Wahlen allein schaffen und sichern keine freiheitliche Grundordnung. Entscheidend ist der Rechtsstaat - und eine äußere Macht, die ihn schützt
Der Wahlsieg der militanten und bis dato außerparlamentarisch agierenden Hamas in den Palästinensergebieten erinnert uns daran, was die Demokratie
nicht leisten kann. Niemand in einem der etablierteren demokratischen Staaten ist überrascht, wenn die eigene Seite nicht gewinnt. Bei der Demokratie geht es um den Wettbewerb der Parteien, und
sofern sie keine "große Koalition" bilden, können nicht alle gewinnen. Was aber, wenn Wahlsieger nicht die Absicht haben, sich an die Regeln zu halten, die ein wesentlicher Bestandteil des
demokratischen Prozesses sind?
Man erinnere sich an Hitler, der sich, obgleich seine eigene Partei die absolute Mehrheit der Stimmen verfehlte, bei seiner "Machtergreifung" auf eine parlamentarische Mehrheit stützen
konnte. In jüngerer Zeit haben Wahlen in den postkommunistischen Ländern Europas Gruppen an die Macht gebracht, deren demokratische Verbundenheit, gelinde gesagt, zweifelhaft ist.
Dies ist nicht als Vergleich der Hamas mit irgendeiner dieser politischen Kräfte zu verstehen. Trotzdem muß man sich über eine siegreiche Bewegung Gedanken machen, bei der eine größere Zahl
der gewählten Abgeordneten in israelischen Gefängnissen sitzt, während andere kaum die Erlaubnis erhalten werden, in das Land einzureisen, in welchem sie gewählt wurden - so daß das neue
Parlament nicht ordnungsgemäß funktionieren kann.
All dies sagt drei Dinge über die Demokratie aus:
Erstens lösen Wahlen nur selten grundlegende Probleme. Insbesondere schaffen sie keine freiheitliche Grundordnung. Damit sie wirksam sein kann, muß einer Wahl ein umfassender Zeitraum der
Debatte und des Austauschs von Argumenten vorausgehen. Es müssen Thesen aufgestellt und angegriffen beziehungsweise verteidigt werden.
Vor allem erste Wahlen sind als Fundamente der Demokratie fast zwangsläufig von begrenztem Wert, da sie in einer emotional aufgeheizten Atmosphäre und überwiegend ohne substantielle Debatte
stattfinden. Sie sind eher eine Einladung, darzustellen, wer man ist und wohin man gehört, als ein Wettstreit wohldefinierter und umfassender politischer Programme.
Dies bedeutet zweitens, daß erste Wahlen, und vielleicht auch Wahlen im allgemeineren, selbst keine ausreichende Garantie der Freiheit darstellen. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger
Richter am Bundesverfassungsgericht, hat es in die berühmten Worte gefaßt, daß Demokratien die Bedingungen für ihr Überleben und ihren Erfolg nicht selbst hervorbringen können.
Was sind diese Bedingungen, und wer bringt sie hervor? Die Antwort auf die erste Frage lautet: die Rechtsstaatlichkeit. Es muß bestimmte politische Spielregeln geben, die für alle bindend
sind, so daß jeder, der diese nicht akzeptiert oder befolgt, von der politischen Teilhabe ausgeschlossen wird.
Dies ist freilich leichter gesagt als getan. Wer bestimmt die Spielregeln? Es steckt eine offensichtliche Logik dahinter, zunächst eine verfassunggebende Versammlung einzurufen und
anschließend die Wahlen gemäß den dort vereinbarten Regeln abzuhalten. So geschah es beispielsweise im Irak. Aber auch die verfassunggebende Versammlung muß gewählt werden, und diese Wahl
kann genau dieselben Schwierigkeiten aufwerfen, wie sie erste Parlamentswahlen in neuen Demokratien plagen.
Nachdem die Spielregeln festgelegt sind, bleibt noch immer die Frage, wer sie durchsetzt. Wer könnte der Hamas erklären, daß ihre Wahl, sofern die Hamas bestimmte Regeln nicht akzeptiert,
nichtig ist? Dies erfordert so etwas wie ein Verfassungsgericht sowie eine Justiz und Institutionen, die deren Urteile durchsetzen. In souveränen Staaten und Territorien ist es höchst
unwahrscheinlich, daß sich diese von selbst entwickeln. Es ist kein Zufall, daß der demokratische Prozeß sich dort am reibungslosesten fortentwickelt hat, wo eine äußere Macht vorhanden war,
die die Verfassung stützte.
Die dritte Lektion ergibt sich aus diesen Überlegungen. Das Vorhandensein einer Demokratie im Sinne freier Wahlen mit bestimmten Regeln gestattet es den übrigen von uns nicht, zu sagen, die
Sache der Freiheit habe gesiegt und wir könnten gehen. Im Gegenteil: Demokratie ist eine langfristige Aufgabe. Manche behaupten, sie wäre erst erreicht, wenn ein Land zwei friedliche
Regierungswechsel bewältigt habe ("two-turnover test"). Man muß dieses Kriterium um das Vorhandensein einer Debattenkultur ergänzen, die Wahlen zu einem echten Wettkampf unterschiedlicher
Antworten auf die anstehenden Probleme macht.
Für die Palästinensergebiete bedeutet dies, daß die Erwartungen der Menschen an die Wahlen vermutlich zu hoch waren. Eine Reduzierung der Erwartungen bedeutet entsprechend, daß die Bedeutung
der Ergebnisse nicht überbewertet werden sollte. Wer weiß? Vielleicht erweist sich das Wahlergebnis noch als ein Schritt hin zu einem effektiven Staat, der internationale Anerkennung
verdient. Bis dahin ist die Schlüsselaufgabe die Förderung der Rechtsstaatlichkeit, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.
Aus dem Englischen von Jan Neumann. Ralf Dahrendorf war Buchautor, ehemaliger deutscher EU-Kommissar, Mitglied des britischen Oberhauses und ehemaliger Leiter der London School of
Economics und des St. Antony's College in Oxford.
Weltweit diffamieren Autokraten und Populisten freiheitliche Werte. Was muss sich ändern, damit die Demokratie sich dagegen behaupten kann? Ein Essay von Moritz Döbler
Berlin, Der Tagesspiegel, 04.01.2019
Um die Demokratie zu retten bedarf es mehr als guter Intentionen und eindringlicher Appelle. Denn sie ist weltweit bedroht, und das zeigt sich am Ende des Jahres 2018 deutlich. Donald Trump,
Wladimir Putin, Viktor Orban oder Recep Tayyip Erdogan stellen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit infrage. In Frankreich rütteln die Gelbwesten an der politischen Legitimität der Regierung.
Auch in Deutschland macht sich ein Hass auf Eliten breit, besonders auch auf die gewählten Vertreter des Staates. Eine offen antiparlamentarische Partei stellt bereits die stärkste
Oppositionsfraktion im Bundestag und ist in allen Landesparlamenten vertreten.
Die Demokratie bröckelt in vielen Staaten. Vom Ende der Geschichte, das den Sieg dieses politischen Systems beinhaltet, ist längst keine Rede mehr. Denn es bringt auch offenkundige Pannen hervor.
Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ein Volk wie im Fall des Brexit eine demokratische Entscheidung trifft, die seinen eigenen Interessen völlig zuwiderläuft? Was soll man von einem
US-Präsidenten halten, der die Mehrheit der Stimmen knapp verfehlte, aber dank eines komplizierten Wahlrechts trotzdem an die Macht kam und nun demokratische Werte verächtlich macht?
Solche Phänomene lassen sich nicht als Kollateralschäden eines ansonsten funktionierenden Systems entschuldigen. Demokratien müssen lernen, sich zu reformieren – sonst gehen sie tatsächlich
unter. Ohnehin ist die geordnete Mehrheitsentscheidung historisch gesehen eine exotische Angelegenheit. In der 300.000-jährigen Geschichte des Menschen nimmt sie keinen breiten Raum ein. Selbst
wer nur die sogenannte Neuzeit der jüngsten 500 Jahre betrachtet, wird vielfältige politische Systeme finden, in denen Demokratie aber selten eine Rolle spielte. Wenn sie unterginge, bliebe sie
eine kurze Episode der Geschichte.
Viele Menschen empfinden sich nicht als "frei"
An Appellen, die Demokratie zu schützen, fehlt es nicht. Aber die Begründungen bleiben seltsam vage. Von Freiheit ist dann die Rede, aber viele Menschen empfinden sich nicht als frei, obwohl sie
in demokratischen Systemen leben. „Wir sind das Volk“, hieß es vor fast 30 Jahren auf Massendemonstrationen in der wenig später untergegangenen DDR. Die Losung galt als Ruf nach Freiheit und
Demokratie. Doch heute, da sich ein freiheitliches und demokratisches System an der Stelle des Staatssozialismus etabliert hat, ist es vielen Menschen auch nicht recht. Die Freiheit scheint ihnen
nicht ihre Freiheit zu sein – und so ihren Reiz verloren zu haben.
Im Westen Deutschlands stand die Überlegenheit – vor allem die moralische – der Demokratie nie infrage. Sie galt in ihrer bundesrepublikanischen Ausprägung als das Gute, als die quasi
evolutionäre Konsequenz aus der Herrschaft der Barbarei in den NS-Jahren. Und als wirtschaftliches System, das untrennbar mit der Demokratie verbunden sei, galt die Marktwirtschaft. Beide
Vorstellungen sind, aus heutiger Sicht betrachtet, mindestens naiv. Weder setzt Demokratie sich zwangsläufig durch, denn die Geschichte hat kein Ende, noch ist Marktwirtschaft nicht auch in
Verbindung mit anderen politischen Systemen denkbar. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in China.
Nach einer Konferenz mit dem Titel „Deutsch-Chinesischer Mediendialog“, zu der das Auswärtige Amt im vergangenen Jahr nach Peking eingeladen hatte, saßen die deutschen Journalisten, zu denen auch
der Autor dieses Essays zählte, verdattert beisammen. Mit im Raum standen die unausgesprochenen Fragen der chinesischen Gastgeber. Fragen wie: Welchen Nutzen hat denn eure Demokratie? Oder: Wie
schnell hättet ihr mit eurem politischen System wohl den Wohlstand geschaffen, der das heutige China prägt?
Worin liegt die Rendite der Demokratie?
Nun lässt sich mühelos umfassende Kritik am Modell China formulieren, angefangen bei der systematischen Verletzung der Menschenrechte, aber trotzdem sind diese Fragen mit dem Blick von außen auf
Deutschland und Europa und im Kontext der Geschichte legitim. Ganz unabhängig von China: Welchen Nutzen hat die Demokratie jenseits der gefühlten moralischen Überlegenheit? Oder, noch schärfer,
worin liegt ihre Rendite?
Schwerfällig ist sie auf jeden Fall. In der Theorie sollten demokratische Entscheidungen stets die besseren sein, weil hinter ihnen die Mehrheit im Sinne einer Schwarmintelligenz steht. Selbst
wenn vielleicht nicht sofort die richtige Richtung eingeschlagen wird, am Ende hat der Schwarm immer recht, das ist die Theorie. Aber die Praxis des Brexit spricht eine andere Sprache. Und auch
die Beweglichkeit, die im Bild des Fischschwarms zum Ausdruck kommt, zeigt sich in der Realität demokratischer Systeme kaum. So flink, geschlossen und klug, wie der im Meer Gefahren ausweicht,
präsentiert sich wohl keine einzige Demokratie auf der Welt.
Dass der deutsche Staat der gesetzlichen Rentenversicherung, die sich eigentlich aus den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern speisen soll, inzwischen pro Jahr fast 100 Milliarden Euro
aus Steuermitteln zuschießt, mag eine innere Logik haben, aber eine nachhaltige Alterssicherung für alle kann so nicht entstehen. Also bleibt es so verkorkst, wie es ist, weil es keine Mehrheiten
für eine Reform gibt. Vor nun schon zehn Jahren ging die Lehman-Bank in New York pleite, doch bis heute tut sich die Europäische Union schwer, die Folgen der globalen Finanzkrise gemeinschaftlich
zu lösen. Die quälende Langsamkeit, demokratisch legitimiert, bringt immer wieder neue, enorme Risiken hervor, vor allem für die südlichen, weniger wohlhabenden Staaten der Gemeinschaft. Dass der
Klimawandel die Menschheit bedroht, lässt sich nicht übersehen, aber die Effekte selbst der schärfsten Emissionsvorgaben in Europa greifen offensichtlich zu kurz.
Politiker, die sich an den vier oder fünf Jahren bis zum nächsten Wahltag orientieren, werden solche Themen nur selten mit der nötigen Vehemenz angehen wollen. Alterssicherung, Finanzkrise,
Klimawandel – drei Beispiele für das Unvermögen des demokratischen Systems, angemessene Antworten auf wirklich bedeutende Fragen zu finden. Vieles, was in Deutschland längst einer Erneuerung
bedürfte, bleibt im Gewirr des Föderalismus’ stecken. Weder das Bildungs- noch das Steuersystem sind zeitgemäß, doch wirksame Reformen sind nicht absehbar. Stattdessen werden komplizierte
Ausgleichsmechanismen gefunden, wenn es hakt, etwa über einen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern.
Im neuen Jahr jährt sich die Gründung der Bundesrepublik und das Inkrafttreten ihrer demokratischen Verfassung zum 70. Mal. Das gilt es zu feiern, keine Frage. Aber wenn man diesen Staat neu
erfinden müsste, wäre er ganz sicher nicht so aufgebaut, wie er sich heute präsentiert. Ähnlich ist es auf der Ebene der Europäischen Union. So sehr sie ohne jeden Zweifel eine historische und
nicht zu schmälernde Errungenschaft darstellt, mit der ein Kontinent Krieg und Verwüstung überwunden hat, so sehr hat sie sich auch in einen bürokratischen Moloch mit undurchsichtigen
Entscheidungsmechanismen entwickelt. Freiheit als Begründung für diese Ausprägungen demokratischer Systeme greift offensichtlich zu kurz.
Gerechtigkeit ließe sich zusätzlich anführen. Aber wer mit den Augen jener chinesischen Gesprächspartner auf Deutschland und Europa blickt, dürfte Zweifel empfinden. Die Schicksale der vielen
Menschen, die hier zu kurz kommen, ob nun Rentnerinnen der früheren DDR, arbeitslose Jugendliche in Spanien oder gar der zu Tausenden im europäischen Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge zeigen,
dass auch demokratische Systeme nicht zwingend für Gerechtigkeit sorgen, selbst dann nicht, wenn sie Milliarden für Transfer- und Hilfsleistungen mobilisieren. Geht es zum Beispiel in
Griechenland, einem demokratisch verfassten Mitgliedsland der Europäischen Union, wirklich überall gerechter zu als in China?
Die EU wäre mächtiger, wenn sie geeint wäre
Wenn aber die Demokratie keinen Effizienzgewinn bietet, wenn die Menschen am Wert der Freiheit zweifeln und sich Gerechtigkeit nicht hinreichend einstellt, ist die schwindende Bindungskraft
dieses Systems kein Wunder. Es wird nur dann nicht untergehen, wenn es den Wettbewerb mit anderen Formen der politischen Willensbildung gewinnt. Die Europäische Union wäre die größte
Volkswirtschaft der Erde, wenn sie politisch geeint wäre, und ihre Überlegenheit wäre offensichtlich. Als überlegen im Wettbewerb der Systeme kann die Demokratie auf Dauer nur sein, wenn sie
effizient organisiert ist und Wohlstand für alle produziert. Dann lässt sie sich legitimieren, dann hat sie gelenkten und autoritären Systemen nicht nur ihren Freiheitsbegriff voraus. Aber wie
reformieren sich demokratische Systeme, die in die Jahre gekommen sind? Wie überwindet etwa die Bundesrepublik Vorkehrungen, die den Vätern des Grundgesetzes vor 70 Jahren sinnvoll erschienen,
die aber im Wettbewerb der Systeme heute hinderlich geworden sind? Dass der Bundestag mit dem Bundesrat ein dezentral austariertes Gegengewicht haben sollte, mag richtig sein, aber über die
notwendige Zahl der Bundesländer und deren Zuständigkeiten sagt das noch nicht viel.
Nun lässt sich Vernunft nicht verordnen. Die Demokratie wird nur dann überleben, wenn sie sich auf ihre Stärke besinnt, nämlich die Kraft der kollektiven, mehrheitlichen Entscheidungen. Die
Menschen müssen ihre politische Teilhabe neu schätzen lernen und nicht nur auf die Kreuze reduzieren, die sie gelegentlich auf Wahlzetteln machen dürfen. Demokratie lebt vom Mitmachen; sie ist
kein System, das man erduldet. Parteien und Institutionen müssen sich öffnen.
So wie der Flügelschlag eines Schmetterlings das Wetter beeinflusst, kann eine öffentlich vorgetragene Meinung die Gesetzgebung verändern. Die 15-jährige schwedische Schülerin Greta Thunberg hat
das gerade gezeigt. Das Video von ihrer Rede bei der Uno-Klimakonferenz in Kattowitz ging um die Welt. Noch erstaunlicher ist die Vorgeschichte: Nach den vergangenen Sommerferien, als es auch in
Schweden ungewöhnlich heiß war, startete sie Schulstreiks, um für einen kompromisslosen Klimaschutz einzutreten. Binnen weniger Monate haben sich ihr Jugendliche in vielen Ländern angeschlossen.
Warum für die Zukunft lernen, wenn es keine Zukunft gibt? Mit dieser Frage hat Greta Thunberg die Interessen ihrer Generation auf die Tagesordnung der schwedischen Regierung und der Vereinten
Nationen gesetzt.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit dürfen nicht untergehen
Ohne das Internet wäre das nicht möglich gewesen. Bisher scheint es den Feinden der Demokratie besser zu gelingen, sich die Informationstechnologie zunutze zu machen, etwa in Russland, China und
den USA. Über soziale Medien lassen sie falsche Behauptungen massenhaft verbreiten, um Regierungen zu destabilisieren oder Wahlen zu beeinflussen. Die europäischen Institutionen halten
technologisch nicht Schritt. Das muss sich dringend ändern. Die gesamte Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert. Mit den Möglichkeiten eines weltumspannenden,
leistungsfähigen Datennetzes finden Angebot und Nachfrage auf neue Art zusammen.
Der Sinn der Demokratie in der Europäischen Union ist es, rund einer halben Milliarde Menschen ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und relativem Wohlstand zu ermöglichen. Die Deutschen sollten
sich berufen fühlen, dieses großartige politische System zu schützen. Dafür muss es in all seinen Ausprägungen – von der Kommune über Land und Bund bis zum Europaparlament, das in fünf Monaten
neu gewählt wird – effizienter werden. Denn die Demokratie steht in einem ständigen, an Fahrt zunehmenden inneren und äußeren Wettbewerb. Das geht jeden Stadtrat, jeden Abgeordneten, jeden
Minister und jede Ministerin etwas an. Wer von seinen demokratischen Rechten Gebrauch macht, muss nicht nur Sachfragen, sondern mehr denn je das politische System als Ganzes im Blick haben. Jede
demokratische Institution sollte sich ganz konkret fragen, wie sie effizienter und besser werden kann, welche Regeln sie dafür verändern muss und welche Technologien sie einsetzen sollte. Die
Demokratie muss sich besser organisieren, wenn sie überleben soll. Es wäre eine Katastrophe für die Menschheit, wenn ihre Feinde triumphierten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit dürfen nicht
untergehen.
Thesen gegen die Ausplünderung der Gesellschaft: "Kapitalismus braucht keine Demokratie"
Wahnsinn als Selbstverständlichkeit: Seit Jahren ist es offensichtlich, dass die Demokratie ruiniert wird und der Sozialstaat zerfällt. Privatisierte Gewinne und sozialisierte Verluste sind
zur Selbstverständlichkeit verkommen. 13 Gründe, sich selbst wieder ernst zu nehmen.
Ingo Schulze, Schriftsteller
Seit etwa drei Jahren habe ich keinen Artikel mehr geschrieben, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die
zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens,
des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die
offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von "Quote" oder "Format") und, und, und. . .
Die Intellektuellen schweigen. Aus den Universitäten hört man nichts, von den sogenannten Vordenkern nichts, hier und da gibt es einzelnes kurzes Aufflackern, dann wieder Dunkel. Ich kann nur den
Gemeinplatz wiederholen: Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert. Und ich wünschte, ich könnte Gegenbeispiele nennen.
Wenn man Tag für Tag den Wahnsinn als Selbstverständlichkeit aufgetischt bekommt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man sich selbst für krank und abnorm hält. Im Folgenden versuche ich, einige
Gedanken zusammenzufassen, die mir wichtig erscheinen:
1. Von einem Angriff auf die Demokratie zu sprechen, ist euphemistisch. Eine Situation, in der es der Minderheit einer Minderheit gestattet wird, es also legal ist, das Gemeinwohl der eigenen
Bereicherung wegen schwer zu schädigen, ist postdemokratisch. Schuld ist das Gemeinwesen selbst, weil es sich nicht gegen seine Ausplünderung schützt, weil es nicht in der Lage ist, Vertreter zu
wählen, die seine Interessen wahrnehmen.
2. Jeden Tag ist zu hören, die Regierungen müssten "die Märkte beruhigen" und "das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen". Mit Märkten sind vor allem die Börsen und Finanzmärkte gemeint, damit also
jene Akteure, die im eigenen Interesse oder im Auftrag anderer spekulieren, um möglichst viel Gewinn zu machen. Sind das nicht jene, die das Gemeinwesen um unvorstellbare Milliarden erleichtert
haben? Um deren Vertrauen sollen unsere obersten Volksvertreter ringen?
3. Wir empören uns zu Recht über Wladimir Putins Begriff der "gelenkten Demokratie". Warum musste Angela Merkel nicht zurücktreten, als sie von "marktkonformer Demokratie" sprach?
4. Der Kapitalismus braucht keine Demokratie, sondern stabile Verhältnisse. Dass funktionierende demokratische Strukturen eher als Gegenkraft und Bremse des Kapitalismus wirken können und so auch
wahrgenommen werden, machten die Reaktionen auf die angekündigte Volksabstimmung in Griechenland und deren baldige Rücknahme deutlich.
"Die Sprache der Politiker ist nicht mehr in der Lage, die Wirklichkeit zu erfassen"
5. Spätestens mit der Finanzkrise des Jahres 2008 glaubte ich, dass unser Gemeinwesen so viel Selbsterhaltungstrieb besitzt, dass es sich wirkungsvoll schützt. Das war nicht nur ein Irrtum. Diese
Hoffnung hat sich in ihr Gegenteil verkehrt.
6. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks gelangten einige Ideologien zu einer Hegemonie, die so unangefochten war, dass man sie schon als Selbstverständlichkeit empfand. Ein Beispiel wäre die
Privatisierung. Privatisierung wurde als etwas uneingeschränkt Positives angesehen. Alles, was nicht privatisiert wurde, was im Besitz des Gemeinwesens blieb und keinem privaten Gewinnstreben
unterworfen wurde, galt als ineffektiv und kundenunfreundlich. So entstand eine öffentliche Atmosphäre, die über kurz oder lang zur Selbstentmachtung des Gemeinwesens führen musste.
7. Eine weitere, zu enormer Blüte gelangte Ideologie ist jene des Wachstums: "Ohne Wachstum ist alles nichts", hatte die Kanzlerin schon vor Jahren dekretiert. Ohne über diese beiden Ideologien
zu reden, kann man auch nicht über die Euro-Krise reden.
8. Die Sprache der Politiker, die uns vertreten sollten, ist gar nicht mehr in der Lage, die Wirklichkeit zu erfassen (Ähnliches habe ich bereits in der DDR erlebt). Es ist eine Sprache der
Selbstgewissheit, die sich an keinem Gegenüber mehr überprüft und relativiert. Die Politik ist zu einem Vehikel verkommen, zu einem Blasebalg, um Wachstum anzufachen. Alles Heil wird vom Wachstum
erwartet, alles Handeln wird diesem Ziel untergeordnet. Der Bürger wird auf den Verbraucher reduziert. Wachstum an sich bedeutet gar nichts. Das gesellschaftliche Ideal wäre der Playboy, der in
möglichst kurzer Zeit möglichst viel verbraucht. Ein Krieg würde einen gewaltigen Wachstumsschub bewirken.
9. Die einfachen Fragen: "Wem nutzt das?", "Wer verdient daran?" sind unfein geworden. Sitzen wir nicht alle im selben Boot? Haben wir nicht alle dieselben Interessen? Wer daran zweifelt, ist ein
Klassenkämpfer. Die soziale und ökonomische Polarisation der Gesellschaft fand statt unter lautstarken Beschwörungen, dass wir alle die gleichen Interessen hätten. Es genügt ein Gang durch
Berlin. In den besseren Vierteln sind die wenigen unsanierten Häuser in aller Regel Schulen, Kindergärten, Altersheime, Ämter, Schwimmbäder oder Krankenhäuser. In den sogenannten Problembezirken
fallen die unsanierten öffentlichen Gebäude weniger auf, dort erkennt man die Armut an den Zahnlücken. Heute heißt es demagogisch: Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt, jeder ist doch
gierig.
"Niemand sollte sich darüber wundern, dass die Kassen leer sind"
10. Unser Gemeinwesen wurde und wird von den demokratisch gewählten Volksvertretern systematisch gegen die Wand gefahren, in dem es seiner Einnahmen beraubt wird. Der Spitzensteuersatz wurde in
Deutschland von der Schröder-Regierung von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt, die Unternehmensteuersätze (die Gewerbesteuer und die Körperschaftsteuer) wurden zwischen 1997 und 2009 fast
halbiert, nämlich von 57,5 Prozent auf 29,4 Prozent. Niemand sollte sich darüber wundern, dass die Kassen leer sind, obwohl sich doch unser Bruttoinlandsprodukt Jahr um Jahr erhöht.
11. Das Geld, das man den einen gibt, fehlt den anderen. Das Geld, das den Vermögenden dadurch bleibt, ist - glaubt man den Statistiken - nicht wie gewünscht in Investitionen geflossen, sondern
in lukrativere Finanzmarktgeschäfte. Andererseits werden sozialstaatliche Leistungen überall in Europa abgeschafft, um den Banken, die sich verspekuliert haben, Rettungspakete auszuhändigen. Die
"legitimatorischen Ressourcen der sozialen Demokratie werden (...) in dieser stupenden Umverteilung zu Gunsten der Reichen aufgezehrt" (Elmar Altvater, 2011).
12. Eine Geschichte: Was uns einst als Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschland verkauft wurde, wird uns jetzt als ein Gegensatz zwischen Ländern dargestellt. Im März stellte ich in Porto in
Portugal ein übersetztes Buch von mir vor. Eine Frage aus dem Publikum ließ die gesamte freundlich-interessierte Atmosphäre von einem Moment auf den anderen kippen. Plötzlich waren wir nur noch
Deutsche und Portugiesen, die sich feindlich gegenübersaßen.
Die Frage war unschön - ob wir, gemeint war ich, ein Deutscher, nicht jetzt mit dem Euro das schafften, was wir damals mit unseren Panzern nicht geschafft hätten. Niemand aus dem Publikum
widersprach. Und ich reagierte - schlimm genug - plötzlich wie gewünscht, nämlich als Deutscher: Es werde ja niemand gezwungen, einen Mercedes zu kaufen, sagte ich beleidigt, und sie sollten froh
sein, wenn sie Kredite bekämen, die billiger wären als Privatkredite. Ich hörte förmlich das Zeitungspapier zwischen meinen Lippen rascheln.
In dem Getöse, das meiner Entgegnung folgte, kam ich endlich zu Verstand. Und da ich das Mikrofon in der Hand hatte, stammelte ich in meinem unvollkommenen Englisch, dass ich genau so dämlich wie
sie reagiert hätte, dass wir allesamt in dieselbe Falle gingen, wenn wir als Portugiesen und Deutsche wie beim Fußballspiel reflexartig Partei ergriffen für die eigenen Farben. Als ginge es jetzt
um Deutsche und Portugiesen und nicht um oben und unten, also um jene, die in Portugal wie in Deutschland diese Situation herbeigeführt und an ihr verdient hätten und nun weiter verdienten?
13. Demokratie wäre, wenn die Politik durch Steuern, Gesetze und Kontrollen in die bestehende Wirtschaftsstruktur eingriffe und die Akteure an den Märkten, vor allem an den Finanzmärkten, in
Bahnen zwänge, die mit den Interessen des Gemeinwesens vereinbar sind. Es geht um die einfachen Fragen: Wem nutzt es? Wer verdient daran? Ist das gut für unser Gemeinwesen? Letztlich wäre es die
Frage: Was wollen wir für eine Gesellschaft? Das wäre für mich Demokratie.
An dieser Stelle breche ich ab. Ich würde Ihnen noch gern von den anderen erzählen, von einem Professor, der sagte, er stehe wieder auf den Positionen, mit denen er als Fünfzehnjähriger die Welt
gesehen hat, von einer Studie der ETH Zürich, die die Verflechtungen der Konzerne untersucht hat und auf eine Zahl von 147 kam, 147 Konzerne, die die Welt aufgeteilt haben, die fünfzig
mächtigsten davon Banken und Versicherer (mit Ausnahme einer Erdölgesellschaft), ich würde noch gern erzählen, dass es darauf ankommt, sich selbst wieder ernst zu nehmen und Gleichgesinnte zu
finden, weil man eine andere Sprache nicht allein sprechen kann. Und davon, dass ich wieder Lust bekam, den Mund aufzumachen.
Der Autor, 1962 in Dresden geboren, ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Essayband "Orangen und Engel. Italienische Skizzen" (Berlin Verlag, Berlin 2010).
Warum der Bekenntniszwang unserer Demokratie schadet
Alexander Kissler im CICERO ONLINE am 27. Dezember 2019
Auch zwischen den Jahren wirkt die Gesellschaft polarisiert. Statt miteinander zu diskutieren, bekämpfen wir einander und fordern eindeutige Standpunkte voneinander ein. Doch Demokratie
braucht mehr als ein Entweder-Oder:
Nun sind sie da, die seltsamsten Tage des Jahres. Sie umfassen nicht einmal eine ganze Woche, diese Tage vom 27. bis 31. Dezember, doch man gab ihnen einen besonderen Namen. „Zwischen den Jahren“
heißt diese Episode, und das stimmt und stimmt zugleich nicht. Das alte Jahr ist nicht vergangen, das neue nicht angebrochen. Der Kalender kennt keine solche Zeit dazwischen, für ihn gibt es
immer nur ein Entweder-Oder, ein 2019 oder ein 2020, ein Jetzt oder ein Künftig. Jeder Kalender ist humorlos, phantasielos, unrettbar analog. Diese seltsamen Tage sprechen uns einen
antikalendarischen Mut zu, wie er vielleicht nie nötiger war. Sie sagen uns: Wage es, nicht sofort Partei zu ergreifen. Gönne dir den Luxus des zweiten Gedankens. Vielleicht sogar des dritten,
vierten, fünften. Sei deine eigene Partei.
Dazwischen steht der Unentschlossene, und Unentschiedenheit ist verpönt. Bei allen Debatten, die uns momentan umtreiben, gilt der alte DDR-Slogan, „Sag mir, wo du stehst.“ Gefragt ist das
Sofortbekenntnis, das Einreihen in die richtige Kohorte an der Meinungsfront. Wir debattieren nicht, wir fragen Standpunkte ab. Wir streiten nicht, wir zeigen uns unsere weltanschaulichen
Vereinsabzeichen. Wir widersprechen nicht, wir verdammen. Wir argumentieren nicht, wir preisen uns. Wer nur Interesse zeigt, sich also im Wortsinn dazwischen befindet, gilt als unsicherer
Kantonist. Wer fragen will, bevor er einer Antwort zustimmt, muss sich den Vorwurf des Defätismus gefallen lassen. Optimismus ist zur Bürgerpflicht geworden und meint Einverstandensein mit der
Regierungslinie. Oder einer anderen politischen Großerzählung.
Dogmatisierung statt Differenzierung
Nehmen wir die beiden Megathemen Migration und Klima. Handtuchschmal ist da der argumentative Zwischenraum geworden. Dieselbe Epoche, die im Namen der Differenz antrat und in der Dogmatisierung
von Vielfalt zu enden droht, diese westliche Moderne, schätzt theoretisch, was sie praktisch ablehnt: das Abwägen, das Zögern, die Eigensinnigkeit. Wer in der Flüchtlingspolitik auf einem
nationalstaatlichen Vorbehalt beharrt, wer das Gemeinwohl aufruft und nach sozialen Folgekosten fragt, der wird mit dem Vorwurf konfrontiert, er wolle Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Wer
vom Leid fremder Menschen berührt wird und auf praktische Anteilnahme drängt, der kann in den Ruch geraten, das Land islamisieren und einen „Bevölkerungsaustausch“ vorantreiben zu wollen. Auf
beiden Pfaden verdummen wir intellektuell und verrohen wir seelisch.
Noch unredlicher verläuft das Ping-Pong-Spiel von Stolz und Vorurteil in der Klimadebatte, die deshalb nur in Aus-nahmefällen eine Debatte ist. Die einen sagen, die Welt sterbe, der Planet Erde
brenne, es sei eigentlich alles schon zu spät, weshalb drastischste Sofortmaßnahmen alternativlos seien. Der „Jugendrat der Generationenstiftung“ fordert ein sofortiges „Verbot von Inlandsflügen
und Kurzstreckenflügen bis 1000 km“ und ein Tempolimit von 30 km/h in allen Städten. Wer diesen oder vergleichbaren Forderungen nicht zustimmt, habe die Erde auf dem Gewissen, sei also böse, ein
Mörder. Von der klimapolitisch gegenüberliegenden Seite heißt es, der Mensch habe keinen oder einen derart geringen Einfluss auf das Klima, dass wir an unserem Umgang mit den natürlichen
Ressourcen gar nichts ändern müssten. Auch hier gilt: Ein Königreich für eine Atempause, ein Ausscheren, ein Nachdenken.
Die Kunst des Eigensinns
Natürlich: Sich einen schlanken Fuß machen, wenn Entscheidungen gefragt sind, kann feige sein und dumm. Das endlose Räsonieren, die ewige Ironie taugen nicht zum Ideal. Wer nie Position bezieht,
schenkt der Unvernunft billige Triumphe. Aber genauso wahr ist: In Reih und Glied stirbt alle Freiheit. In den Zwischenräumen wächst das Leben, in Brüchen gedeiht Kunst, im Unverfugten und darum
Unverfügbaren keimt Erkenntnis.
Wer mag, kann diesen Zusammenhang mit den Worten Jorge Luis Borges' ins Metaphysische wenden: „Die Zukunft ist unvermeidlich, präzise; aber es mag sein, dass sie nicht zustande kommt. Gott lauert
in den Intervallen.“ Wir sollten die Kunst des Eigensinns und der Nachdenklichkeit wieder erlernen – nicht nur zwischen den Jahren.