Wokeness - Ideologie und Bewegung

 

Was sehen Sie?

 

Nur Farbstifte mit vielen verschiedenen Farben? Oder auch Farbstifte ungefähr gleicher Form. d.h. mit gleichem Durch-messer, gleicher Anzahl von Flächen und Kanten, gleicher Länge und dem gleichen Verhältnis von Mine und Holz? Es handelt sich übrigens um 22 gleiche Farbstifte mit 22 verschiedenen Farbtönen in ein- und derselben 6-eckigen Form. Aber manchmal sehen Menschen nur das, was sie sehen wollen und nicht das, was wirklich da ist und was man alles sehen kann, wenn man nur dafür offen ist, sinnlich und geistig.

 

Dass Menschen in vielen Hinsichten verschieden sind, ist selbstverständlich und trivial. Aber Menschen sind immer auch in verschiedenen Hinsichten gleich. Z. B. in Bezug auf ihr Geschlecht, ihre Herkunft, ihre Muttersprache, ihre sexuellen Präferenzen, ihren Geschmack, ihre Hobbies, etc.

 

Die Anhänger der postmodernen Anti-Moderne sehen aber nur das Verschiedene, weil sie nur Verschiedenheiten sehen wollen. Sie folgen einer anti-modernen Zeitgeistmode und begeistern sich für individuelle Differenzen, haben aber Angst vor Ähnlichkeiten, Gleichheiten und Gemeinsamkeiten. Denn das würde sie ihres narzisstischen Glaubens an

ihre Einmaligkeit und Besonderheit rauben. Sie sind daher geradezu blind für das Gleiche.

 

Aber die Gleichheiten zwischen Menschen sind genau so real wie die Verschiedenheiten. Beim postmodernen Denken handelt es sich daher um eine gemeinsame antimoderne, vernunft- und wissenschaftsfeindliche Ideologie, die für die jeweils gleichen Aspekte der Realität von verschiedenen Sachverhalten, Ereignissen und Prozessen, Gegenständen und Lebewesen, etc. blind macht, also um eine Form von "Verblendung" (Th. W. Adorno). Anstatt wirklich im kantischen Sinne von Aufklärung, den Mut zu haben, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, schwimmen die postmodernen Ideologen gemeinsam mit dem Strom des postmodernen Zeitgeistes wie die Lemminge und merken es nicht einmal. 

 

Wenn es um die gleiche Natur von Menschen geht, hat diese anti-moderne Ideologie eine politische Relevanz, weil sie zur Schwächung der Solidarität geht und den globalisierenden Tendenzen des internationalen Finanzkapitalismus dient, die Solidarität unter Menschen, bestimmten Gruppen, einzelnen Staaten und ganzen Nationen zu schwächen. Diese Ideologie kam nicht nur zufällig mit der Wende zum Neoliberalismus in den 90er Jahren auf. Damals predigte Margaret Thatcher in England, dass es nur Individuen gäbe, aber keine Gesellschaft. Das ist so ähnlich absurd, wie zu sagen: es gibt nur Bäume, aber keinen Wald. Es gibt nur einzelne Spieler, aber keine Mannschaften. Es gibt nur Mannschaften, aber keine Bundesliga.

 

Menschen haben außerdem von Natur aus nicht nur ein vitales Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und Individua-lität, nach Autonomie und Autarkie, sondern auch ein vitales Grundbedürfnis nach Bindung und Beziehung, nach Liebe und Respekt, nach sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit, die ihr Leben bereichern und die die Entwicklung ihrer Persönlichkeit fördern.

 


 

Wokeness als Wahn – in San Francisco wächst der Widerstand gegen die neue Gegenaufklärung namens «Critical Race Theory»

 

Brave Bürger wehren sich gegen Bildersturm und Agitprop. Per Wahlzettel bekämpfen sie den sog. «Anti-rassismus», der in Amerika um sich greift. Dieser schafft statt Lösungen neue Ungerechtigkeiten. Und inzwischen ist unübersehbar, dass die Critical Race Theory die Aufklärung selbst ins Visier nimmt.

 

Mehr «woke» als in San Francisco geht nicht. Zuletzt hat die Stadt den Ladendiebstahl bis zu 950 Dollar vom «Verbrechen» zum «Vergehen» herabgestuft , was selten verfolgt und seltener bestraft wird. Wie erwünscht, gerieten weniger Afroamerikaner in die Gesetzesmühle.

 

Doch hat die soziale Gerechtigkeit ihren Preis. Gerade in den ärmeren Vierteln schossen Diebstähle in die Höhe. Dutzende von Drugstores gaben auf; ab in die Notaufnahme für das heilende Medikament. 80 Prozent aller Befragten glauben nun, dass die Kriminalität unaufhaltsam steige.

 

Gut gemeint ist nicht gut vollbracht, und so bäumt sich im Zentrum des Wokeismus die Reaktion auf – wie in anderen links regierten amerikanischen Städten von New York bis Seattle. Per Abwahl haben die Bürger im Februar die Radikalen im School-Board gefeuert, der die Bildungspolitik bestimmt. Die Eiferer wollten sich an den Heiligtümern der Nation vergreifen. Ikonen wie Washington, Jefferson und Lincoln gehörten aus den Namen von Schulen wegradiert, weil sie irgendwie Rassismus und Kolonialismus verkörperten.

 

Vor lauter «wokeness» ungerecht

 

Richtig zornig wurden die Eltern, als es ans Eingemachte ging, an jene öffentlichen Schulen, deren guter Ruf auf Aufnahmeprüfungen beruht. Diese helfen gerade begabten Kindern aus den Armenbezirken, die pro Jahr keine 40 000 Dollar für elitäre Privatschulen aufbringen können. Doch hat das Auswahlprinzip zu viele Amerikaner ostasiatischer Herkunft in den Genuss eines fordernden Curriculums gebracht. Also weg mit den Tests. Eine der Geschassten hatte diese Schüler bezichtigt, «das Denken der weissen Oberherrschaft zu übernehmen, um per Assimilierung hochzukommen». Aus mit dem amerikanischen Traum.

 

Es war eine feine Absicht. Es müssen mehr Schwarze und Braune («People of Color») in die besseren Schulen; jede schwächelnde Gruppe kriegt ihre nährende Suppe per Proporz. Doch schafft Social Engineering auch neues Unrecht. Denn mehr begehrte Schulplätze für die X sind weniger für die Y. Nettogewinn gleich null.

 

Und ein moralisches Problem. Was hat ein chinesischstämmiger Teenie, dessen Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Rassenhass massakriert und beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden, mit der Gemeinheit schwarzer Knechtschaft zu tun? Die Kids büssen so für die Schandtaten der Sklaverei, weil sie an Quoten scheitern. Die Kollektivschuld kriecht ins System. Doch böse kann nur die Tat, nicht die Herkunft sein. Wenn Leistung verdächtig ist, entsteht eine neue Ständeordnung, die Macht und Status per Ethnie und Biologie zuweist.

 

Nach welchem Prinzip? Die Antwort liefert die «Critical Race Theory», die sich schier unaufhaltsam durch das Bewusstsein frisst. Sie als «Kritik» und «Theorie» zu adeln, ist zu viel der Ehre. Critical Race Theory ist eine Ideologie, die den Vorteil der eigenen Gruppe als universelle Moral verbrämt. So alt wie die Menschheit, rechtfertigt jede Ideologie, warum uns mehr zusteht als euch.

 

Der Kern der Critical Race Theory

 

Ein Blick zurück. Könige beriefen sich auf das «Gottesgnadentum». Karl Marx hat das Proletariat auf den Altar gehoben; nieder mit der Bourgeoisie! Karl Mannheim, der Uronkel der Kritischen Theorie, prägte vor hundert Jahren den Begriff der «Wissenssoziologie». «Wahrheit» sei ein Konstrukt, Ausfluss des sozialen Seins, welches das Denken bestimme. Wir verkünden, was unsere Machtinteressen bedient.

 

Mannheim konnte den Nazis entfliehen; so gelangte die «Sociology of Knowledge» nach England, dann nach Paris, wo Pierre Bourdieu, Michel Foucault et alii die Radikalisierung unter Zungenbrechern wie «Dekonstruktivismus» und «Post-strukturalismus» durchzogen. Auch hier: «Wahrheit» ist Illusion. Es gibt nur «Perspektiven» und «Erzählungen». Die Herrschenden lullen so die Massen ein. Einen dritten Pfeiler bildet der Neomarxist Antonio Gramsci. Die «Kulturhege-monie» sei zu erobern. Denn das Wort ist die Waffe, die Denken und Wollen lenkt. Das «Wahre» ist das Nützliche, das Vorherrschaft gebiert.

 

Ohne den Ideologie-Export in die amerikanischen Geisteswissenschaften wären die Postmodernisten in den Sechzigern vielleicht an der Rive Gauche sitzen geblieben. Nun triumphiert die Critical Race Theory von Harvard bis in die Provinz. Die zentralen Texte sind versammelt in dem Reader «Critical Race Theory: The Key Writings That Formed the Movement» (1996). William Galston hat sie im «Wall Street Journal» zusammengefasst; hier ist der Kern:

 

1. CRT kann nicht objektiv sein. Jedwedes «Wissen ist unvermeidlich politisch», Munition im Machtkampf.

2. Rasse ist alles. Weg mit verlogener «Integration, Assimilation und Farbenblindheit».

3. Statt Martin Luther King: Antonio Gramsci. Der habe uns die Augen dafür geöffnet, dass «Kulturhegemonie die soziale Ordnung festigt» – zugunsten der Machthaber.

4. Die Bürgerrechtsbewegung hat nur «symbolische Gewinne» gebracht, aber die Köpfe verdreht. Die Menschen begreifen deshalb nicht, dass Diskriminierung «strukturell» ist. Folglich gehört das System zerschlagen.

5. CRT verdammt das liberale Prinzip der «Chancengleichheit». «Ergebnisgleichheit» muss den People of Color geben, was ihnen zusteht, doch nicht als Leistungsprämie. «Verdienst» ist kein «neutraler Massstab», weil die «Mächtigen die Zuteilung verfügen».

6. «Affirmative Action» als Aufstiegsleiter ist Augenwischerei. Was scheinbar der ausgleichenden Gerechtigkeit dient, soll bloss «weisse Privilegien kaschieren». Der «Mythos der Chancengleichheit» garantiert nur den «Fortbestand weisser Vorherrschaft».

 

Auf dem Kerbholz des Westens

 

Den giftigen Kern formuliert ein Chefideologe der CRT, Ibrahim X. Kendi, in seinem Bestseller «How to Be an Antiracist» (2019): «Nur künftige Diskriminierung kann die heutige beseitigen.» Das heisst doch: Die Sklaverei und deren Folgen fordern neues Unrecht. Gestern waren Schwarze die Opfer, nun müssen die Weissen für ihre «systemischen» Privilegien Busse tun, egal, ob Kind oder Opa, Arzt oder Arbeitsloser. Das System ist eine einzige Verschwörung gegen die schwarze Rasse.

 

Das Böse des Weissseins könne allenfalls unterdrückt, nicht überwunden werden. Wie wollen wir es nennen –

Rassismus 2.0, bloss farbenverkehrt?

 

Halten wir nun das Offenkundige fest: Der Westen hat Einiges auf dem Kerbholz. 500 Jahre Eroberung und Kolonialismus, Sklaverei, Minderheitenhatz, Blutrunst im Namen des «wahren» Glaubens.

 

Rassistische DNA

 

Die historischen Belege lassen sich nicht wegretuschieren. Doch will die CRT weder vergeben noch versöhnen. Denn Rassismus sei Teil der weissen DNA. Der Weisse kann ihn nicht abschütteln, weil er nicht kapiert, wie verdorben er ist. Kein Ausweg. Sagt einer «Ich bin kein Rassist», beweise er nur, dass er einer ist. «Black Lives Matter» ist korrekt; «All Lives Matter» ist Rassismus.

 

CRT ist au fond eine Attacke gegen das Beste im Westen, die Fundamente des kritischen Denkens von Platon bis Planck. Die würden zum Schierlingsbecher greifen, wenn sie hörten, dass Wissen und Fakten nur in Anführungszeichen daherkämen.

 

Die opaken Sätze der Postmoderne können vielleicht Eingeweihte entziffern. Jenseits der löchrigen Wissenschaftstheorie stellen andere die moralische Frage: Hat nicht der Westen aus seinem eigenen Gedankengebäude heraus die Sklaverei abgeschafft, die Unterdrückung bekämpft, die Despoten vertrieben, Gleichheit und Freiheit zelebriert, die Entrechteten emanzipiert? Ist der Liberalismus nur ein Verschleierungstrick der beati possidentes, sind Demokratie und Rechtsstaat nur Scheingebilde? Wenn es keine Wahrheit gibt, sind Chemie und Atomphysik bloss «Narrative». Und Liberalismus ist Lüge.

 

Die Aufklärung bleibt die Messlatte

 

Trotz – wegen – all seinen Sünden hat der Westen die Massstäbe entwickelt, an denen er sich (wenn auch mit Verspä-tung) misst. Welche Zivilisationen stellen sich dergestalt selber infrage? Dagegen ist Critical Race Theory wie ein morali-sches Hütchenspiel, wo der weisse Loser von vornherein feststeht. Verloren gehen hart erkämpfte liberale Werte, die entweder für alle oder keinen gelten. Die Aufklärung hat nicht das Kollektiv, sondern das Individuum mit unveräusser-lichen Rechten ausgestattet: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

 

Die Rechte des Einzelnen werden nicht durch Hautfarbe, Glauben und Herkunft definiert. Solche «Sortierung» hatten wir schon einmal – von der Sklaverei bis zum industriellen Massenmord. Wenn Ergebnis- die Chancengleichheit verdrängt, Wettbewerb nur die Falschen belohnt, erstarrt die Welt. Die Regie führt dann ein übermächtiger Staat, der bestimmt, wer was kriegt, und so neue Privilegien schafft – siehe die Nomenklatura der Sowjetunion. Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um Rassismus und Klassismus zu ächten. Und jetzt wieder Pigmentierung als Mass? So hatte sich das Martin Luther King nicht gedacht. So wenig wie die weissen Studenten, die in Mississippi ihr Leben riskierten.

 

Das klingt reichlich sonor. Ganz praktisch: Es hilft keinem schwarzen Kind, wenn es in der woken Schule lernt, dass Mathematik ein Komplott der Suprematisten sei und es selber das ewige Opfer. Laut CRT ist der junge Mensch kein handlungsfähiges Ich mit den Chancen, die seinen Vorfahren per Lynchen und Gesetz geraubt wurden. Es gibt keine Erlösung. Critical Race Theory ist Rückschritt und Irrweg zugleich. Sie faselt von Revolution, um Reform zu ersticken.

 

Josef Joffe unterrichtet Politik und Ideenlehre an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington.

 

https://www.nzz.ch/feuilleton/abgruende-der-critical-race-theory-ld.1675061?mktcid=nled&mktcval=174&kid=nl174_2022-3-21&ga=1&trco=

 




 

Wie die Wokeness die Grundlagen unseres Zusammenlebens bedroht

 

Eigentlich geht es um Gerechtigkeit. Aber unter dem Zeichen des Antirassismus hat sich in den USA eine Ideologie entwickelt, die das fördert, was sie bekämpfen will. Der Washington-Korrespondent des «Spiegels» René Pfister schildert, wie es dazu gekommen ist.

 

Im Sommer 2019 zog René Pfister nach Washington. Er war als Korrespondent des «Spiegels» in die USA entsandt worden, hatte in einem Vorort der Hauptstadt ein schönes Haus gefunden und fühlte sich sofort wohl. Im Quartier, in dem er mit seiner Familie wohnte, lebten unkomplizierte, nette Leute. Ärzte, Journalisten, Rechtsanwältinnen, Professo-rinnen und Lehrer. Man verstand sich als tolerant, vor jedem dritten Haus flatterten Regenbogenflaggen, und das Amerika, das Pfister bei den Wahlkampfveranstaltungen von Donald Trump sah, schien sich auf einem anderen Stern

zu befinden.

 

Das erste Mal stutzte er, als ein Freund ihm erzählte, sein Sohn sei in der Schule zurechtgewiesen worden, weil er

gesagt habe, er halte es für problemlos, wenn Weisse Dreadlocks trügen. Das durfte man nicht sagen. Dreadlocks

galten als Teil der afroamerikanischen Kultur. Wenn Weisse sie trugen, war das nach offizieller, politisch korrekter

Lesart «kulturelle Aneignung», also rassistisch. Im Eingang der Schule, die René Pfisters Söhne besuchten, hing nach

wie vor ein Bild von Barack Obama. Auf einer Cocktailparty war es das grosse Tuschelthema, dass sich unter den

Gästen ein republikanischer Lobbyist befinden soll. «He’s a Trump voter», sagte ein Bekannter hinter vorgehaltener Hand. Trump wählen: Das durfte man auch nicht tun.

 

Ganz so tolerant war das liberale Milieu also doch nicht. Und hinter den beiden zufälligen Begebenheiten steckte mehr. Das merkte Pfister beim Columbus Day, bei dem im Unterricht seines Sohnes die Entdeckung Amerikas zur Sprache kam. Vom Entdecker Kolumbus war da nicht die Rede. Sondern von einem ruchlosen Geschäftemacher aus Italien, der mit seiner Ankunft unzählige Menschen in Sklaverei und Tod gestürzt hatte. Das war natürlich nicht ganz falsch, aber doch höchstens die halbe Wahrheit. Als Pfisters Sohn einen Freund fragte, ob er die Lehrerin darauf hinweisen solle, dass man die Sache von verschiedenen Seiten betrachten müsste, empfahl ihm dieser, er solle es besser bleiben lassen. Es würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen.

 

Klima der Angst

 

Das wahre Gründungsdatum der Vereinigten Staaten, so wurde den Kindern beigebracht, war nicht jenes der Unab-hängigkeitserklärung von 1776, sondern der Ankunft der ersten Sklaven aus Afrika in Virginia im Jahr 1619. Den Anstoss zu dieser Umwertung der nationalen Geschichte hatte die «New York Times» 2019 mit einer grossangelegten Artikel-serie gegeben, in der die Sklaverei nicht als Makel und Sünde in der Geschichte der USA dargestellt wurde, sondern

als Fundament und eigentlicher Kern der nationalen Identität.

 

Da war er, der Kulturkampf, der die USA umtrieb. Auf der einen Seite ein zum verbohrten Nationalismus verkommener Republikanismus, der immer autoritärer auftrat, auf der anderen Seite linksliberale Demokraten, die im Namen von Gerechtigkeit und Antirassismus laufend neue Rede- und Denkverbote etablierten und vor lauter Schuldeingeständ-nissen gegenüber Minderheiten ihre eigentlichen politischen Ziele aus den Augen verloren haben.

 

Im Buch «Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht» zeigt Pfister auf, wie der demokratische Diskurs in den USA ausgehebelt wird. Und wie ein militanter Antirassismus ein Klima von Angst und vorauseilendem Gehorsam entstehen liess. Pfister gibt Alltagsbeobachtungen wieder und schildert pro-minente Fälle, die politisch zu Reden gaben: Menschen verlieren ihre Stelle, weil sie Dinge sagen, die zwar richtig

sind, aber im aufgeheizten Klima übertriebener Wokeness als unhaltbar gelten.

 

Wie der demokratische Politikberater David Shor zum Beispiel. Nach der Ermordung von George Floyd im Mai 2020

wies er in einem Tweet darauf hin, dass die Unruhen nach dem Mord an Martin Luther King den Anteil der demokra-tischen Stimmen in den umliegenden Countys reduziert hatten – was genügte, um die Präsidentschaftswahl 1968 zugunsten von Richard Nixon kippen zu lassen. Das war eine nüchterne Analyse. Doch die Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung griffen Shor auf Twitter an: Er reduziere auf grausame, rassistische Weise schwarze Trauer auf eine blosse Frage der Wahltaktik.

 

Gefühl und Vernunft

 

Ein paar Tage später wurde Shor von seinem Arbeitgeber, dem Data-Science-Unternehmen Civis Analytics, entlassen. Das renommierte Unternehmen glaubte es sich nicht leisten zu können, zu ihm zu stehen, nachdem er beim Social-Media-Mob in Ungnade gefallen war. Das Beispiel zeigt die Mechanismen der organisierten Empörung klar: Argumente spielen keine Rolle, statt rationaler Gründe werden verletzte Gefühle angeführt – und wo mit Gefühlen gefochten wird, prallt jeder Versuch ab, an die Vernunft zu appellieren.

 

René Pfister versteht sich als Liberaler. Und er macht kein Hehl daraus, dass er Donald Trump für einen gefährlichen Politiker hält, der die USA in eine Autokratie verwandeln will. Die grosse Gefahr, davon ist Pfister überzeugt, droht der Demokratie von rechts. Genau deshalb tritt er so entschieden dafür ein, dass eine Gesellschaft nicht an den Punkt kommen darf, wo falsche Rücksichtnahme Debatten über heikle Themen verhindern. Natürlich, von links wird man Pfister entgegenhalten: Ein paar Beispiele reichten nicht aus, um zu beweisen, dass es so etwas wie Cancel-Culture tatsächlich gebe – dass man also wegen eines falschen Wortes oder eines umstrittenen Artikels öffentlich in Ungnade fallen könne.

 

Pfister räumt ein, dass Cancel-Culture zum Kampfbegriff der Rechten geworden ist. Er zeigt aber auch, dass das Phänomen dahinter nicht geleugnet werden kann. Und dass es kleinen Gruppen militanter Antirassisten gelungen ist, Konzepte zu etablieren, die nicht nur politische Debatten, sondern normale Alltagsgespräche zu einem Hochseilakt machen. Den Begriff der Mikroaggression zum Beispiel, den amerikanische Psychologen vor einigen Jahren geprägt haben.

 

Scheinbar harmlos, aber völlig rassistisch

 

«Microaggressions» sind Redewendungen oder Fragen, die harmlos klingen, aber nach Ansicht der Psychologen die rassistische Gesinnung des Sprechenden offenlegen. An erster Stelle natürlich die Frage «Woher kommen Sie?», die laut der Liste einer amerikanischen Fachzeitschrift als verkappter Rassismus zu verstehen sei, wenn sie sich an eine Person of Color richtet. Weil sich, so die Logik der Psychologen, dahinter die Message verberge: «Sie gehören eigentlich nicht hierhin.»

 

Als Mikroaggression kann nach diesem Katalog aber auch die Bitte gelten, bei einem mathematischen Problem zu helfen. Werde sie einer aus Asien stammenden Person gegenüber geäussert, sei sie beleidigend, hielten New Yorker Professoren vor einigen Jahren fest. In allem Ernst, versteht sich. Die Frage, sagen sie, bediene das Klischee, Asiaten seien besonders begabt im Umgang mit Zahlen. Was daran diskriminierend sein soll, weiss niemand. Aber das tut nichts zur Sache, denn als ideologische Waffe sind «Microaggressions» unschlagbar.

 

Was rassistisch ist, bestimmt sich nicht mehr nach rationalen Kriterien, sondern danach, ob sich jemand von einer Bemerkung betroffen fühlt. Ob die Person, die sie äusserte, die Bemerkung rassistisch gemeint hat oder nicht, ist nach Ansicht der Theoretiker des neuen Antirassismus völlig irrelevant. Das ist absurd. Und es bedroht die Fundamente unseres Zusammenlebens. René Pfister zeigt, wie stark die Regeln der Woke-Ideologie den Alltag bereits beherrschen. Längst nicht mehr nur in den USA.

 

René Pfister: Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht. Deutsche Verlagsanstalt, München 2022. 254 S.

 

Wokeness: Wie aus dem Kampf gegen Rassismus eine Ideologie wurde (nzz.ch)

 



 

Der neue "woke" Kapitalismus – Eine Mogelpackung?

 

Der moderne Kapitalist ist kein fieser Mensch, sondern er kümmert sich um Soziales und die Umwelt. Sein Unter-nehmen ist divers aufgestellt, es gibt sich nachhaltig, bunt, international und setzt sich für Klimaschutz und Menschenrechte ein. Das ist der neue, sogenannte "woke" Kapitalismus. Verbirgt sich dahinter nur eine perfide Werbestrategie, in der es im Grunde um ein aufpoliertes Image geht? Oder handelt es sich um eine neue Stufe der kapitalistisch geprägten Gesellschaft?

 

Antworten gibt der Philosoph und Publizist Alexander Grau:  https://www.swr.de/swr2/wissen/der-neue-woke-kapitalismus-eine-mogelpackung-swr2-wissen-aula-2022-04-03-100.html