Kants Rechtslehre. Metaphysik der Sitten I.
Erster und Zweiter Teil: Privatrecht und Öffentliches Recht
Mo. 16-18 Uhr c.t., Philosophisches Seminar, Klibanský-Raum
Seit einigen Jahren gibt es wieder ein verstärktes Interesse der Kantforschung an Kants Rechtslehre. Dafür gibt es verschiedene Gründe: einige dieser Gründe liegen in der Beseitigung
alter Vorurteile gegenüber diesem kantischen Alterswerk, wie z.B. von Seiten Schopenhauers und Schleiermachers; andere liegen in der Erstellung von neuen textkritischen Ausgaben; wiederum andere
liegen in dem menschlichen Bedürfnis nach sittlicher Orientierung angesichts einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) in den modernen Informations- und Industriegesellschaften mit ihrer
beschleunigten Entwicklung von Wissenschaft und Technik; noch einmal andere liegen in dem neuen Interesse an der Genese und Geltung universaler Menschenrechte sowie des internationalen
Völkerrechtes angesichts einer Vielzahl von ungelösten politischen Problemen und wachsenden Herausforderungen.
Kants Rechtslehre (1797) ist das "Grundbuch" des Vernunftrechts als einer säkularen Nachfolgedisziplin des Naturrechts. Es behandelt die normativen Grundlagen, nach denen ein
rechtsstaatliches System des Rechts idealerweise gestaltet werden sollte, um gerechtes Recht anstelle von willkürlicher Gesetzgebung zu realisieren. Kants Rechtslehre hat zwei Teile: Der
erste Teil enthält seine Lehre von sog. Privatrecht, das den äußeren Besitz und Erwerb von Sachen sowie die Rechtsverhältnisse zwischen natürlichen Rechtspersonen (Eherecht, Elternrecht,
Hausrecht, Erbrecht, etc.) betrifft. Der zweite Teil enthält das öffentliche Recht, das den Übergang vom Naturrecht in den staatlichen Zustand, das Staatsrecht, das Völkerrecht und das
Weltbürgerrecht betrifft.
In diesem Seminar befassen wir uns mit der systematischen Durchführung von Kants Rechtslehre. Angesichts des historischen Abstandes fragen wir sowohl nach dem für uns Vertrauten und
Überzeugenden als auch nach dem für uns Fremden und Anstößigen seiner Rechtslehre. Diese Fragestellung provoziert die weiter führende Frage nach der Möglichkeit einer Weiterentwicklung von Kants
Rechtslehre anhand seiner allgemeinen Prinzipien der Sittlichkeit. Primär geht es uns dabei um historisch adäquates Verstehen, aber damit immer auch um die Möglichkeit der rechtsethischen Kritik
an bestehenden Rechtssystemen der Völker und Nationen.
Kant konzipiert das Recht seiner Idee nach als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen
vereinigt werden kann“. Kants freiheitstheoretischer Denkansatz scheint zwar prima facie der Sache des Rechtes angemessen, hat aber auch seinen Preis und seine blinden Flecken. Denn das
Recht erweist sich zwar der Idee nach als ein praktisches System der zweckmäßigen Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens von rechtsmündigen natürlichen Personen und moralischen
Rechtspersonen durch legitimierte Befugnisse zur wechselseitigen Einschränkung der Freiheit ihrer persönlichen Willkür durch die Ausübung von Zwang.
Kant hatte damals jedoch nur die freien und ökonomisch autarken Bürger im Sinn, aber noch nicht Frauen und Leibeigene. Aber unter gesellschaftlichen Realbedingungen gibt es immer auch Schwächere, wie z.B. Behinderte, Kinder, Kranke, Alte, Arme, Ausländer, Flüchtlinge, etc., die noch oder nicht mehr ökonomisch autarke Bürger sind, und deswegen auf solidarische Unterstützung durch ihre Angehörigen sowie durch andere Bürger und Behörden angewiesen sind. Außerdem müssen unter gesellschaftlichen Realbedingungen auch die natürliche Umwelt, die nationale Daseinsvorsorge, regionale Infrastrukturen sowie politische Institutionen rechtlich geschützt werden; evtl. z.B. auch gefährdete Tierarten, Naturschutzgebiete, Baudenkmäler, Kunstwerke und Kulturgüter von öffentlichem Interesse.
Kants Rechtsphilosophie gibt mit der Idee der gleichen Freiheit unter dem Gesetz zwar die leitende Idee einer säkularen Republik und eines modernen Rechtsstaates vor: "Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, sofern jemand nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung und Gesetze verstößt". Was der Theorie nach einleuchten mag, könnte sich unter gesellschaftlichen Realbedingungen von ökonomischen, sozialen und politischen Machtverhältnissen, jedoch als unbefriedigend erweisen. Denn in der konkreten Rechtspraxis geht es immer auch darum, auf die bestmögliche Art und Weise das geltende Recht durchzusetzen, präventiv wahrscheinliches Unrecht zu verhindern und retrospektiv erlittenes Unrecht auszugleichen. Die dazu nötigen Ressourcen und Chancen sind jedoch immer begrenzt. Außerdem können die Stärkeren nicht nur besser ihre Rechte und Interessen durchsetzen, sondern sie können manchmal auch willkürlich das geltende Recht beugen.
Kant formulierte mit seinem leitenden Prinzip der gleichen Freiheit unter dem Gesetz zwar eine der wichtigsten republikanischen Rechtsideen, die auch noch im modernen Rechtsstaat gelten sollten, aber es scheint kaum möglich, alle regulativen Rechtsideen irgendwie aus diesem einen Rechtsprinzip der gleichen Freiheit abzuleiten. Selbst das moralische Prinzip der allgemeinen Menschenwürde und das Grundrecht auf Leben reichen dafür nicht aus. Die rationalistische Idee einer deduktiven Ableitung aller regulativen Rechtsprinzipien aus einem einzigen axiomatischen Prinzip muss in der modernen Rechtsphilosophie aufgegeben werden. Die kantische Idee einer rechtsethischen Kritik des geltenden Rechts als legitimer Quelle von Rechtsreformen anhand von apriorischen Prinzipien ist jedoch gegen jeden Historismus, Naturalismus und Positivismus zu bewahren.
Textausgabe:
Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Neu herausgegeben von Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner 1986, ³ 2009.
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