Ferdinand Hodler, Sterbende
Gesundheit – hohes oder höchstes Gut? Über den Wert und Stellenwert der Gesundheit
Ulrich Diehl
in: H. A. Kick, (Hg.) Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit. Münster: LIT Verlag 2005, S. 113-135
Was kann ein Philosoph dazu beitragen, dass wir uns nicht nur ein adäquates Bild vom tatsächlichen Gesundheitswesen machen, sondern auch verstehen, wie in der Gesundheitspolitik ökonomische Rationalität dem übergeordneten Ziel der Realisierung humaner Verhältnisse dienen könnte? Wenn er kein weltfremder Utopist ist, dann wird er zunächst einmal anerkennen, dass die ökonomische Rationalität und die rechtsstaatliche Regulierung des Gesundheitswesens selbst schon notwendige Bedingungen für die Realisierung von Humanität sind. Denn humane Verhältnisse im Gesundheits-wesen sind unter den Realbedingungen von mehr oder weniger beschränkten Ressourcen immer schon eine normative Zielvorstellung, die mit Hilfe von moralischen, rechtlichen und politischen Konventionen und Institutionen den Interessenkonflikten und Verteilungskämpfen in der jeweiligen Gesellschaft abgetrotzt werden müssen. Sie ergeben sich nicht von selbst – weder aus der demokratischen Konsensbildung der Interessenkonflikte noch aus den Selbst-regulierungskräften des Marktes alleine. Das gilt insbesondere in Zeiten, wo der Staat aufgrund wirtschaftlicher Stagnation, fehlender Steuereinnahmen und verschuldeter Staatshaushalte nicht umhin kommt, unter anderen Ausgaben für innere und äußere Sicherheit, Verwaltung, Wissenschaft, Kultur und Bildung auch die Sozialausgaben zu reduzieren. So viel common sense steht auch einem Philosophen gut an.
Ökonomen mögen entweder im Anschluss an Adam Smiths klassische liberale Lehre von der „unsichtbaren Hand“ an eine emergente Selbstregulation des freien Marktes glauben oder sich eher im Anschluss an John Rawls Theorie der Gerechtigkeit an die „sichtbare Hand“ des Sozialstaates halten, weil die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit von allen wirtschaftspolitischen Maßnahmen verlangen, dass die weniger Privilegierten zumindest nicht benachteiligt werden dürfen. Juristen mögen entweder auf die rechtliche Autorität und legislative Wirksamkeit des Parlamentes im demo-kratischen Rechtsstaat vertrauen, wenn es darum geht, das Medizinrecht situationsgemäß zu reformieren und dabei verfassungsgemäß zu interpretieren oder sie mögen die rechtliche Autorität und legislative Wirksamkeit eher an Ethik-Kommissionen und rechtliche Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht delegieren. In allen Fällen gehen sowohl Ökonomen als auch Juristen immer schon von gewissen weltanschaulichen Glaubenssätzen und methodischen Grund-sätzen aus, die in ihren jeweiligen Disziplinen umstritten sind und stoßen mit ihren impliziten Axiomen auf normative Grundsatzfragen, die das involvierte Menschenbild, die ethischen Präferenzen und die rechtlichen Grundwerte be-treffen, die jedenfalls nicht alleine der demokratischen Konsensbildung anvertraut werden können, ohne substanziellen Schaden zu erleiden. Die obersten politischen Ideale und Rechtsprinzipien wie z.B. die Unantastbarkeit der Menschen-würde, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit und Gerechtigkeit, die Solidarität und ökologische Nachhaltigkeit sind für jeden positiven demokratischen Rechtstaat ideelle und normative Vorgaben, die bis zu einem gewissen Grad dem Prozess der demokratischen Willensbildung entzogen sind und sein müssen, um ihre überpositive Geltung aufrecht erhalten zu können. Insgesamt machen diese Vorgaben das aus, was wir unter der Realisierung humaner Verhältnisse verstehen.
Philosophen haben die Aufgabe, in den Bereichen der theoretischen und praktischen Grundsatzfragen, in denen alle Wissenschaftler - also nicht nur Ökonomen und Juristen, sondern auch Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaftler - zu philosophierenden Fachwissenschaftlern werden, semantische und begriffliche Klarheit zu schaffen und die grund-sätzlichen Sachverhalte und Wesensfragen phänomenologisch zu beschreiben, theoretisch zu erhellen und argumen-tativ zu begründen, sodass sie überzeugend geklärt und nach Möglichkeit entschieden werden können. Wo man sich über die tatsächliche Lage des Gesundheitswesens und über seine angestrebte Verbesserung im Rahmen ökonomi-scher Rationalität und normativer Humanität streitet, lohnt es sich zunächst einmal, nach dem Phänomen der mensch-lichen Gesundheit selbst zu fragen, um das es im Gesundheitswesen geht. Denn wenn irgendeine Reform des Gesund-heitswesens in Bezug auf dieses Phänomen von falschen Voraussetzungen ausgeht, können auch die besten Bemü-hungen um ökonomische Rationalität und normative Humanität nicht fruchten. Wie in der Medizin selbst hängen also alle unsere theoretischen und praktischen Bemühungen - sowohl um das salus publica wie auch um das salus privata - von einem phänomenologisch angemessenen Verständnis der menschlichen Gesundheit ab. Bei der Überprüfung und Verständigung über dieses Vorverständnis von menschlicher Gesundheit handelt es sich aber bereits um eine genuin philosophische Aufgabe. Deswegen können Philosophen durchaus etwas zur sozialethischen Debatte um das Gesund-heitswesen beitragen, das nicht nur alle Menschen und Bürger als potentielle Patienten angeht, sondern das auch alle Diskursteilnehmer voraussetzen müssen, sobald sie sich an dieser für unser alltägliches Leben so wichtigen Debatte beteiligen.
1. Gesund sein und krank werden
Wo von Gesundheit die Rede ist, bleiben Gespräche über Krankheiten nicht lange aus. So denken wir doch meistens erst daran, wie wichtig uns die Gesundheit ist, wenn wir selbst bereits krank sind. Oder wir begegnen anderen Menschen, die gerade erkrankt sind. So lange wir gesund sind, neigen wir dazu unsere Gesundheit für selbstverständlich zu halten. Erst wenn wir uns nicht wohl fühlen, merken wir, dass uns etwas fehlt. Dann spüren wir, dass etwas mit uns nicht stimmt. Da taucht aus dem andersartigen Dunkel des Leibes und aus der unauslotbaren Tiefe der Seele ein Unwohlsein, eine Schwäche, ein Schmerz, ein Schwindel oder eine Ohmacht auf. Etwas geschieht mit uns; etwas widerfährt uns. Wir sind nicht die unmittelbaren Urheber dieser Veränderung und können sie momentan auch beim besten Willen nicht ändern.
Das ist bei unseren bewussten Willenakten, wie z.B. bei willentlichen Urteilen, Entscheidungen und Handlungen, anders. Da können wir etwas steuern, entscheiden und ausführen. Wir heben unsere Hand, wir machen einen Schritt, wir bewegen uns in eine bestimmte Richtung. Wir denken und sagen etwas; wir sprechen mit jemandem. Auf diese Weise erleben wir uns selbst als wirkendes Zentrum und als Urheber unserer Überlegungen, Entscheidungen und Hand-lungen. Weiterhin können wir etwas bewirken und in Gang setzen, dessen Folgen wir wahrnehmen können. Wir können uns selbst als denkende, planende, entscheidende und handelnde Subjekte erleben. Und wir können dann auch andere Menschen als selbstbewusste, selbstständige und selbsttätige Personen anerkennen.
Durch unsere Verwirklichung als denkende, fühlende und handelnde Subjekte oder Personen kommen dann aber potentielle Qualitäten des Menschseins zum Ausdruck, durch die wir uns von anderen Lebewesen, wie z.B. von Pflanzen und Tieren weitgehend unterscheiden. Diese Qualitäten sind uns Menschen zwar nicht alleine von Natur aus gegeben; sie bedürfen immer schon gewisser sozialer und kultureller Bedingungen, um überhaupt realisiert und aktualisiert zu werden. Gleichwohl ist ein gewisses Mindestmaß an Gesundheit für den Menschen auch eine notwendige Bedingung für ein menschenwürdiges Leben. Wo dieses Mindestmaß etwa aufgrund von fehlender Hygiene, ärmlichen Lebens-verhältnissen, anhaltendem Hunger und ungestillten Durst deutlich unterschritten wird und erst recht dort, wo die Gesundheit von Menschen durch Krieg oder Terror, illegale Gewalt oder Ausbeutung auf übelste Art in Mitleidenschaft gezogen wird, raubt man den Menschen auch ein Stück ihrer unveräußerlichen Würde.
Weiterhin ist ein gewisses Maß an Gesundheit auch Voraussetzung dafür, dass Menschen ihre spezifisch menschlichen Fähigkeiten in den Wissenschaften, Religionen und Künsten sowie in Wirtschaft, Recht und Politik realisieren können. Dadurch wird ermöglicht, dass wir über ein bloßes Überleben hinaus dann zumindest auch ein eigenständiges und aktives oder gar ein produktives und schöpferisches Leben führen können. Unter den zahlreichen Lebewesen, die wir auf der Erde kennen, ist diese Möglichkeit der selbstbestimmten Lebensführung nur uns Menschen gegeben. Während sämtliche Tiere von ihren natürlichen Instinkten in von Natur aus festgelegten Verhaltensmustern getrieben werden, können wir Menschen grundsätzlich ein mehr oder weniger selbstbestimmtes Leben führen. Aber dazu bedarf es auf der einen Seite eines gewissen Vertrauens in die Möglichkeit der willentlichen Freiheit und der vernünftigen Selbst-bestimmung und auf der anderen Seite sozialer und politischer Verhältnisse die dieses Vertrauen unterstützen und begünstigen.
Ganz anders verhält es sich, wenn wir krank werden. Wenn wir erkranken, dann geschieht etwas mit uns. Wir fühlen uns müde und matt - oder gar elend. Leibliche Empfindungen treten auf, unangenehme Gefühle breiten sich aus, die Grund-stimmung ändert sich. Oftmals entdecken wir dann erst den besonderen Stellenwert der Gesundheit für unser Leben. Wir werden dann nämlich förmlich darauf gestoßen, welche ganz alltäglichen Fähigkeiten und gewöhnlichen Tätigkeiten von unserer Gesundheit abhängen. Wo unsere Gesundheit vorübergehend eingeschränkt wird, dauerhaft verletzt wird oder gar irreversiblen Schaden nimmt, schwindet in gewissen Graden auch unsere Fähigkeit, uns als selbstbewusste, selbstständige und selbsttätige Personen zu erleben und zu verwirklichen. Je nach der Art, der Dauer und dem Ausmaß unserer Erkrankung werden wir dann auch in unserer inneren und äußeren Freiheit als denkende, fühlende und handelnde Subjekte eingeschränkt. Insofern berührt es wesentliche Momente des menschlichen Daseins in der Welt, die notwendige Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben sind und zum Gelingen eines menschlichen Lebens beitragen können.
2. Der besondere Stellenwert der Gesundheit
In jungen Jahren hielten sich viele von uns praktisch für unsterblich. Wir nahmen es meistens für nahezu selbstverständ-lich, gesund zu sein. Insofern wir tatsächlich gesund waren, standen wir in der Fülle unserer Kraft und hatten noch überschüssige Kräfte zu verschwenden. Das ändert sich dann normalerweise im Laufe des Lebens. Leichtere und schwerere Krankheiten holen uns ein. Eigene Krankheitserfahrungen, aber auch die Krankheitsgeschichten von Angehörigen und Verwandten, Freunden und Kollegen belehren uns eines Anderen. Gesundheit scheint dann plötzlich das Wichtigste zu werden. An Geburts- und Feiertagen, wünschen wir uns gewöhnlich gegenseitig vor allem Gesund-heit, Glück in der Liebe, das Gelingen einer Ehe, Wohlergehen für die ganze Familie und beruflichen Erfolg. Oftmals heißt es dann: „vor allem Gesundheit!“ oder „Hauptsache gesund!“. Wichtiger als alles andere, was wir uns sonst noch wünschen, scheint dann vor allem die Gesundheit zu sein. Denn zumindest beruflicher Erfolg, wenn auch nicht alles andere, hängt doch in hohem Maße vom Erhalt der Gesundheit ab.
Was ich mit dem Stellenwert der Gesundheit meine, hat Schopenhauer einmal etwas überspitzt so ausgedrückt: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ (Schopenhauer, S. ...) Schopenhauer trifft einerseits einen wichtigen Punkt: Gesundheit ist nicht alles, wenn man es damit vergleicht, was für die meisten Menschen sonst noch alles wichtig und wertvoll ist. Für die meisten Menschen gibt es andere persönliche Objekte der Wertschätzung, wie z.B. Intelligenz, Sympathie, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Mut, Geschicklichkeit, Wissen, Kreativität, Bildung, etc.
Diese persönlichen Objekte der Wertschätzung erfreuen sich einer so hohen und allgemeinen Wertschätzung, dass wir sie jenseits alles ethischen Skeptizismus, Subjektivismus und Relativismus als „personale Güter“, also am Menschen haftende Güter, auffassen dürfen. Die epistemologische und ontologische Frage der Werttheorie, ob es sich bei der persönlichen Wertschätzung der Gesundheit und anderer personaler Güter nur um intersubjektiv zustimmungsfähige oder auch um objektiv erkennbare Güter handelt, können wir an dieser Stelle außer Acht lassen. Dafür mögen sich Philosophen interessieren. Der gesunde Menschenverstand kümmert sich gewöhnlich kaum um diese theoretische Frage der praktischen Philosophie.
Schopenhauer hat aber andererseits auch etwas übertrieben: Ohne Gesundheit ist sicherlich nicht alles andere nichts. Denn die allgemeine und hohe Wertschätzung aller dieser Güter bleibt von dem krankheitsbedingten Verlust der Mög-lichkeit einer persönlichen Teilhabe an einigen dieser Güter unberührt. Außerdem können zumindest bei leichteren Erkrankungen die meisten dieser Güter sowieso erhalten bleiben. Erst bei schweren und vor allem bei lebensbedroh-lichen Erkrankungen steigert sich dann aber die reale Gefahr eines tatsächlichen Verlustes dieser am Menschen anhaftenden personalen Güter. Der erkrankte Mensch mag es dann subjektiv so erleben, dass für ihn angesichts der faktischen Bedrohung des Wertverlustes dann auch „alles andere nichts ist“. Aber auch wenn der Verlust der an diesem Individuum haftenden Güter ganz und gar real ist, bleibt doch in Wirklichkeit die intersubjektive Wertschätzung bzw. die objektive Werthaftigkeit dieser Güter bestehen. Aber auch unabhängig von unserer persönlichen Wertschätzung dieser Güter schwinden hier oftmals faktische Ermöglichungsbedingungen zum Erhalt, zur Förderung und zur Steigerung personaler Güter. Die reale Möglichkeit des Verlustes dieser Ermöglichungsbedingungen anderer personaler Güter ist nun aber der entscheidende Punkt. Deswegen kommt der Gesundheit als funktionale Ermöglichungsbedingung unter allen menschlichen Gütern ein besonderer Stellenwert zu. Dieser besondere Stellenwert ist nun aber ein ganz und gar objektiver Sachverhalt, der unabhängig ist von der jeweiligen persönlichen Wertschätzung der Gesundheit. Und das hat Schopenhauer leider übersehen.
Schopenhauer hat aber anscheinend auch noch etwas Anderes übersehen: Die vorübergehende oder dauerhafte Einschränkung unserer Gesundheit eröffnet oftmals überhaupt erst den angemessenen Blick für viele andere wertvolle Güter des Lebens. Außerdem kann ein krankheitsbedingter Verlust der Realisierungschancen für einige Güter gerade angesichts der realen Bedrohung sogar die Einsicht in den hohen und höheren Wert dieser Güter steigern – sowohl beim Kranken selbst als auch bei seinen Angehörigen und Freunden. So gewinnen wir z.B. ein anderes Verhältnis zu unserer unaufhebbaren Vergangenheit und damit auch zu der uns wahrscheinlich noch bleibenden Lebenszeit mit ihren Entwürfen und Zielen in eine teilweise offenstehende Zukunft hinein. Oder wir erleben uns selbst ganz neu im Gefüge unserer mitmenschlichen Beziehungen, Aufgaben und Anforderungen und dabei entdecken wir auch an uns selbst und unseren Mitmenschen ganz neue Seiten. Wie der Tod selbst, dieser dunkle, bedrohliche und zwiespältige Begleiter des Lebens, können nämlich auch schwerere Erkrankungen Lehrmeister der Lebensklugheit und Lebenskunst sein. Gerade angesichts der realen Bedrohung alles dessen, was wir bisher irrtümlich für wertvoll und wichtig gehalten haben, geraten alle unsere Werte und Güter sub specie mortis auf einen philosophischen Prüfstand. Dadurch erhalten wir aber gerade die Chance, ein tieferes und zuverlässigeres Verständnis davon zu erlangen, was vor allem für uns selbst und vielleicht auch für andere Menschen wirklich wertvoll, richtig und gut ist.
Obwohl man den besonderen Stellenwert der Gesundheit unter allen personalen Gütern kaum bestreiten kann: Gesundheit ist nicht nur einfach als bloße Abwesenheit von Krankheit und physischem Leiden zu bestimmen. Schon bei Goethe wird sie vielmehr als Ganzheit und als Gleichgewicht verstanden: „Die sogenannte Gesundheit kann nur im Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte bestehen, wie das Aufheben derselben (also Krankheit) entsteht und besteht nur aus einem Vorwalten des einen über die andern.“ (Goethe, Bd. 22, S. 478) Deswegen ist die eigenverantwortliche Selbstsorge für die eigene Gesundheit in einigen Hinsichten auch einem Balanceakt ähnlich. Zwar laufen Balance-künstler ständig Gefahr, ihr Gleichgewicht zu verlieren und vom Drahtseil zu stürzen. Aber das bewusste und gekonnte Ausbalancieren der Kräfte mit Hilfe einer langen Stange erleichtert den schweren Gang zum Ziel. Und für den Notfall gibt es dann auch noch ein Netz, das die Abstürzenden auffängt und das Schlimmste verhindert.
Nicht umsonst spricht man heute auch gerne von einem „sozialen Netz“, wenn man die sozialstaatliche Grundsicherung im Gesundheitswesen meint. Insofern ist auch das Gesundheitswesen als wichtiges Teilsystem verschiedener Maß-nahmen zur sozialstaatlichen Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt der Bürger eigentlich nur als ein solidarisches Auffangnetz für den Notfall zu verstehen, das dann und erst dann in Kraft tritt, wenn sich die der Rechtssprechung zufolge mündigen und selbstverantwortlichen Bürger und Menschen nicht mehr selbst helfen können. Wo dieses Teilsystem hingegen zu einer gewohnheitsmäßigen sozialstaatlichen Entmündigung der Bürger führt, indem es sie wie unmündige Kinder zu versorgen versucht und vor allen unabwendbaren „Grenzsituationen“ (Jaspers), wie Leiden, Kampf, Zufall, Scheitern und Schuld sowie vor allen naturbedingten Gefährdungen des Lebens, wie Verletzungen, Krankheiten, Altern, Sterben und Tod bewahren will, verfehlt es seine ursprüngliche und eigentliche Aufgabe des humanen Beistandes in einer Notlage, aus der sich jemand nicht mehr aus eigener Kraft heraus helfen kann. Was einmal als ein besonderer Akt der Solidarität gemeinschaftlicher Gefahrenabwehr schwerer menschlicher Notlagen gemeint war, verkehrt sich dann nur allzu leicht in das Gegenteil einer egoistischen und unsolidarischen Ausbeutung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme aufgrund mangelnder Eigenverantwortung, aufgrund fehlender Tapferkeit angesichts der gewöhnlichen Härten des Leben, aufgrund einer hedonistischen Grundeinstellung der Persönlichkeit und aufgrund einer konsumorientierten Haltung, die sich allzu leichtfertig bei den Hilfsangeboten des Gesundheits-wesens bedient. Ein Gesundheitswesen darf aber nicht dazu dienen, die Unmündigkeit, Verweichlichung und sittliche Orientierungslosigkeit der Bürger und Menschen zu fördern. Es muss sich auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren, obwohl ein gewisses Maß an Missbrauch wie bei anderen Sozialleistungen immer auch in Kauf genommen werden muss.
Goethe hat die Gesundheit deswegen ganz zurecht nicht nur mit Ganzheit und Gleichgewicht, sondern auch mit Tugendhaftigkeit in Verbindung gebracht. Anders als eine günstige körperliche Konstitution und ein ausgeglichenes Temperament sind weder das eingehaltene Gleichgewicht noch der tugendhafte Lebenswandel angeborene Qualitäten. Beide sind mühsam erworbene Einstellungen und müssen stets auf Neue erkämpft und bewahrt werden. Während das dauerhafte Austarieren des inneren und äußeren Gleichgewichts eher eine Angelegenheit der Diätetik als der Ethik darstellt, handelt es sich bei der Tugendhaftigkeit durchaus um einen ethischen und moralischen Aspekt, der aber auf die diätetische Erhaltung der eigenen Gesundheit zurückwirkt. Im konkreten Lebensvollzug gehen diätetische und ethische Aspekte jedoch ineinander über: Jedenfalls gibt es immer auch ein berechtigtes Moment der Selbstverant-wortung für die eigene Gesundheit. Dabei handelt es sich aber immer nur um eine Mitverantwortung und niemals um eine volle und ausschließliche Verantwortung, denn als Menschen und damit als leibliche Lebewesen sind wir doch niemals Schöpfer unserer selbst.
Im West-östlichen Divan setzt Goethe dann sogar Tugend und Gesundheit gleich: „Was ist Tugend? Ein schöner Name für das einfachste Ding: Gesundheit!“ (Goethe, Bd. 4, 122) Dabei handelt es sich wieder um eine dichterische Freiheit, die kein aufgeklärter Arzt und kein besonnener Philosoph gutheißen kann. Denn es gibt viele leichte und schwere Erkrankungen von selbstverantwortlichen und weitgehend integren Menschen, die weder durch eine diätetisch nachlässige Lebensweise noch durch einen moralisch fragwürdigen Lebenswandel verursacht wurden. Wo solche Erkrankungen auftreten, können sie durchaus trotz einer aufmerksamen diätetischen Selbstsorge und trotz einer weitgehend moralischen Gesinnung in Erscheinung treten. Denn kein Mensch kann alle potentiellen Krankheits-ursachen kennen und kontrollieren: weder genetische Veranlagung, körperliche Konstitution und angeborenes Temperament noch Verhältnisse am Arbeitsplatz, Umwelteinflüsse und Nahrungsmittel, etc.
Die weit verbreitete und oftmals unbewusste Identifikation von Gesundheit und Tugend stimmt aber auch deswegen nicht, weil es immer auch Menschen gibt, die zu Opfern der unverantwortlichen und unmoralischen Machenschaften anderer Leute werden und deren Gesundheit dadurch ernsthaften Schaden erleidet. Deswegen gibt es auch leichte und schwere Krankheiten, die gerade selbstverantwortlichen und moralischen Menschen durch unverantwortliche und geradezu boshafte Zeitgenossen zugefügt werden. Während sich umgekehrt so mancher zwielichtige Charakter einer ziemlich robusten Gesundheit erfreut, scheint es zumindest in der sichtbaren Welt des Alltagslebens leider keine aus-gleichende Gerechtigkeit zu geben, die mit unsichtbarer Hand immer und überall für einen gerechten Ausgleich zwischen Tugend und Gesundheit sorgt. Was nach dem Tode „in einer anderen Welt“ ausgeglichen werden mag und zumindest vom moralischen Standpunkt aus ausgeglichen werden müsste, ist zwar nach Kant ein „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ (Kant, Bd. 4, S. 238), aber ansonsten eine reine Glaubenssache, für die es keinerlei empirischen oder philosophischen Beweise gibt, sondern nur die überlieferte Frömmigkeit und die biblischen Zeugnisse des Glaubens. Was nun aber die sichtbare Welt angeht, in der sich das wirkliche Leben vor dem Tode abspielt, fehlt hier der aufmerksame, einfühlsame und nüchterne Blick für das tragische Scheitern des Menschen, der wie Sokrates, Antigone oder Jesus nach der Realisierung des Guten in seiner Reinform strebt.
Nietzsche hat dann in einer anderen Hinsicht übertrieben, wenn er meinte: „Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes.“ In einem Punkte hat er recht: Es gibt auch eine gewisse Dialektik von Gesundheit und Krankheit: „Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.“ (Nietzsche, Bd. 3, S. 499) Nun mag es zwar auch diese „große Gesundheit“ geben, die es starken Naturen, anstrengungsbereiten Menschen und ausgeglichenen Geistern, wie z.B. auch Goethe erlaubt, im Laufe ihres Lebens viele leichte und auch einige schwerere Krankheiten zu ertragen, aber damit wird doch weder der subjektiv spürbare Unterschied von Gutgehen oder Schlechtgehen noch die objektiv feststellbare Differenz von Gesundheit oder Krankheit aufgehoben. Bei der „großen Gesundheit“ geht es eher um eine robuste körperliche Konstitution, um günstige Anlagen des Temperamentes und um förderliche Qualitäten des Charakters als gesundheits-fördernden Faktoren als um die subjektive Befindlichkeit oder den objektiven Status der Gesundheit.
3. Gesundheit als Ermöglichungsgrund der Lebensführung
Anders als alle anderen Lebewesen mit einer gewissen instinktiven technischen Intelligenz, wie z.B. Delphine oder Schimpansen, sind auf der Erde alleine wir Menschen aufgrund unserer angeborenen Instinktschwäche darauf angewiesen und aufgrund unserer qualitativ höherstufigen sprachlichen, kognitiven und reflektiven Intelligenz dazu in der Lage, unser ursprünglich nicht frei gewähltes Leben als ein Leben freier Wahlmöglichkeiten zu erkennen und es anhand gewisser Ausgangsbedingungen und in gewissen Grenzen auf die eine oder andere Weise zu führen. Hans-Georg Gadamer hat dieses anthropologische Urphänomen einmal in nicht zu übertreffender Weise so dargestellt: „Nun ist es in Wahrheit ein Urthema des Menschen, dass man sein Leben zu „führen“ und sich zu fragen hat, wie man es führen soll. Das gilt nicht nur für den europäischen, durch die Wissenschaft geprägten Menschen. Es ist ein Urthema, das selbst dort besteht, wo religiöse Riten und das Heilwissen die Gesundheitspflege bestimmen, die von gewissen Führungsfiguren und gesellschaftlichen Gruppen, wie zum Beispiel weisen Frauen oder Medizinmännern, beherrscht wird. Überall stellt sich da unvermeidlich die Frage, ob nicht die sich speichernde Erfahrung langsam zur Festigung und Entwicklung von Praktiken führt, die sich ehedem bewährt haben sollen und die sich in Geltung halten, auch wenn wir sie nicht mehr bewährt finden, und deren Wirkungsgründe wir jedenfalls überhaupt nicht kennen. Das hat gewiss in allen Frühzeiten das Leben der Menschheit bestimmt, und zwar nicht nur auf dem Gebiet von Gesundheit und Krank-heit. In den Lebensfragen von Gesundheit und Krankheit tritt nur die Grundspannung unserer durch die Wissenschaften gegründeten Zivilisation in besonderem Maße hervor.“ (Gadamer, S. 135)
Der besondere Stellenwert der Gesundheit für unser menschliches Leben und unsere menschliche Lebensführung liegt dann aber zunächst einmal darin, dass sie ein tragender Ermöglichungsgrund für die spezifisch menschliche Lebens-führung darstellt. Ein solcher Ermöglichungsgrund ist sie aber in einem doppelten Sinne: sowohl (a.) für alle persön-lichen Potentiale und Fähigkeiten, die für eine selbstbestimmte und menschenwürdige Lebensführung notwendig sind als auch (b.) für alle Lebenschancen, Werte und Güter, die durch eine selbstbestimmte und menschenwürdige Lebens-führung überhaupt erst realisiert werden können. Deswegen ist die Gesundheit nicht nur irgendein Gut unter vielen Gütern. Sie ist wie das hohe Gute des Lebens selbst eine Bedingung der Ermöglichung der Realisierung aller am Men-schen selbst anhaftenden sittlichen Güter.
Das aber ist keineswegs ein nebensächlicher oder gar unwichtiger Zusammenhang, wenn wir umgekehrt die Konse-quenzen der Einschränkung bzw. des Verlustes der Gesundheit bedenken: (a.) manche Fähigkeiten sind notwendige Voraussetzungen für die Berufsausübung oder zumindest eine Erwerbsarbeit, durch die erwachsene Menschen sich gewöhnlich ihren Lebensunterhalt verdienen und ihre finanzielle Selbstständigkeit sichern; (b.) da alle Menschen auf ein gewisses Maß an sozialer Anerkennung angewiesen sind, die zumindest in unserer Kultur nicht zuletzt auch durch berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeiten erworben werden, bringt eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die zur eingeschränkten Berufsunfähigkeit führt, auch einen Mangel an sozialer Anerkennung mit sich; (c.) einige Fähigkeiten sind notwendige Voraussetzung für familiäre, erzieherische und pflegerische Tätigkeiten, durch die vor allem Kinder, Kranke und Alte betroffen sind; (d.) andere Fähigkeiten sind schließlich auch notwendige Voraussetzung für schöpfe-rische und künstlerische Tätigkeiten, in denen sich Menschen mit entsprechenden Begabungen verwirklichen können. Insofern fehlen ernsthaft erkrankten Menschen nicht nur gewisse Chancen zur Berufsausübung oder Erwerbsarbeit und damit zum Lebensunterhalt, zur finanziellen Selbstständigkeit und sozialen Anerkennung und Selbstverwirklichung. Es leidet darunter auch das familiäre und soziale Umfeld, und nicht nur bei ärmeren Familien leiden dann auch ihre Kinder an einer angemessenen Schulbildung, Ausbildung und Bildung. Schließlich entstehen (e.) aus solchen sozialen Defiziten dann immer auch Tendenzen zu Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen sowie zu illegalen Kompensationen in Form von Drogenmissbrauch und Kriminalität.
Das alles scheinen Selbstverständlichkeiten zu sein, die kein Mensch mit gesundem Menschenverstand leugnen wird, der den besonderen Stellenwert der Gesundheit für das menschliche Leben vorurteilslos, nüchtern und ohne hinter-gründige Eigeninteressen betrachtet. Aber es sind dann keine Selbstverständlichkeiten mehr, wo der besondere Stellenwert der Gesundheit heruntergespielt wird, indem man darauf hinweist, dass Gesundheit zwar „ein hohes, aber nicht das höchste Gut sei“. Auch, wenn es durchaus richtig ist, dass Gesundheit nur ein hohes Gut, aber nicht das höchste Gut ist, kann diese These doch dazu missbraucht werden, den besonderen Stellenwert der Gesundheit unter allen Gütern zu verschleiern oder gar zu leugnen. Da das aber nicht den offensichtlichen Sachverhalten entspricht, liegt die Vermutung nahe, dass hier irgendwelche partikularen Interessen im Spiel sind, die gegenüber der vom gesunden Menschenverstand allgemein akzeptierten und berechtigten menschlichen Sorge für die leibliche, seelische und geistige Gesundheit ausgespielt werden sollen.
Nicht selten steckt dahinter aber auch eine fragwürdige Idealisierung des Leidens und eine Verharmlosung der sozialen Konsequenzen, die sich aus einer selbst- oder fremdverursachten Schädigung der Gesundheit ergeben. Denn auch wenn es ein durchaus berechtigtes und angemessenes Leiden für wertvolle, richtige und gute Ziele und Zwecke gibt und vor allem auch ein solidarisches Mitleiden mit anderen Menschen und schließlich kein anständiges und gutes Leben ohne Leiden, ist es doch immer die Frage, wer in einer bestimmten Situation wem, wann und wo ein zusätzliches Leiden abverlangt. Insbesondere wo es aber darum geht, den Anderen ein angemessenes oder gar unangemessenes Leiden zuzumuten anstatt selbst ein solidarisches Mitleiden für Andere auf sich zu nehmen, entscheidet sich, ob wir es mit einer unsolidarischen Unterdrückung der Anderen und Schwächeren oder mit einem solidarischem Mitleiden mit Anderen und Schwächeren zu tun haben. Das aber ist der richtige und wahre Kern jeder „Moralpredigt“, die sich ganz zurecht gegen eine allzu hedonistische Leidensvermeidung ausspricht. Das aber ist der wahre Kern jeder Weisheitslehre, die klar und deutlich ausspricht, dass das Leiden zu jedem menschlichen Leben dazu gehört. Denn in Wirklichkeit geht es bei der Forderung der Übernahme eines angemessenen Leidens immer (A.) um die Frage nach der tatsächlichen Angemessen-heit dieses Leidens und dann auch (B.) um die Frage nach der Gerechtigkeit in der Verteilung solcher Zumutungen. Schließlich geht es (C.) um die Wahrhaftigkeit dessen, der eine solche „Moralpredigt“ oder Weisheitslehre vertritt, denn es könnte ja sein, dass er ein Heuchler ist, der anderen Wasser predigt und selbst Wein trinkt.
Der Hinweis darauf, dass Gesundheit zwar „ein hohes, aber doch nicht das höchste Gut“ sei, sagt zwar eigentlich nichts Falsches, kann aber auch leicht, ideologisch und sophistisch missbraucht werden, wenn es nur darum geht, den wirklich Hilfsbedürftigen und sozial Schwächeren noch mehr Leidensbereitschaft abzuverlangen. Ideologisch ist dieser Hinweis, weil es sich eigentlich schon von selbst versteht und geradezu trivial (also auch wahr) ist, dass Gesundheit nicht „das höchste Gut“ sein kann. Das kann es schon alleine deswegen nicht sein, weil es nur ein Gut unter anderen ist und es viele andere „hohe Güter“ gibt, allen voran das menschliche Leben selbst. Aber schon bei diesem „hohen Gut“ zeigt sich, dass zwar nicht alle, wohl aber alle schwereren Erkrankungen sich zu einer massiven Bedrohung für das menschliche Leben selbst entwickeln können. Wer dann aber „das hohe Gut“ der Gesundheit in Frage stellt und seine zentralen Stellenwert für das gewöhnliche menschliche Leben in Frage stellt, der setzt dann auch indirekt den hohen Wert des menschlichen Lebens herab. Beim hohen Wert des Lebens gibt es aber kein anderes „hohes Gut“, das es ersetzen könnte, weswegen das menschliche Leben auch einen besonderen Status unter allen sozial anerkannten Werten und Rechtsgütern genießt.
Abgesehen davon gibt es dann auch noch einige andere sozial anerkannte Werte und Rechtsgüter, wie z.B. Frieden und Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und Solidarität, Zukunftsfähigkeit und ökologische Nach-haltigkeit, etc. Und es gibt dann auch noch sozial anerkannte ethische Einstellungen und Werte, wie z.B. Klugheit und Urteilskraft, Mut und Fairness, Mitte und Maß, Besonnenheit und Zuversicht, Freundschaft und Humor, etc., die alle in eine Bestimmung des höchsten Gutes eingehen müssten. Das schlechthin höchste Gut kann aber immer nur (a.) die rein apriorische Idee des vollkommenen Guten selbst oder (b.) der abstrakte Inbegriff aller realen Güter sein oder (c.) das utopische Ideal der Realisierung aller praktischen Güter für die gesamte Menschheit sein. Deswegen ist der Hinweis darauf, dass Gesundheit nicht das höchste Gut sei, eigentlich trivial.
Sophistisch aber wird dieser Hinweis darauf, dass Gesundheit nicht „das höchste Gut“ sei, wenn man damit den be-sonderen Stellenwert der menschlichen Gesundheit nicht mehr realisieren und akzeptieren will, sondern ihn aus irgendwelchen Motiven heraus herabzusetzen versucht. Man kann aber sehr wohl den tragenden Stellenwert der Gesundheit für das menschliche Leben erkennen und anerkennen, ohne die Gesundheit fälschlich zum höchsten Gut zu erklären. In diesem Zusammenhang taucht gelegentlich die rhetorische Figur eines argumentum ad misericordiam auf, also eine Mitleid erheischende Begründung. Man fragt dann etwa, was denn kranke, behinderte und alte Menschen empfinden und denken sollen, wenn der besondere Stellenwert der Gesundheit für das Leben öffentlich gepriesen wird. Nun ich denke, dass sie genau das empfinden und denken können, was alle Menschen empfinden und denken, die schon einmal ernsthaft erkrankt waren: Es ist schön und unbeschwerlich, aber auch unsicher und nicht immer von Dauer, jung und gesund zu sein und es ist ein großes Glück, wenn einem ein Leben ohne schwere angeborene Behinderung oder chronische Erkrankung geschenkt wird bzw. wenn es einem gelingt, ein solches weitgehend beschwerdefreies Leben aufrecht zu erhalten. Aber all das bedeutet ganz und gar nicht, dass ein Leben als behinderter Mensch oder ein Leben als chronisch erkrankter Mensch kein lebenswertes, sinnvolles und gutes Leben sein kann.
Wer der besonderen Wertschätzung der Gesundheit nicht zustimmen kann, scheint mir dann aber eher von einem hintergründigen Ressentiment gegen die dankbare Freude an der eigenen Gesundheit (und der seiner Mitmenschen) bewegt zu werden, die oftmals ein befristetes Vorrecht der Jugend ist. Denn auch das weithin akzeptierte „Loblied auf die Gesundheit“ des gesunden Menschenverstandes impliziert noch lange nicht, dass Gesundheit „das schlechthin höchste Gut“ darstellt. Allerdings wird damit dem besonderen Stellenwert der Gesundheit für die Realisierung zahl-reicher anderer menschlicher Werte und Güter Rechnung getragen. Das aber ist dann durchaus zutreffend und ange-messen, denn der besondere Stellenwert der Gesundheit für unser Leben ist keineswegs eine willkürliche Angelegenheit oder nur eine Frage persönlicher Präferenzen. Vielmehr ist er objektiv nachweisbar und hat ernsthafte Konsequenzen, die nach allgemeinem menschlichen Ermessen alles andere als wünschenswert sind, da fundamentale menschliche Grundbedürfnisse nach Erhaltung des Lebens, nach Realisierung von objektiven Lebenschancen, nach sozialer Aner-kennung, nach einem gewissen Maß an Selbstbestimmung für einen selbst und seine Angehörigen tangiert werden.
Bevor man den gesunden Menschenverstand eines ethischen Vorurteils, einer Überhöhung des Wertes der Gesundheit oder gar eines fragwürdigen „Gesundheitskultes“ bezichtigt, sollte man zuerst einmal ganz nüchtern den tragenden Stellenwert der Gesundheit zur Kenntnis nehmen. Falls das nicht hinreicht, könnte es durchaus sein, dass man selbst eher ein Anhänger eines pathologischen „Krankheitskultes“ ist. Denn erfahrungsgemäß gibt es beide seelisch-geistigen Verirrungen: einerseits einen vitalistischen Gesundheitskult aus einem seelischen und geistigen Mangel an höheren Werten und transpersonalen Sinnquellen sowie andererseits eine masochistische oder morbide Idealisierung des Kranken und Leidenden aufgrund einer fehlenden Wertschätzung des Lebendigen und einer dankbaren Ehrfurcht vor dem Leben.
Kein anderer hat diese Einsicht in die „Ehrfurcht vor dem Leben“ deutlicher untersucht, ausgesprochen und verteidigt als der Philosoph, Theologe und Arzt Albert Schweitzer: „Bejaht der Mensch seinen Willen zum Leben, so verfährt er in natürlicher und wahrhaftiger Weise. Er bestätigt eine bereits im instinktiven Denken vollzogene Tat, indem er sie im bewussten wiederholt. Anfang, stetig sich wiederholender Anfang des Denkens ist, dass der Mensch sein Sein nicht einfach als etwas Gegebenes hinnimmt, sondern es als etwas unergründlich Geheimnisvolles erlebt. Lebensbejahung ist die geistige Tat, in der er aufhört dahinzuleben und anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um es auf seinen wahren Wert zu bringen. Lebensbejahung ist Vertiefung, Verinnerlichung und Steigerung des Willens zum Leben. ... Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie seinem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen.“ (Schweitzer, S. 145/6)
4. Der Widerfahrnischarakter menschlicher Erkrankungen
Der Widerstand gegen das Ressentiment gegenüber der Ehrfurcht vor dem Leben führt dann unweigerlich auch zu einer Freude am leiblichen, seelischen und geistigen Wohlergehen der Menschen. Vor allem aber führt er dazu, dass die menschliche Gesundheit immer auch als schicksalhaftes Geschenk einer unergründlichen menschlichen Natur und eines unverfügbaren menschlichen Daseins in der Welt verstanden wird. Gadamer hat das die „Verborgenheit der Gesundheit“ genannt (Gadamer, S. 133 f.). Dadurch wird dann verhindert, dass die Gesundheit beim Menschen nur noch als fremdbestimmtes Resultat medizinischer und technischer Leistungen oder als selbstbestimmte Leistung eigener sorgfältiger diätetischer Bemühungen aufgefasst wird. Denn in Wirklichkeit ist menschliche Gesundheit immer schon beides: in einigen Hinsichten ein unergründliches Geschenk des Lebens und in anderen Hinsichten eine müh-selige Frucht alltäglicher Anstrengungen.
Deswegen ist es dann aber auch unzulässig, den Widerfahrnischarakter menschlicher Erkrankungen zu leugnen. Denn wenn wir erkranken, haben wir das normalerweise nicht willentlich herbeigeführt oder verursacht. Etwas widerfährt uns, das uns beeinträchtigt und in unangenehmer Weise betrifft. Was da auch immer mit uns geschieht, wir haben das normalerweise nicht gewollt. Was sich da abspielt, hat auch dann noch Widerfahrnischarakter, wenn wir irgendwie selbst dazu beigetragen haben, dass es so weit kommen musste, wie etwa durch schlechte Gewohnheiten, durch Leichtsinn oder durch Fehlentscheidungen. Das gilt selbstverständlich erst recht, wenn eine Erkrankung andere Ursachen hat, wie etwa genetische Mitgift oder angeborenes Temperament, familiäre Prägung oder soziale Herkunft, gegenwärtige Beziehungen oder Verhältnisse am Arbeitsplatz, Umweltverschmutzung oder Lebensmittelvergiftungen, etc.
Wer erst einmal krank ist, leidet an etwas. Er wird zu homo patiens, zum Patienten oder zur Patientin. Am Widerfahrnis-charakter menschlicher Krankheiten ist deswegen nicht zu rütteln. Die bewusste und eigennützige Selbstschädigung, wie z.B. die Selbstverstümmelung von Wehrpflichtigen oder Versicherungsbetrügern und das absichtliche Auslösen einer Erkrankung, wie bei Blaumachern und Drückebergern, sind Randerscheinungen und Ausnahmen. Ausnahme-charakter haben aber auch diejenigen Fälle, in denen Patienten unbewusst zu ihrer Erkrankung beigetragen haben, wo unbewusste Krankheitsmotive im Spiel sind oder sie sich aus unbewussten Motiven in eine Krankheit flüchten. Dabei handelt es sich um psycho-somatische Umstände, die zwar in bestimmten Situationen vorkommen können, aber nicht um generalisierbare Krankheitsursachen. Psychosomatische Erkrankungen bedürfen einer besonderen diagnostischen Aufmerksamkeit und einer speziellen therapeutischen Vorgehensweise. Solche psycho-somatischen Umstände der Erkrankung sind meistens nicht die einzigen bedingenden Ursachen eines faktischen Leidens, sondern nur mitbe-dingende Ursachen. Vor allem aber sind sie Teil des Leidens der Patienten an sich selbst und an der spezifischen Erkrankung.
Die Tatsache, dass jemand unter gewissen Umständen unbewusst agieren kann, macht ihn noch lange nicht zum „Agenten“ oder gar Urheber seiner Erkrankung. Diese besondere psycho-somatische Betrachtungsweise, die in bestimmten Fällen und einzelnen Situationen sicherlich ihre Berechtigung hat, darf nicht unbedacht auf alle gewöhn-lichen Erkrankungen ausgedehnt und übertragen werden. Die generelle Umdeutung von Patienten in Agenten, von leidenden in handelnde Menschen – und dann auch in Klienten oder Kunden – ist in der Medizin und Psychotherapie ebenso abwegig und unangemessen wie die ideologische Verkehrung von Tätern und Opfer in der Jurisprudenz. Sie schreibt den Patienten nicht vorhandene Fähigkeiten und Möglichkeiten zu und sie führt zu unangebrachten Schuld-zuweisungen. Gleichzeitig entlastet sie die Ärzte und Therapeuten von medizinethischen Fürsorgepflichten und von der psychischen Kraftanstrengung professioneller Sympathie. Karl Jaspers hat das treffend so auf den Punkt gebracht: „Krankheit wird zur Schuld. Was in begrenzten Bereichen ein möglicher Standpunkt gegenüber Krankheitserschei-nungen ist – in keinem Falle ein ärztlicher Standpunkt-; das wird mehr oder weniger deutlich auf alle Krankheiten ausgedehnt. Eine falsche und in ihren Folgen inhumane Philosophie verdirbt den Sinn und das Ethos ärztlichen Helfens.“ (Jaspers, S. 62)
So wie es eine unangemessene Psychologisierung von somatischen Erkrankungen in der Medizin gibt, so gibt es auch eine unzutreffende Spiritualisierung psychischer Störungen in der Psychiatrie und Psychosomatik, Psychotherapie und Esoterik. Auch wenn das Unbewusste hier zurecht einen ganz anderen und häufig sogar vorrangigen Stellenwert hat, besteht auch hier die Gefahr der voreiligen Unterstellung von Verhaltensgründen, die der selbstkritischen Beobachtung gar nicht zugänglich sind. Ungeduld, Vorurteile und Projektionen, narzisstische Selbstwertbedürfnisse, Machtbedürf-nisse und Interessen von Psychiatern und Psychotherapeuten können hier leicht in die Irre führen. In die Reihe möglicher Fehlerquellen in Diagnose und Therapie gehört auch die Spiritualisierung psychischer Störungen, in der bestimmte weltanschauliche Denkweisen, intellektuelle Überzeugungen und religiöse Vorstellungen vorschnell zu Krankheitsursachen erklärt werden. Darin kann eine Überschätzung der begrenzten Macht des Geistes und der Willenskraft gegenüber der Natur des eigenen Leibes sowie gegenüber den Affekten, Gefühlen und Empfindungen zum Ausdruck kommen, wie sie besonders in gewissen religiösen und esoterischen Kreisen gepflegt wird.
Wenn ich krank werde, bin ich es, der krank ist. Ich bin als ganzer Mensch mit Leib, Seele und Geist von meiner Er-krankung betroffen. Der physische Schmerz trübt meine Stimmung und bedrückt mich. Ich verliere meinen gewöhn-lichen Schwung und meine gute Laune. Meine Gedanken und meine Vorstellungen bekommen eine andere Färbung. Ich sehe schwarz, wo ich vorher zuversichtlicher war. Meine Hoffnungen und Erwartungen schwinden. Mein Leib, meine seelische Stimmung und mein Denken stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang, der sich kaum leugnen lässt. Da ist also nicht nur mein Körper, dem in der distanzierten und objektivierenden Betrachtungsweise der wissenschaftlichen Medizin von außen eine Funktionsstörung zugeschrieben wird. Da erlebe ich mich subjektiv und von innen auch als eine seltsame und geheimnisvolle Einheit von Leib, Seele und Geist.
Beide Betrachtungsweisen, die subjektive und die objektive Perspektive, schließen sich auch nicht gegenseitig aus. Es handelt sich nur um zwei verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Krankheitserscheinung. Wie auch immer wir das Verhältnis zwischen dem subjektiv erlebten Leib und dem objektiv erkennbaren Körper phänomenologisch zu bestimmen haben, gehören sie beide zum eigenen Selbst, zur Person des kranken Menschen. Der an Leib, Psyche oder Geist erkrankte Mensch wird durch sein Leiden nicht nur daran erinnert, wir sehr er von etwas Anderem und Fremdem, nämlich seinem Körper abhängig ist. Vielmehr wird er daran erinnert, wie sehr er als Mensch immer schon eine rätsel-hafte Einheit von Leib, Psyche und Geist ist.
5. Menschliche Gesundheit als bio-sozio-psychologisches Phänomen
Wenn jede Erkrankung eine Störung der alltäglichen Selbstverständlichkeit unseres ganzheitlichen Wohlbefindens, unserer Schaffenskraft und unserer Selbstbestimmung ist, dann scheint Gesundheit eine immer schon vorhandene „Lebensgrundlage“ zu sein, die den meisten Menschen von Natur aus weitgehend gegeben ist und die wir wegen ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit gewohnheitsmäßig als vorhanden und verlässlich voraussetzen. Dieser erste, alltäg-liche und gewohnheitsmäßige Anschein trügt jedoch bei näherem Hinsehen. Sobald wir erst einmal versuchen, die hochkomplexen funktionalen Zusammenhänge des menschlichen Organismus mit seinen verschiedenen lebens-erhaltenden und steuernden Systemen und Organen in seiner gesamten Gestalt zu verstehen, merken wir bald, dass seine Funktionstüchtigkeit alles andere als selbstverständlich ist. Sie ist zunächst einmal ein erstaunliches Wunderwerk der Natur, das wegen seiner hohen Komplexität selbst von ausgebildeten und kenntnisreichen Medizinern kaum noch als Ganzes überschaut, erklärt und verstanden werden kann.
Aus dem Gegensatz zwischen unserer unmittelbaren und persönlichen Selbsterfahrung als eine leib-seelisch-geistige Ganzheit und der distanzierenden und unpersönlichen Betrachtungsweise der professionellen Medizin, die für eine selbstkritische Hypothesenbildung, eine zutreffende Diagnose und eine erfolgreiche Therapie unverzichtbar ist, lassen sich zahlreiche Konflikte der modernen Humanmedizin und des zeitgenössischen Gesundheitswesens heraus verste-hen. Wer sich über den Wert und Stellenwert der Gesundheit Klarheit verschaffen will, muss diese anthropologischen Dichotomien verstehen, die sich in der zeitgenössischen Beziehung zwischen Ärzten und Patienten freilich noch zu-gespitzt haben.
Bei näherer Betrachtung unseres von innen erlebten Leibes im eigenen Krankheitsfall und unseres von außen beo-bachtbaren Körpers in der ärztlichen Diagnose und Therapie verflüchtigt sich der scheinbar so natürliche Anschein der Selbstverständlichkeit der Gesundheit. Gesundheit scheint dann in jedem Falle, ganz gleich, ob es sich um eine leichte oder gar schweren Erkrankung handelt, alles andere als selbstverständlich zu sein. Wenn nun aber unser subjektiv erlebter Leib und unser objektiv erforschbarer Körper eigentlich auf ein erstaunliches Wunderwerk der Natur hinweisen, das sich mit gewissen Einschränkungen studieren, mit verschiedenen Methoden erforschen und bis zu einem gewissen Grad als funktionales natürliches System erklären lässt, dann ist weitgehende Gesundheit - rein biologisch betrachtet - ein erstaunlicher Zustand unseres Organismus. Dieser Zustand des Organismus ist dann aber auch kein statisches Sein, kein vektorielles Gleichgewicht von mechanischen Kräfte, sondern ein lebendiges, sich selbst steuernder Zusammen-hang von Funktionen und Teilfunktionen, ein rhythmischer Wechsel von qualitativen Zuständen des ganzen Systems, wie es z.B. Wachen und Schlafen sind, oder von Teilsystemen, wie es z.B. Systole und Diastole, Einatmen und Ausatmen, Einnehmen und Ausscheiden, etc. Der organische Gesamtzustand der Gesundheit ist tatsächlich ein ständiges Werden und Vergehen, ein andauerndes Fließen von Kräften und Säften, ein andauerndes Auf und Ab der Ströme, ein lustvolles und Hin und Her der lebendigen Triebe, ein geheimes Einverständnis der verborgenen Kräfte des Ganzen.
Aber auch dieses Wunderwerk der Natur ist selbst schon beim neugeborenen Kind bis zu einem gewissen Grad sozial und kulturell beeinflusst. Der menschliche Zeugungsakt, die Befruchtung der menschlichen Eizelle, die menschliche Schwangerschaft und die Geburt eines Menschen sind allesamt keine rein natürlichen Ereignisse. Sie sind alle immer schon bis zu einem bestimmten Grad durch das kulturelle Umfeld, in dem sie statt finden und durch die Menschen, die sich in ihm verhalten und handeln, mitbedingt und mitbestimmt. Das entspricht dann auch der schon von Aristoteles vertretenen Auffassung, dass der Mensch seit jeher zoon politikon, ein soziales und politische Wesen ist – eine Auf-fassung, die übrigens auch Sokrates und Platon nicht fremd gewesen ist.
Was beim Kleinkind noch nicht unmittelbar offensichtlich ist, zeigt sich im Laufe der Jahre jedoch immer deutlicher. Je länger ein Mensch lebt, desto stärker und deutlicher werden die Spuren der kulturellen Prägung und geistigen Über-formung seines natürlichen Organismus. Wenn es aber keine von kulturellen und sozialen Einflüssen unberührte menschliche Natur mehr gibt, dann gibt es erst recht keine menschliche Gesundheit und keine menschliche Krankheit, die ein reines Naturereignis, bloß ein natürlicher Sachverhalt oder nur eine Sache der Biologie wäre. Gesundheit und Krankheit sind beim Menschen als sozialem und politischem Wesen immer schon kulturell mitbedingt und sozial mit-bestimmt. Sie sind immer schon soziale und kulturelle Phänomene. Denn es liegt nun einmal an der natur- und kultur-geschichtlich entstandenen Sonderstellung des Menschen in der irdischen Natur, die selbst noch in der für uns gegen-wärtig erreichbaren Weite des Universums einmalig ist, dass Menschen mit einer ganzen Reihe von Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet sind, die sie von allen anderen Lebewesen unterscheiden.
Die Überzeugung von der Sonderstellung des Menschen in der Natur sowie von der potentiellen Personalität und Würde des Menschen kann man jedenfalls auch dann aufrecht erhalten und verteidigen, wenn man als nüchterner Wissenschaftler oder kritischer Philosoph weder an die platonische Unsterblichkeit einer Geistseele noch an die christliche Auferstehung des ganzen Leibes, weder an einen personalen Gott noch an den biblischen Schöpfungs-mythos, weder an die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen vor dem Sündenfall noch an ihre Wieder-herstellung durch den Opfertod Jesu Christi glaubt. Dass das alles auch ohne solche platonischen, jüdischen und christlichen Glaubensvorstellungen möglich ist, hat uns kein Geringerer als Immanuel Kant gezeigt. Nach Kant ist die Würde des Menschen hauptsächlich und wesentlich in seiner Moralfähigkeit begründet. Dass Menschen tatsächlich zur tätigen Liebe und zur moralischen Anständigkeit gegenüber ihren Mitmenschen fähig sind, das macht ihre unaufheb-bare Würde aus und das zeichnet sie als besondere Lebewesen in der Natur aus. Deswegen kann und muss man nach Kant auch auf der Autonomie der Ethik bzw. Moralphilosophie gegenüber den Religionen und Konfessionen sowie ihren jeweiligen Theologien bestehen.
6. Menschliche Gesundheit als existenzielles und philosophisches Thema
Wenn ein Mensch erkrankt, ist das weder bloß ein Naturereignis noch ein rein biologisch erklärbarer Betriebsunfall des menschlichen Organismus. So können es nur Naturwissenschaftler aus der methodisch und ontologisch eingeschränk-ten Perspektive ihrer jeweiligen Einzelwissenschaft (Physik, Chemie, Biologie, etc.) auffassen. Wenn ein Mensch erkrankt, ist das immer auch schon ein soziales und kulturelles Phänomen. So werden es jedenfalls Sozialwissenschaftler aus der methodisch und ontologisch bestimmten Perspektive ihrer jeweiligen Sozialwissenschaft (Psychologie, Soziologie, Ethnologie, etc.) auffassen. Wenn ein Mensch krank wird, ist das aber auch nicht nur ein sozio-biologisches Phänomen in einer anonymen Gesellschaft, wie es dann etwa eine sozialwissenschaftlich aufgeklärte Medizin auffassen mag. Was für die medizinische Forschung und Theoriebildung noch ausreichen mag, genügt dann aber keineswegs für die lebendige Arzt-Patienten-Beziehung in der alltäglichen Praxis.
Wenn ein einzelner Mensch erkrankt, handelt es sich immer auch schon um ein individuelles und existenzielles Phäno-men ersten Ranges. Wenn eine Patientin ernsthaft krank wird, stehen für sie viele ihrer Lebensziele und Hoffnungen auf dem Spiel und manchmal bricht für sie eine Eigenwelt zusammen. Wenn hingegen ihr Freund oder ein Angehöriger, ihr Ehepartner oder ein Kind schwer krank wird, geht sie das ganz anders an, als wenn „andere Leute“ krank werden. Jede schwerere Erkrankung in unserer unmittelbaren Nähe betrifft uns in unserem eigenen möglichen Kranksein. Wir wer-den dadurch mit unserer eigenen möglichen Erkrankung, mit unserer eigenen menschlichen Hinfälligkeit und mit unserer unausweichlichen Sterblichkeit konfrontiert. Das gilt insbesondere dann, wenn die Krankheit das menschliche Leben als Ganzes bedroht oder gar mit aller Wahrscheinlichkeit zum Tode führt.
In der europäischen Philosophie gehört das Thema der Gesundheit aufgrund einer langen Tradition, die bis in die griechische Antike zurückreicht, zunächst einmal in den Bereich der philosophischen Anthropologie und Psychologie. Seit der klassischen antiken Ethik bei Sokrates, Platon und Aristoteles ist sie vor allem ein Thema der Individualethik, also derjenigen Disziplin der praktischen Philosophie, deren Ausgangspunkt die Frage nach einem gelingenden und guten Leben ist. Sobald nun aber die Ursachen für eine Erkrankung weder in der menschlichen Natur liegen, wie z.B. bei genetischer Mitgift oder unausweichlicher Alterung, noch Rückwirkungen eines offenkundig selbstverschuldeten Verhaltens sind, wie z.B. bei gewissen Fehlentscheidungen oder purem Leichtsinn, sondern im schädigenden Verhalten anderer Menschen zu finden sind, wie z.B. bei fremdverschuldeten Verkehrsunfällen oder riskanten Missständen am Arbeitsplatz, wird aus dem individualethischen Problem der Gesundheit dann auch ein moral- und rechtsphilosophi-sches Problem. Wo es schließlich möglich wäre, die Ursachen für eine außerordentliche Krankheitswelle, eine Epidemie oder eine Seuche politisch einzudämmen und wo die sozialen und politischen Bedingungen für die Erhaltung, Pflege und Wiederherstellung der Gesundheit der Bevölkerung politisch zu verantworten sind, wird das Thema Gesundheit dann auch zu einem Problem der politischen Philosophie.
Wie wir oben gesehen haben, müssen wir jedoch zwischen der persönlichen Wertschätzung, die wir der Gesundheit im Vergleich zu anderen Objekten der Wertschätzung zukommen lassen, und dem besonderen Stellenwert der Gesundheit für unsere Wertpräferenzen unterscheiden. Wenn jemand seine eigene Gesundheit vernachlässigt, ist das eine Folge seiner relativ geringen persönlichen Wertschätzung der Gesundheit. Da somatische, psychische und mentale Gesund-heit aber meistens eine notwendige Voraussetzung für die Ausübung bestimmter Tätigkeiten, für die Wahrnehmung bestimmter Lebenschancen sowie für die Realisierung bestimmter Lebensziele darstellt, dann handelt es sich um den Stellenwert der Gesundheit, der von der persönlichen Wertschätzung der Gesundheit und ihres Stellenwertes unab-hängig ist. Ein Beinbruch verhindert die Möglichkeit zu rennen, ganz gleich, wie wichtig das für den Betroffenen ist. Eine schwere Depression verhindert die Möglichkeit, sich zu freuen, ganz gleich, ob die Betroffene darauf großen Wert legt. Eine Schizophrenie verhindert die Möglichkeit, eine bestimmte berufliche Tätigkeit auszuüben, ganz gleich, ob die Betroffenen das wirklich bedauern.
Ein angemessenes Verständnis vom objektiven Stellenwert und von der allgemeinen Wertschätzung der Gesundheit setzt zuallererst ein zutreffendes Verständnis des lebensweltlichen Phänomens des Gesundseins voraus. Dazu ist es unerlässlich, Gesundsein im Zusammenhang mit anderen Gegebenheiten der condition humaine zu betrachten: Lebenszeit und Lebensalter, Leiden und Altern, Sterben und Tod. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das wir kennen, das zumindest unter günstigen Lebensbedingungen lernen kann, sich zu diesen Gegebenheiten auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Auch wenn diese Gegebenheiten durch seine menschliche Leiblichkeit und damit durch seine eigentümliche Teilhabe an der Natur bedingt sind, ist er ihnen damit nicht einfach nur schicksalhaft ausgeliefert. Vielmehr kann er sie gegebenenfalls als objektive Bedrohungen seines Lebens und seiner Gesundheit bekämpfen und, wo es angebracht ist, sie zulassen und sich fügen.
Der Stellenwert und die Wertschätzung der Gesundheit als „Lebensgrundlage“ der menschlichen Lebensführung kommt aber erst dann in den Blick, wenn sie zu anderen medizinethischen Prinzipien, wie z.B. denen der Patienten-autonomie und der Fürsorge, sowie zu allgemeinen ethischen Prinzipien, wie denen der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und der Solidarität in ein angemessenes Verhältnis gesetzt wird. Anders als der hohe Wert des menschlichen Lebens und anders als die allgemeine Menschenwürde ist die menschliche Gesundheit zwar ein hohes, aber nicht das „höchstes Gut“. Ein anthropologisch und ethisch angemessenes Verständnis der menschlichen Gesundheit wird immer schon vorausgesetzt, wenn man sich ein überzeugendes rechtliches Verständnis von menschlicher Gesundheit erarbeiten will und erst recht, wenn man sich auf gesundheitspolitische Prinzipien, Konzeptionen und Strategien einlassen will.
Bei der Abwägung von berechtigter Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit und angemessener Solidarität für das allgemeine und öffentliche Gesundheitswesen gilt es jedoch zu bedenken, dass beide Prinzipien immer schon in einem dialektischen Zusammenhang stehen. Denn einerseits ist ein gewisses Maß an Gesundheit eine notwendige Voraussetzung der potentiellen Selbstverantwortung, die in einem politischen Gemeinwesen mit einem öffentlichen Gesundheitswesen von allen Menschen und Bürgern erwartet wird und erwartet werden darf. Wer ernsthaft erkrankt ist, kann unter gewissen Umständen nicht mehr für sich selbst sorgen und in gewissen Fällen nicht einmal mehr selbst-verantwortlich agieren. Andererseits ist die Selbstverantwortung eine notwendige Voraussetzung der Gesundheit, denn ohne psychische Selbstsorge, gesunde Lebensführung und diätetisches Wissen und Können kann es keine menschliche Gesundheit geben. Die unreflektierte und ideologische Entgegensetzung von Eigenverantwortung versus Solidarität in der Gesundheitspolitik verkennt, dass es gerade solidarisch ist, sich selbst um seine eigene Gesundheit und die seiner Angehörigen zu kümmern. Damit wird nämlich das Gesundheitswesen entlastet. Umgekehrt ist es aber auch selbst-verantwortlich, sich für ein maßvolles solidarisches Gesundheitswesen einzusetzen, weil damit die Grundbedürfnisse der meisten Menschen im eigenen Lebensumfeld geschützt werden. Nur in einer Gesellschaft mit einem angemessen hohen Gesundheitsstandard gibt es eine angemessen hohe soziale Sicherheit und damit eine hohe wirtschaftliche Produktivität und damit eine hoffnungsvolle Zukunft für einen selbst und seine Angehörigen.
Medizinrecht und Gesundheitspolitik müssen sich im liberalen, sozialen und demokratischen Rechtsstaat mit einer verfassungsmäßigen Verpflichtung zur öffentlichen Wohlfahrt, ein möglichst adäquates Bild von der Lage des öffent-lichen Gesundheitswesens machen. Dazu bedienen sie sich in der Regel sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, die unter „öffentlicher Gesundheit“ den empirisch erfassbaren Gesundheitsstatus der Bevölkerung verstehen. Um diesen statistischen und probabilistischen Gesundheitsstatus zu ermitteln, ist es notwendig, zwischen (1.) dem rätselhaften lebensweltlichen und persönlichen Phänomen des Gesundseins und (2.) den wissenschaftlich erfassbaren, objektiven, allgemeinen und statistischen Realbedingungen menschlicher Gesundheit zu unterscheiden. Medizinrechtliche Ve-rfügungen und gesundheitspolitische Maßnahmen können nämlich niemals das persönliche Gesundsein vollständig intendieren und erfassen, da dieses selbst für den Arzt, der seine Patienten ziemlich gut kennt, immer noch viele un-erfassbare Momente und zahlreiche unbekannte Parameter enthält. Unter den erfassbaren Realbedingungen der Gesundheit wiederum muss man weiterhin unterscheiden zwischen (a.) den unmittelbaren Realbedingungen, die nach bestem laienhaften und wissenschaftlich verfügbaren Wissen für die Aufrechterhaltung und Beförderung menschlicher Gesundheit notwendig und hinreichend sind, und (b.) den mittelbaren Randbedingungen, die nach menschlichem Ermessen unter realpolitischen Verhältnissen ebenfalls kein Gegenstand medizinrechtlicher Verfügungen oder gesund-heitspolitischer Maßnahmen werden können.
Trotz ihrer ausschließlichen Konzentration auf den eruierbaren Gesundheitsstatus der Bevölkerung setzen Medizinrecht und Gesundheitspolitik auch als politische Instrumente der Aufrechterhaltung und Beförderung der durchschnittlichen Gesundheit der Bevölkerung immer schon ein den Realitäten angemessenes phänomenologisches Verständnis des menschlichen Gesundseins voraus. Als politische Instrumente zur Aufrechterhaltung und Beförderung der Gesundheit der Bevölkerung können und dürfen Medizinrecht und Gesundheitspolitik in liberalen, sozialen und demokratischen Rechtsstaaten und in pluralistischen Gesellschaften zwar keine besonderen weltanschaulichen, religiösen oder gar esoterischen Auffassungen über den Wert der Gesundheit voraussetzen oder begünstigen, dennoch müssen sie über ein zutreffendes Verständnis von der allgemeinen Wertschätzung der Gesundheit als Fundament der menschlichen Lebensführung verfügen. Auch wenn Medizinrecht und Gesundheitspolitik als politische Instrumente der Aufrech-terhaltung und Beförderung der Gesundheit der Bevölkerung primär auf einer verantwortungsethischen Einstellung und konsequentialistischen Güterabwägung basieren, setzen sie dabei unvermeidlich auch ein angemessenes wertethisches Verständnis vom objektiven Wert und Stellenwert der Gesundheit voraus.
Literatur
Fuchs, Th., Zeit-Diagnosen. Philosophisch-psychiatrische Essays, Zug (CH) 2002
Gadamer, H.-G., Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a.M. 1996
Goethe, J.W., Artemis-Gedenkausgabe der Werke, Hrsg. von E.Beutler, Zürich 1948
Jaspers, K., Der Arzt im technischen Zeitalter, München 1986
Kant, I., Insel-Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1964
Nietzsche, F., Werke, Hrsg. K.Schlechta, Frankfurt a.M. 1976
Schopenhauer, A., Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1974
Schweitzer, A., Aus meinem Leben und Denken, Hamburg 1952
ders., Selbstzeugnisse, München 1959
ders., Kultur und Ethik. Kulturphilosophie. Erster und zweiter Teil, München 1960.