltwirtschaft China die spektakulärste Wachstumsentwicklung der Menschheitsgeschichte hingelegt hat. Bill Clinton erklärte in einer emphati-schen Rede 2001 an der Harvard University die Aufnahme Chinas in die WTO zum nationalen Interesse der USA – eine „one way street“, wie Clinton unvorsichtigerweise sagte, zugunsten der amerikanischen Exportwirtschaft. „It will make you rich and China democratic“ – das war das Globalisierungsversprechen der amerikanischen Politik an die ameri-kanischen Bürger von Clinton bis in die erste Amtszeit von Obama.

 

Wir wissen alle, wie diese Geschichte ausging. Der von Trump entfachte Furor gegen die Globalisierung und gegen China evoziert ebenfalls das Bild von der one way street, aber in die andere Richtung, gegen amerikanische Interessen, und vor allem zu Lasten der amerikanischen Mittelklasse. In dieser Lesart nicht nur der Trump-, sondern auch der Biden-Administration ist die offene Handelspolitik einseitig zu Lasten der USA gegangen, und sie hat umgekehrt China in die Rolle des Systemrivalen der USA katapultiert. „Systemrivale“ hört sich etwas technisch an, ist aber in Wahrheit die Beschreibung für den Großkonflikt des internationalen Systems im 21. Jahrhundert.

 

Die Thukydides-Falle

 

Wir haben bei Homer angefangen, und wir machen bei Thukydides weiter. Eines der populärsten politikwissenschaft-lichen Bücher in den USA der letzten Jahre ist „Die Thukydides-Falle“ von Graham Allison. Historisch bezieht sich dieser Begriff auf den Konflikt zwischen dem dominierenden Sparta und der aufstrebenden Macht Athen. Und er stellt die Kernfrage: Ist der US-China-Konflikt so unausweichlich, dass er mit einer militärischen Eskalation enden muss?

 

Xi Jinping selber hat diesen Begriff aufgenommen und 2015 erklärt, es gebe keine Zwangsläufigkeit in der Konflikt-dynamik hin zu einer militärischen Eskalation. Die Frage ist, was das bedeutet. Denn Xis Bild von der „national rejuve-nation“ findet nach außen einen höchst expansiven Niederschlag sowohl in ökonomischer als auch in militärischer Hinsicht: Erklärtes Ziel ist es seit 2012 nicht nur, die Unabhängigkeit Chinas vom Westen zu erreichen, sondern gleich-zeitig umgekehrt ökonomisch den Westen von China abhängig zu machen. Dazu soll die Position des dominanten weltweiten Handelspartners, die China für den Westen inzwischen erreicht hat, umfassend eingesetzt werden.

 

Chinesische Drangsalierung

 

Auch militärstrategisch ist die Sachlage klar: China rüstet seit Jahrzehnten auf, um die USA aus dem Pazifik zu vertreiben und Taiwan in die Volksrepublik China zurückholen zu können. Von den Nachbarländern Chinas wird Unterwerfung erwartet. Zu wenig bekannt ist die Reaktion des seinerzeitigen chinesischen Außenministers auf einen Protest der Philippinen gegen die Verletzungen philippinischer Hoheitsgewässer: „Let’s see this: China is a big country, the Philippines are a small country.“

 

Der 17. September 2023 markiert den vorläufigen Höhepunkt chinesischer Drangsalierung gegen Taiwan mit sage und schreibe 104 Überflügen durch chinesische Militärflugzeuge und 40 Verletzungen der taiwanesischen Hoheitsgewässer an einem Tag! Sieht man von dieser Dramatik ab, vollzieht sich in dieser Region der Aufruhr schleichend. Von 2013 bis 2022 haben Indien und Australien ihre Militärausgaben um jeweils 47 Prozent gesteigert, Südkorea um 37 Prozent, China um 63 Prozent. Und auch hier hätten wir, wie in Osteuropa, früher auf die Nachbarn hören sollen, die den impe-rialen Zumutungen Russlands und Chinas schon seit über einem Jahrzehnt ausgesetzt sind.

 

Warum haben sich ausgerechnet das zum Pazifismus bekehrte Japan und das notorisch bündnisunwillige Indien schon 2007 mit Australien und den USA zur sogenannten „Quad“ zusammengeschlossen, dem „quadrilateral security dialogue“?

 

Kampf gegen den Westen

 

Aber was sich in Südostasien abspielt, ist schon lange nicht mehr nur ein Thema für Südostasien. 2002 hat US-Präsident George W. Bush die sogenannte „Achse des Bösen“ beschworen und damit Iran, Irak und Nordkorea angeklagt, Unter-stützer des globalen Terrorismus zu sein. Heute muss man sagen, es gibt diese Achse des Bösen, Russland gehört inzwischen dazu, und China bedient sich ihrer bis zur Grenze dessen, was nach dem diplomatischen Prinzip des „plausible denial“ noch nach außen hin bestritten werden kann.

 

So erleben wir eine neue globale Frontstellung. Die alten Industrieländer der G7 sehen sich einer von China orches-trierten globalen Staatenformation unter dem Begriff der „BRICS“ gegenüber, die ein entscheidendes verbindendes Element hat: der Kampf gegen die Dominanz der USA. Ihren harten Kern bilden Iran, Russland und China mit Nord-korea. Angesichts ihres fundamental revisionistischen Anspruchs ist der Vergleich mit den Achsenmächten der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts nicht ganz von der Hand zu weisen.

 

Während Iran und Russland brutalste konventionelle militärische Mittel einsetzen, ist China inzwischen eine Großmacht in Cyber-Kriegsführung. Diese richtet sich nicht nur auf die physische Infrastruktur des Westens. Vielmehr betätigt sich China in großem Stil bei der Herstellung der Diskurshoheit über vermeintliche Fakten und dominierende Narrative.

 

Subversive Medienstrategien

 

Die Strategie der Beeinflussung westlicher Diskurse dahinter folgt dem Prinzip der „force of politics“ statt der „politics of force“. Bei der Beeinflussung von Wahlen in Taiwan, in den USA, in Kanada und beim Brexit lassen sich die Effekte dieser Form subversiver Medienstrategien begutachten, wie sie auch von Russland praktiziert wird. Nach den UN-Abstim-mungen zur Ukraine haben viele westliche Beobachter den Schluss gezogen, die regelbasierte Weltordnung sei doch noch nicht am Ende. Sie übersahen, dass mit rund 60 Prozent der in den UN repräsentierten Weltbevölkerung die Mehrheit nicht auf westlicher Seite stand. Diese Mehrheit spiegelt sich nun in aller Brutalität im Ergebnis der Israel-Resolution vom 28.10.2023 wider, in der Hamas nicht einmal genannt wird.

 

Strategisch sind die Staaten dieser Achse China, Nordkorea, Russland und Iran keineswegs von gleichlautenden In-teressen getrieben. Aber vergleichbar sind sie in dem Ausmaß an Repression nach innen, dem Verfolgen imperialer Ideologien nach außen und der identitätsbildenden Gegnerschaft gegen den Westen, die USA und im Falle Irans gegen Israel, der sich jetzt übrigens Putin angeschlossen hat.

 

Anders als die Europäischen Länder mit der EU und die USA in der Nato haben diese Achsen-Staaten keine echten Bündnispartner. Aber sie vermögen es, die Gegnerschaft gegen den sogenannten Westen in weiten Teilen der Welt für sich zu nutzen. Der Kulminationspunkt ist nun die globale Reaktion auf das sich gegen den genozidalen Angriff der Hamas verteidigende Israel. Israel ist heute die ideale Folie für globale antikolonialistische Ideologie und nicht umsonst Ziel von über 100 UN-Resolutionen, während sich nur zehn gegen den Iran richteten und keine einzige gegen China.

 

Israel ist seit einigen Jahrzehnten mit einer kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftsordnung erfolgreich und verteidigt seit 1948 sein state building (tragischerweise auch mit Siedlungsbau in West-Jordanien) gegen eine arabische Nachbar-schaft, die im Gegenzug den Opferstatus der Palästinenser konserviert und gegen Israel instrumentalisiert.

 

Postkoloniale Theorie und imperialistische Narrative

 

In der heutigen sogenannten postkolonialen Theorie, die an westlichen Universitäten maßgeblich vorangetrieben wird, geht man davon aus, dass sich an den alten kolonialen Abhängigkeiten nichts geändert habe. Gemäß ihrer extremen Weiterentwicklung besteht nach der postkolonialen Theorie die Welt aus weißen, westlichen Tätern und nicht-weißen, nicht-westlichen Opfern, wie die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter es auf den Punkt bringt. Opferideologie existiert also weit über die islamische Welt hinaus, aber sie richtet sich jetzt mit voller globaler Wucht gegen das vermeintlich schlimmste kapitalistische Täterland. Manche der Staaten, die sich diese globale Frontstellung zunutze machen, sind ebenso wie China und Russland von imperialen Narrativen getrieben.

 

Nehmen wir die Türkei, die geopolitisch von der Kontrolle des sogenannten Mavi Hatan träumt, der blauen von den angrenzenden Meeren umgebenen osmanischen Türkei. Solche Narrative bilden einen entscheidenden Baustein bei der Entfaltung expansiver Ansprüche. Denn sie stiften Identität, und keineswegs ist es die Repression alleine, die heute die Regime in China, Russland und Iran am Leben hält. Joe Biden hat den Kampf der Demokratie gegen die Autokratie ausgerufen. Man kann das auch anders ausdrücken: Es kämpfen heute die Prinzipien Identität und Pluralität mit-einander.

 

In Indien zerbricht seit Jahren der Gründungskonsens einer Demokratie, die Hindus und Muslimen gleiche Rechte einräumt. In China wird bis zu Homosexuellen alles an Minderheiten verfolgt, was sich nicht in das Bild einer homogenen Mehrheitsgesellschaft fügt. Chauvinismus mit den beiden Bestandteilen von Frauenfeindlichkeit und Nationalismus sind dabei im Westen besonders anschlussfähig.

 

Unterversorgung mit Kampfgeist?

 

Die deutsche Soziologin Aleida Assmann hat in ihrem höchst lesenswerten Buch „Die Wiedererfindung der Nation“ diesen Zusammenhang um den Begriff „Thymos“ herum präzise herausgearbeitet. Und so kommen wir ein weiteres Mal zurück zu den Griechen. Thymos heißt so viel wie Kampfgeist, und beschäftigt seit einigen Jahren die politische Philo-sophie von Fukuyama bis Sloterdjik.

 

Die Frage ist dabei: Gibt es eine säkulare, aber menschengemäße Kraftquelle, die sinnstiftend wirkt? Peter Sloterdjik beklagt das „Quasi-Matriarchat“, und der AfD-Philosoph Jongen spricht von der „Entmännlichung unserer Gesellschaft“ als einer „thymotischen Unterversorgung“. Dieser „Unterversorgung“ helfe man ab durch Renationalisierung unserer Gesellschaft und einer Rehabilitierung von nationalem Stolz und Ehre.

 

Putin, Xi, Erdogan, Bolsonaro, Orban, Trump, Modi. Es ist kein Zufall, dass diese Staatsführer nicht nur alle auf ihre Weise Nationalisten sind, sondern auch den Männlichkeitskult als wesentlichen Bestandteil ihres politischen Charismas ins-zenieren. Und es ist kein Zufall, dass dies bei westlichen Nationalisten und den Philosophen der AfD räsoniert, die hier das eherne thymotische Prinzip am Werk sehen. Der Riss zwischen dem westlich-pluralen humanistischen Gesellschafts-modell und seinen globalen Gegnern verläuft also mitten durch unsere Gesellschaften.

 

Was ist zu tun?

 

Die liberalen Demokratien haben es in der Hand, das Blatt zu wenden, hieß es eingangs. Nur wie?

 

1. Nach wie vor sind die USA unser Schicksal. Dieses Schicksal zu akzeptieren und gleichzeitig vor Trump Angst zu haben, ist keine tragfähige Politik. Sich in Deutschland nicht einmal auf einen Bundessicherheitsrat einigen zu können, zeugt von einem eklatanten Mangel geopolitischen Gestaltungswillens. Europa braucht, im Bündnis mit den USA, sicherheits-politische Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit. Der wichtigste unmittelbare Beitrag zum burden sharing der Euro-päer ist nicht das 2-Prozent-Ziel. Es ist die Verteidigung der Ukraine und die militärische Niederlage Russlands.

 

2. Mit der Umdeutung von Geschichte und Gegenwart wird die Realität zur Beute unserer Gegner. Der Westen muss die Narrativ-Hoheit wieder herstellen und westliche Identität neu begründen. Die Aufgabe ist groß und reicht von der Go-vernance sozialer Medien über die Sicherung gesellschaftlicher und akademischer Freiheit bis zum globalen Engage-ment der Goethe-Institute.

 

Kann das gelingen? Zwei abschließende Hinweise, die uns optimistisch stimmen sollten: Wirtschaftlich betrachtet sind Iran, Nordkorea und Russland alles andere als Großmächte. Und China ist von dem Funktionieren der Weltwirtschaft nicht weniger abhängig als der Westen. Und: Dort, wo Menschen frei von Zwang und Indoktrination entscheiden können, wählen sie nicht das Martyrium, sondern die pursuit of happiness!

 

Martin Wiesmann ist Vorsitzender des Beirats der Denkfabrik R21 und Managing Partner bei Berlin Global Advisors -- Dieser

Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 14. November 2023 vor Kuratorium und Kreis der Schirnfreunde der Schirn Kunsthalle Frankfurt gehalten hat.

 

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