Johannes Kandel
Für Demokratie und Menschenrechte
1. Statt Fortsetzung eines scharf polarisierten und emotionalisierten Islamdiskurses mit „politisch korrekter“ Tabuisierung der wirklichen Problemlagen brauchen wir eine nüchterne Sachdebatte über den Zusammenhang von Islam, Islamismus und Dschihadismus. Dem Versuch einiger Politiker, muslimischer Verbandsvertreter und Medienvertreter, im Gefolge des Pariser Anschlags den Eindruck zu erwecken, dass, wer Islam mit Islamismus in Verbindung bringe, Islamfeindlichkeit verbreite oder gar das „Geschäft der Terroristen“ betreibe, muss entschieden begegnet werden.
2. Im Islamdiskurs muss der Islam selbst in seiner gegenwärtig real existierenden und dominierenden Gestalt („realdominanter Islam“) Gegenstand der Erörterungen sein. Denn Islamisten und Dschihadisten beziehen sich auf diesen Islam und legitimieren ihre Gräueltaten mit diesem Islam. Und dieser „realdominante“ Islam lässt sich nicht mit den universalen Menschenrechten, Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaat vereinbaren.
3. Es ist daher nicht nur das legitime Recht, sondern die staatsbürgerliche Pflicht jedes Demokraten, die Anhänger des Islam zum Zusammenhang von Islamismus und Islam zu befragen und auf die Reform des „realdominanten Islam“ zu drängen, weil nur auf diese Weise die Vereinbarkeit des Islam mit universalen Menschenrechten, Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaat zu erreichen ist.
4. Zahlreiche Muslime in Deutschland sehen in ihrer islamischen Lebensweise keinen Widerspruch zur Demokratie des Grundgesetzes und leben friedlich mit uns. Sie sind ebenso zu respektieren wie jene muslimischen Verbandsvertreter, die wiederholt ihre Loyalität zum Grundgesetz unterstrichen haben. Dies ist zu respektieren und zu würdigen.
5. Eine Reihe von Muslimen (vor allem Intellektuelle), die sich der Reform des Islam verschrieben haben, fordert seit Langem eine grundlegende Revision des „realdominanten“ Islam. Dies ist ebenfalls zu respektieren und zu würdigen. Ihr Dilemma ist allerdings ihre geringe Wirkung in die muslimischen Gemeinschaften hinein.
6. Alle Reformbestrebungen und darauf gerichteten interreligiösen und interkulturellen Dialoge sollten nachhaltig durch staatliche Förderung und zivilgesellschaftliche Unterstützung vorangebracht werden.
Eine sachgerechte Beschreibung des gegenwärtig „real existierenden“, ja „dominanten“ Islam ist die Grundvoraussetzung für einen realistischen und ehrlichen Diskurs. Muslime, die den Grundprinzipien des „realdominanten Islam“ folgen,
• leiten aus der göttlichen Offenbarung im Koran, der als unerschaffen, widerspruchsfrei und absolut zeitlos geltend verstanden wird, einen umfassenden monopolistischen religiös-politischen Herrschaftsanspruch ab. Die „Religion bei Gott ist der Islam“ (Sure 3,19), und die Muslime bilden die „beste Gemeinschaft, die je unter den Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott“ (Sure 3,110). Friede auf Erden und harmonisches Zusammenleben werden erst dann erreicht, wenn die ganze Welt diesem Islam unterworfen ist.
• glauben, dass Allah Mohammed als den letzten der Propheten (als „Siegel“ der Propheten, Sure 33,40) der Welt gesandt hat (rasul Allah), um die Menschheit rechtzuleiten. Das Leben Mohammeds (sira) gilt in allen seinen Ausdrucksformen und Handlungsmaximen als unbedingt nachahmenswert, eine Beleidigung des Propheten als todeswürdiges Verbrechen.
• bleiben im Blick auf die Scharia unklar und ambivalent. Das Verhältnis von unveränderlichem „Gottesrecht“ und flexiblem „Menschenrecht“ bleibt letztlich unaufgeklärt und bietet somit fundamentalistischen und extremistischen Auslegungen breiten Raum. Solche Auslegungen sind im Blick auf das Strafrecht, Erb-, Ehe- und Familienrecht nicht
mit den universalen Menschenrechten kompatibel.
• nehmen eine scharfe Trennung von „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ vor und verweigern anderen Religionen und Weltanschauungen die gleichberechtigte Anerkennung im Sinne menschenrechtlich definierter Religionsfreiheit.
Auch Juden und Christen werden, obgleich gelegentlich positiv gesehen (in der Frühzeit Mohammeds), letztlich als Ungläubige stigmatisiert, weil sie die „wahre Religion“ bei Gott (z. B. Sure 3,19) in ihren heiligen Schriften angeblich verfälscht und verzerrt haben (tahrif). Gleichwohl wird ihnen als „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitab) die (eingeschränkte, weitgehend nicht-öffentliche) Pflege ihrer Religion zugestanden. Jahrhunderte mussten Juden und Christen für diese Duldung (euphemistisch als „Schutz“ gedeutet, arab. dhimma) eine demütigende „Kopfsteuer“ (djizya) bezahlen. Gegenwärtig ist die Lage insbesondere von Christen in manchen islamischen Staaten mehr als prekär. Sie reicht von Belästigungen und Diskriminierungen bis zu offener Verfolgung (z. B. in Iran, Irak, Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien, Sudan, Somalia, Nigeria, Mali, Eritrea, Pakistan, Afghanistan, Malediven, Jemen).
• nehmen latent oder offen antisemitische Haltungen ein, wobei an judenfeindliche Aussagen im Koran, in der Tradition und an den Umgang Mohammeds mit den Juden seiner Zeit angeknüpft wird. Hinzu tritt der Import des modernen Antisemitismus in verschiedenen Varianten, der durch den Nahostkonflikt fortwährend angeheizt und verschärft wird (siehe z. B. die Charta der Hamas).
• ahnden die Abwendung vom Islam als verabscheuungswürdigen „Abfall“ (Apostasie), der sowohl eine schwere Strafe im Jenseits nach sich zieht (z. B. Suren 3,86-91; 88,23-24; 16,106-107; 109) als auch – nach einhelliger Auffassung aller vier Rechtsschulen – im Diesseits mit dem Tode bestraft werden soll, da der Apostat (murtadd) nicht nur Gott beleidigt, sondern gegenüber der muslimischen Gemeinschaft (umma) Hochverrat begangen habe (z. B. Suren 2,217; 4,88-89; 9,11-12; im Hadith: Bukhari, Band 9, Buch 84, Nr. 57; Bukhari, Band 9, Buch 83, Nr. 17 u. a.).
• verstehen den Kampf für die Dominanz des Islam als „Dschihad“, der als verdienstliches Werk „auf dem Wege Gottes“ bezeichnet wird und erst endet, wenn die Weltgemeinschaft sich zum Islam bekennt. Entgegen der spiritualistischen Tradition, die Dschihad vornehmlich als Ringen um persönliche Nähe zu Gott und Bekämpfung individueller Verfehlungen und Laster darstellt („großer Dschihad“), bleibt in Geschichte und Gegenwart die militante Version des Dschihad, verstanden als physischer Kampf (qatl = Töten, Kampf mit der Waffe) gegen die Ungläubigen, eine herausragende und letztlich dominante Interpretation („kleiner Dschihad“). Die „Schwertverse“ (Suren 9,5; 9,29; 47,4 etc.) dokumentieren dies unmissverständlich.
• weigern sich entweder gänzlich, die Säkularität des neuzeitlichen Staates (Trennung von Staat und Religion) als das friedensverbürgende Grundprinzip für das Zusammenleben im religiös-kulturellen Pluralismus anzuerkennen, oder akzeptieren lediglich pragmatisch den säkularen Rechtsstaat, ohne theologisch plausible Begründungen anzubieten. Eine solche Haltung steht dem vom Bundesverfassungsgericht mehrfach unterstrichenen fundamentalen Verfassungsprinzip der „Rechtstreue“ entgegen.
• verweigern Frauen in Familie und Gesellschaft die Gleichberechtigung unter Verweis auf gottgegebene biologische und wesensmäßige Unterschiedlichkeit und errichten ein Regime der Geschlechtertrennung: Im Koran seien unterschiedliche Rechte und Pflichten von Frauen und Männern sowie die Vorrangstellung des Mannes fixiert. Dies verhindert individuelle (vor allem auch sexuelle) Selbstbestimmung der Frauen und zementiert die Unterordnung unter die gottgesetzte Autorität des Mannes, die auch ein Züchtigungsrecht einschließt (Sure 4,34). Das Kopftuch ist symbolischer Ausdruck dieser Unterordnung. Dass es Musliminnen gibt, die das Kopftuch auch freiwillig tragen, ist kein Argument gegen seine repressive Deutung und die mit ihm verbundene frauenfeindliche Körperpolitik.
Wer gegenwärtig die Frage „Gehört der Islam zu Deutschland?“ stellt, betritt ein vermintes Gelände.
Johannes Kandel, der Autor des „Manifests Islam“, ist Historiker, Politikwissenschaftler und langjähriger Dozent und Akademie-leiter im Bereich Politische Bildung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität“, Freiburg i. Br. u. a. 2011.
Quelle: http://www.ezw-berlin.de/html/15_6143.php
Das Gegenteil von gut gemeint
Ein Gastbeitrag von Seyran Ates in CICERO ONLINE am 11. Oktober 2020
Es ist jetzt zehn Jahre her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff einen Satz sagte, der der Union noch heute um die Ohren fliegt: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Der Streit darüber dauert bis heute an, aber was hat er gebracht? Seyran Ates über eine Debatte, die sich im Kreis dreht.
Der Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland“ sagt auch nach zehn Jahren gleichzeitig viel und gar nichts aus. Meinem Verständnis nach handelt es sich nach wie vor um ein politisches Statement wie aus dem Buch „Politik für Dummies“. Generisch, voreilig und provokativ. Es war und bleibt ziemlich ambitioniert, dass ein europäischer Staatsmann tatsächlich versucht hat, eine dezentralisierte Religion, die ihren Ursprung nachweislich nicht in Europa hatte, mit 1,8 Milliarden Anhängern, ohne theologische Hierarchien und mit einem knapp 1.400 Jahre alten interpretationsbedürftigen Heiligen Buch als Bezugspunkt, in einer so simplen Weise zusammenzufassen.
Ich glaube unserem Bundespräsidenten a.D. Wulff, mit dem ich mich mehrfach persönlich unterhalten durfte, dass er mit diesem Satz eine positive Absicht formulieren wollte, die darauf abzielte, die soziale Inklusion der muslimischen Bevölkerung zu fördern und Einwanderungsbemühungen zu unterstützen.
Gut gemeint ist noch lange nicht gut
Darüber hinaus bin ich mir sicher, dass es sogar ein gut gemeinter Versuch war, den deutschen Muslimen das Gefühl der Zugehörigkeit zu verschaffen und ihnen gleichzeitig die Wertschätzung der Bundesrepublik darzubieten. Gut gemeint ist aber noch lange nicht gut, denn Wulff hat unbeabsichtigt gleichzeitig den Pfahl für eine Schwarz-Weiß-Debatte eingeschlagen, die jetzt schon zehn Jahre lang andauert.
Die „Islam-Frage“ gleicht einem politischen Minenfeld. Nicht zuletzt vor Wahlkämpfen lassen sich Journalisten zur Frage verleiten: „Gehört der Islam nun zu Deutschland oder nicht?“ Als der heutige Bundesinnenminister Horst Seehofer, der in Sachen Islam ganz bestimmt nicht zu meinen favorisierten Politikern gehört, erklärte, er stimme nicht mit der Annahme überein, dass „der Islam zu Deutschland gehöre“, war die Erregung wieder groß, und natürlich interessierte sich niemand mehr für den Rest des Satzes: „Aber Muslime tun es“. Seehofer erhielt gleich zu Beginn seiner Amtszeit einen Stempel als Islamophober aufgedrückt, und laut Grünen Politikern wie Jürgen Trittin versuchte Seehofer bewusst, die Bevölkerung zu spalten. Das Problem an dieser Diskussion ist leider die Diskussion selbst.
Warum spielt die Zahl 4,8 Millionen eine Rolle?
Es soll 4,8 Millionen muslimische Deutsche, beziehungsweise Muslime in Deutschland geben, denen man aufgrund ihrer wachsenden Anzahl gerecht werden wolle. Dies ist eine sehr edle Einstellung. Doch bereits an dieser Stelle bekommt die Diskussion eine Schräglage. Die genaue Zahl selbst und deren Erfassung sind mehr als kritikwürdig. Man habe das Melderegister herangezogen und alle Menschen aus islamischen Ländern als Muslime erfasst. Dem folgt die nächste Irritation. Warum hängt es von der Anzahl der Muslime ab, ob Muslime und ihre Religion als Teil eines Landes bewertet werden?
Mit besagter Aussage kann man einfach keine Diskussion über den Islam in Deutschland einleiten. Man erschlägt sie, bevor sie begonnen hat. Die überwältigende Mehrheit der Muslime lebt tagein tagaus rechtstreu, mehr oder weniger arbeitsam, absolut friedlich und völlig unauffällig mitten unter allen anderen hier wohnhaften Menschen. Manche von ihnen gehen freitags in eine Moschee, andere nicht. Was wir aber nicht leugnen können ist, dass muslimische Parallelgesellschaften entstanden sind, in denen Probleme existieren und aus denen heraus es zu Problemen kommt. Seit Jahren weise ich darauf hin. Probleme zu benennen bedeutet nicht, sich gegen eine Religion oder Ethnie zu stellen, sondern sich ernsthaft um Lösungen zu bemühen. Hier ein erneuter Versuch der Erläuterung:
Problem 1: Wir kennen das Problem leider viel zu wenig. Österreich hat gerade eben eine Dokumentationsstelle für den politischen Islam ins Leben gerufen. Dieser Dokumentationsstelle steht mit Prof. Dr. Mouhanad Khorchide unter anderem ein in Deutschland tätiger Wissenschaftler vor. Es geht darum, ein Problembewusstsein zu schaffen, welche Strukturen der politische Islam in der Gesellschaft entfaltet. Eine ähnliche Einrichtung wäre auch hierzulande dringend nötig. Es geht nicht um „Islam-Bashing“, wie das von den Hardlinern vorgeworfen wird. Es geht darum, gewisse Probleme und inakzeptable Verhaltensweisen sichtbar zu machen, damit politisch darauf reagiert werden kann, und das ist in einem Rechtsstaat völlig legitim.
Problem 2: Es ist mittlerweile keine Frage mehr, dass ein Tyrann vom Bosporus namens Erdogan jedes Machtvehikel in Europa, das sich ihm bietet, gezielt zu seinen Gunsten zu nutzen versucht. Das hilft primär ihm, wenn er ein Faustpfand gegenüber der EU oder Deutschland braucht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kann die Kooperation mit der Ditib und ihren Verbänden nur als schlechter Scherz gesehen werden. Natürlich sind diese Moscheen „politisch aufgeladen“, zwar nicht jede – aber zu viele. Der Weg aus dieser Situation muss von mutigen Politikerinnen und Politikern bestritten werden. Schonungslos und offen. Wenn es keine Ditib-Kooperationen im Bildungsbereich mehr gibt, müssen wir den islamischen Religionsunterricht anders lösen. Es wird möglich sein.
Problem 3: Die Finanzierung aus dem Ausland. Kürzlich wurde in Deutschland das von französischen Journalisten ins Deutsche übersetzte Buch „Katar Papers“ ins Deutsche übersetzt. Es ist keine Überraschung, dass der Golfstaat neben Prestigeprojekten wie dem „House of one“ hierzulande auch zahlreiche Verbände unterstützt. Nur haben diese allesamt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine ausgesprochene Nähe zu den Muslimbrüdern und deren Vision von einem politischen Islam. Ich sage es in aller Deutlichkeit – diese Verbände gehören aufgelöst und ihre Bildungseinrichtungen geschlossen. Es ist frustrierend zu beobachten, wie eine Moschee nach der anderen von bekannten Muslimbrüdern aus dem Boden gestampft wird und sich die politische Elite die Zuständigkeits-Kartoffel zuwirft oder resigniert.
Problem 4: Die Bruchstellen der Integration sind natürlich Bildung und Spracherwerb. Ich werde mich hier nicht vertiefen, aber in jeder Studie zum Thema Integration ist eine Aussage unumstritten, dass Spracherwerb der Schlüssel zur Integration ist. Er ist auch der Schlüssel zu gesellschaftlichem Diskurs und zur Partizipation.
Political Leadership in Frankreich – eine Warnung oder Vorsehung?
Der bislang moderate Präsident Emmanuel Macron hat letztlich beschlossen, eine harte Offensive gegen den politischen Islam und die Schaffung von Parallelgesellschaften einzuleiten. Es scheint, als hätte er plötzlich die drohende Gefahr erkannt, die aus einer seit Jahrzehnten angespannten Sicherheitslage und einer fast unkontrollierbaren Situation in vielen Vororten entsprungen ist. In einer Ansprache am 2. Oktober stellte der französische Präsident seinen Plan zur Bekämpfung des „islamischen Separatismus“ vor und kündigte seine Absicht an, „den Islam in Frankreich von aus-ländischen Einflüssen zu befreien.“
Er sagte, das Land werde ein System beenden, das es Imamen erlaubt, in Übersee wie Marokko, der Türkei oder Al-gerien ausgebildet zu werden, um danach in Frankreich tätig zu sein und versprach die Kontrolle über ausländische religiöse Finanzierung von islamischen Einrichtungen in Frankreich zu übernehmen.
Die deutsche Islam-Debatte dreht sich im Kreis
„Das Ziel in Frankreich“, sagte Macron, sei es, eine Generation von Imamen und Intellektuellen auszubilden und zu fördern, die einen Islam verteidigen, der voll und ganz mit den Werten der Republik vereinbar ist". Auch den illegitimen „Schulen“, die von Radikalen geführt werden, will der Präsident den Hahn abdrehen. Ab Januar 2021 wird die häusliche Bildung streng begrenzt und die schulische Ausbildung ab dem 3. Lebensjahr obligatorisch sein, um den Einfluss auf die Jugend zu unterbinden.
Es bleibt natürlich abzuwarten, ob die politische Umsetzung dieser ambitionierten Ankündigungen erfolgt. Eines muss man Macron jedoch lassen – er hat gezeigt, dass er das Problem erkannt hat, und er schlägt konkrete Maßnahmen vor. Ob diese Wende noch rechtzeitig für Frankreich kommt, ist freilich eine andere Frage. Festzuhalten ist für Deutschland jedenfalls, dass wir mit der Islamdebatte, wie wir sie bislang geführt haben, einfach nicht weiterkommen.
Mehr Leadership, weniger Populismus
Wir müssen lernen angemessen, vernünftig und ernsthaft zu differenzieren. Das mag zwar in einem von Effekthascherei getriebenen täglichen Medienwirbel schwierig sein, aber es ist notwendig. Wenn wir etwas aus Covid-19 gelernt haben, ist es doch, dass die Politik grundsätzlich auch schwierige und komplexe Probleme lösen kann. Das Thema politischer Islam ist ein ebensolches, daher wünsche ich mir zum „Jubiläum“ der Frage, „Gehört der Islam zu Deutschland, ja oder nein?“ nur eines – mutige Politik mit mehr „Leadership“ und weniger Populismus.
"Verharmlosen ist falsch"
Der Islam muss sich ebenso wie das Christentum fragen lassen, ob er den Rechtsstaat anerkennt –
fordert Wolfgang Huber. Ein Gespräch mit dem evangelischen Theologen über das Verhältnis von
Religion und Demokratie.
Evelyn Finger im Interview mit Wolfgang Huber | 25. Juni 2015 | DIE ZEIT
Herr Huber, der türkische Präsident hat bei den Wahlen am letzten Sonntag eine Niederlage erlitten – und damit auch seine reaktionäre Religionspolitik. Haben Sie sich darüber gefreut?
Wolfgang Huber: Erdogan hat die Parlamentswahl zu einer Abstimmung über das von ihm angestrebte Präsidialsystem gemacht. Das kostete die AKP die absolute Mehrheit. Die Reaktion der Wähler auf Erdogans Bruch der Pflicht zur präsidialen Zurückhaltung finde ich gut.
ZEIT: Ist die Re-Islamisierung der Türkei nun gescheitert?
Huber: Das kann ich noch nicht beurteilen. Die Vorstellung, die Re-Islamisierung sei nur ein Werk Erdogans, wäre sicher zu einfach.
ZEIT: Haben Sie Verständnis für das wachsende religiöse Selbstbewusstsein türkischer Muslime?
Huber: Religiöses Selbstbewusstsein ist nichts Schlimmes. Bedauerlich aber, dass in der Türkei der Geist der Aufklärung an den Rand gedrängt wurde. Die derzeitige Vermischung von Religion und Politik beunruhigt mich.
ZEIT: Wann haben Sie sich zuletzt über Religion wirklich geärgert?
Huber: Ärger ist nicht mein Problem. Es gibt momentan eine Verbindung von Religion und Gewalt, die mich tief erschüttert – auch weil wir bisher keine Instrumente entwickeln, um darauf zu reagieren. Wir führen nicht einmal eine vernünftige Debatte über den Dschihadismus.
ZEIT: Sie meinen den Erfolg des "Islamischen Staates"?
Huber: Der IS ist nur das extreme Beispiel für eine Versuchung, die allen Religionen innewohnt: Atavismus.
ZEIT: Der Rückfall in eine primitive Auffassung von Gesellschaft.
Huber: Und die Bereitschaft, Menschenleben zu opfern im Namen eines Gottes oder einer gemeinsamen Sache. Darin ist der IS atavistisch und modern zugleich.
ZEIT: Manche Islamwissenschaftler nennen den IS unislamisch. Andere sagen, der IS sei die konsequente Umsetzung einer seit Jahrhunderten erstarrten Theologie. Was denken Sie?
Huber: Es gibt einen Islam, der alles, was er für wahr hält, gegenüber Veränderungen absichert und behauptet, der Koran sei nicht auslegbar. Zugleich gibt es einen Islam, der sich mit geistigen Strömungen unserer Zeit verbindet und offen ist für eine friedliche Koexistenz mit Christen und Juden. Doch in den letzten Jahrzehnten erleben wir beängstigende Formen von Islamisierung: Im Iran mündete die Revolution gegen den Schah in einen verkrusteten Herrschaftsislam. Im Irak artet der Fundamentalismus nun in einen Genozid aus. Durch die massenhafte Tötung und Vertreibung von Menschen soll ein Staatsgebiet entstehen, in dem nur ein einziger Glaube Heimatrecht hat. Das ist, 67 Jahre nach der UN-Konvention gegen den Völkermord, ein Rückfall in die Barbarei.
ZEIT: Sie setzen sich klar für einen militärischen Schutz potenzieller Opfer des IS ein. Warum?
Huber: Erstens, weil wir die Verfolgten nicht im Stich lassen dürfen. Zweitens, weil Bürgerinnen und Bürger unseres Landes plötzlich zu Kämpfern des IS werden. Das Drama findet nicht nur im Irak statt, sondern ist uns ganz nah.
ZEIT: In der öffentlichen Debatte bemühen wir uns, Islam und Islamismus voneinander abzugrenzen. Wir sagen, die Religion werde von Terroristen missbraucht. So erscheint sie plötzlich sakrosankt und erhaben über Gewalt.
Huber: Aus der Gewaltgeschichte des Christentums wissen wir, dass das nicht stimmt. Religiös motivierte Gewalt muss immer als solche kritisiert werden, dazu gehört auch das Bekenntnis von Schuld. Ich habe selbst den moralischen Bankrott der Kirchen im Ersten Weltkrieg erforscht, und natürlich beschäftigen wir deutschen Protestanten uns vor dem Reformationsjubiläum 2017 mit Luthers maßloser Ablehnung der Türken und der Juden. Ohne Selbstkritik gibt es keine Selbsterkenntnis und keine Umkehr. Deshalb beunruhigt es mich, wenn Vertreter muslimischer Organisationen sagen, der IS habe mit dem Islam nichts zu tun.
ZEIT: Die Behauptung ist populär. Warum?
Huber: Viele Muslime in Deutschland haben noch immer das Gefühl, nicht vollständig anerkannt zu sein. Deshalb versuchen sie, ihre Religion abzugrenzen von deren extremen Vertretern – auch weil
sie fürchten, sonst als demokratie-unfähig wahrgenommen zu werden. Ich habe Verständnis für diese Furcht. Trotzdem ist die Verharmlosung des Islamismus falsch.
ZEIT: Muslimische Theologen, die Reformen fordern, ernten scharfe Kritik von muslimischen Verbänden. Warum?
Huber: Weil es schmerzt, das eigene fundamentalistische Potenzial einzugestehen. Auch christliche Theologen tun sich bis heute schwer damit. Wir Christen haben keinen Grund zur
Selbstgerechtigkeit. Und doch muss sich der Islam genau wie das Christentum fragen lassen, ob er unter das Dach der Freiheit passt, den Rechtsstaat bejaht und unser Religionsverfassungsrecht
anerkennt.
ZEIT: Was heißt anerkennen?
Huber: Ich verdeutliche es am Beispiel des neuen Islamgesetzes in Österreich. Österreich hat eine Tradition von Spezialgesetzen für unterschiedliche Religionsgemeinschaften. Es gibt dort ein
besonderes Gesetz für die protestantischen Kirchen, für die jüdische Gemeinschaft und seit dem Jahr 1912 auch für den Islam. Schon damals wurde ihm ein Status als Körperschaft des öffentlichen
Rechts zuerkannt, der an bestimmte Bedingungen geknüpft war. Schon deshalb kann man nicht sagen, dass das neue Gesetz islamfeindlich wäre. In Deutschland wäre der entsprechende Schritt,
Bedingungen zu definieren, unter denen einer Religionsgemeinschaft die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen werden können. Nordrhein-Westfalen hat diesen Weg bereits
beschritten.
ZEIT: Im Grunde lautet die Bedingung doch: dass eine Religion sich zur Demokratie bekennt.
Huber: Ja. Dieser Weg muss weiter gegangen werden. Islamischer Religionsunterricht etwa ist nicht nur dem Islam, sondern auch der Freiheit verpflichtet.
ZEIT: Und wenn die Religionsfreiheit dazu benutzt wird, diese Freiheit zu unterminieren?
Huber: Hasspredigten sind strafbar. Egal im Namen welcher Religion.
ZEIT: Trotzdem ist nicht alles, was in Deutschland gepredigt wird, verfassungskonform: die Ablehnung von Homosexuellen und von Juden. Der Hass auf Mohammed-Karikaturisten.
Huber: Natürlich darf ein Imam Karikaturen des Propheten als nicht hinnehmbar kritisieren. Er hat auch das Recht, seine religiösen Gefühle verletzt zu sehen und das zu artikulieren. Aber er darf
daraus kein Recht ableiten, den Urheber solcher Karikaturen ums Leben zu bringen. Das Furchtbare an der Debatte über Charlie Hebdo war, dass innerhalb und außerhalb des Islams gesagt wurde: Wer
den Propheten verunglimpft, begibt sich willentlich in Lebensgefahr und ist selbst schuld. Es gibt natürlich auch eine Religionskritik, die es einfach chic findet, religiöse Symbole ins
Lächerliche zu ziehen.
ZEIT: Deutsche Zeitungen drucken gelegentlich satirische Darstellungen des Christentums, aber Mohammed-Comics wie von Charlie Hebdo normalerweise nicht. Finden Sie das richtig?
Huber: Nein. Wir müssen eine freie kritische Auseinandersetzung mit den Religionen verteidigen. Und das Recht, Karikaturen geschmacklos zu finden. Aber ebenso wichtig ist es, den Islam als
Minderheitenreligion in seiner öffentlichen Erkennbarkeit zu fördern und wenn nötig zu verteidigen.
ZEIT: Zum Beispiel gegen Islamophobie?
Huber: Genau. Aber es stecken in der Ungleichbehandlung des Islams auch Paternalismus und Bedrohungsangst. Wenn man nur aus Angst sorgsam mit dem Islam umgeht und zugleich sein säkulares Mütchen
am Christentum kühlt, finde ich das sehr unerfreulich.
ZEIT: Die vom IS verfolgten Christen im Irak beklagen, es gebe in Europa eine falsche Langmut gegenüber islamistischem Gedankengut und zugleich eine mangelnde Wehrhaftigkeit gegenüber militanten
Islamisten. Stimmt das?
Huber: Ich sehe für den Mangel an Entschlossenheit einen anderen Grund. Es ist tragisch, dass die Vereinten Nationen an dieser Stelle erneut versagen. Wo massive Gewalt verübt wird, muss die
internationale Rechtsgemeinschaft intervenieren. Stattdessen wird es jedem Staat selber überlassen, zu definieren, welche Gegenwehr angemessen ist.
ZEIT: Die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland haben gemeinsam militärischen Schutz für Verfolgte des IS gefordert.
Huber: Wir waren uns so einig wie selten. Aber auch die Medien könnten beim Thema Schutztruppe beharrlicher sein. Da vollzieht sich eine humanitäre Tragödie. Und wir tun nichts.
ZEIT: Aus Ratlosigkeit?
Huber: Wohl auch aus einem Inselbewusstsein heraus. Wir wollen in dieser unsicheren Welt unsere Insel von Wohlstand und Gewaltfreiheit absichern. Wir schotten uns ab gegen Armut und Hunger, aber
auch gegen Folter und Mord.
ZEIT: Was sagen Sie zu der Angst, unter den Kriegsflüchtlingen könnten IS-Kämpfer sein?
Huber: Wir dürfen niemanden ertrinken lassen, bloß weil er eventuell Islamist ist. Der Rechtsstaat ist stark genug, um etwaige Extremisten nach geglückter Überfahrt abzuschieben.
ZEIT: Und was halten Sie von der Integration deutscher IS-Heimkehrer?
Huber: Das hängt davon ab, was mit dem Wort "integrieren" gemeint ist. Den Wunsch, europäischen Unterstützern des IS vor ihrer Reise in den Irak den Pass abzunehmen, damit sie nicht mehr
zurückkönnen, finde ich moralisch legitim. Rechtlich gibt es zur Integration keine Alternative. Das heißt aber auch, wenn Kriegsverbrecher ihre Verbrechen im Ausland verüben, haben wir die
Pflicht, sie ihrer Strafe zuzuführen. Es genügt nicht, irgendwann die kommandierenden Generale in Den Haag anzuklagen. Aussteiger des IS sind eine Herausforderung für den Rechtsstaat, nicht nur
für Sozialarbeiter.
ZEIT: Wer zum IS geht, der sympathisiert mit Mordplänen. Egal, ob er selbst mordet. Ist das Bekenntnis zum IS nun justiziabel oder nicht?
Huber: Volksverhetzung ist ein strafrechtlicher Tatbestand – und ein weites Feld. Wir dürfen also die Augen und Ohren nicht verschließen vor religiös motivierter Intoleranz.
ZEIT: Apropos Toleranz. Was halten Sie von dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch für Lehrerinnen?
Huber: Das Kopftuch ist jetzt nicht de facto erlaubt. Aber die Bundesländer können es nur verbieten, wenn sie Gründe für die Annahme haben, dass das Tragen des Kopftuchs den Schulfrieden stört.
Dadurch wird leider der Schutz der Religionsfreiheit geringer.
ZEIT: Wieso?
Huber: In dem Augenblick, in dem eine Gruppe von Schülern oder Eltern einen Aufstand organisiert gegen eine kopftuchtragende Lehrerin, ist der Schulfrieden gefährdet. Dann bekommt inszenierte
Empörung eine Verfügungs-gewalt über die Religionsfreiheit der Lehrerin. Die Idee des Bundesverfassungsgerichts war eigentlich, die Religionsfreiheit hochzuhalten.
ZEIT: Lehnen Sie das Gesetz also ab?
Huber: Nein. Aber das Gericht nimmt seine eigene Absicht nicht ernst genug. Das gilt auch für seine Tendenz, religionsspezifische Inhalte nur noch im Religionsunterricht zu erlauben. Was bleibt
denn bei uns vom Kunst-, Musik- oder Literaturunterricht, wenn in diesen Fächern keine erkennbaren Prägungen durch die jüdisch-christliche Tradition mehr erlaubt sind?
ZEIT: Kein Brentano mehr!
Huber: Kein Mendelssohn oder Bach. Nicht einmal Marx! Denn er hat ja in seinen Frühschriften die Religion sehr positiv als Aufschrei der bedrängten Kreatur bezeichnet.
ZEIT: Das Christentum soll an Schulen nicht mehr privilegiert werden gegenüber dem Islam.
Huber: Unsinn! Wenn man etwas streicht, hat das eine andere Bedeutung, als wenn es nie drinstand.
ZEIT: Und was ist mit dem Kruzifix im Klassenraum?
Huber: Es wurde vom Bundesverfassungsgericht im Prinzip verboten.
ZEIT: Beim Kreuz geht es um die Wirkung des religiösen Symbols auf die Schüler, beim Kopftuch nur um die Bedeutung für die Lehrerin.
Huber: Das kann man nicht so trennen. Deshalb muss auch beim Kopftuch ein fairer Ausgleich zwischen der Religions-freiheit der Lehrerin und dem Überwältigungsverbot hinsichtlich der Schüler
geschaffen werden.
ZEIT: Haben wir beim Kreuz einen stärkeren Überwältigungsverdacht als beim Kopftuch?
Huber: Das Kreuz hat dann mehr Überwältigungspotenzial, wenn die staatliche Autorität mit dem Symbol identifiziert wird.
ZEIT: Deutschland hat eine lange Tradition der Trennung von Kirche und Staat. Wie kommt es, dass junge Menschen, die bei uns zur Schule gegangen sind, plötzlich ein Kalifat attraktiv finden und
in einer Theokratie leben wollen?
Huber: Wir haben für die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Religion vor knapp einhundert Jahren eine gute Lösung gefunden. Sie schließt die Theokratie definitiv aus. Nach ihr mögen sich
Menschen sehnen, die in einer unübersichtlichen Welt schlichte Orientierung wollen. Unsere moderne Gesellschaft produziert mehr Fragen als Antworten, das ist anstrengend, deshalb suchen manche
nach absoluter Verbindlichkeit. Und wenn sie die ultimative Antwort haben, dann meinen sie, alle anderen damit beglücken zu können. Notfalls mit Gewalt. An diesem Missbrauch religiöser Gewissheit
muss man sie hindern – um der Religion und um der Menschen willen.
Wofgang Huber ist einer der wichtigsten evangelischen Theologen in Deutschland. Er stritt öffentlich immer wieder für ein aufgeklärtes Verhältnis der Religion zum Rechtsstaat. Als Bischof und als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland setzte er sich für eine Kirche der Freiheit ein. Zuletzt erschien von ihm: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod und Handbuch der Evangelischen Ethik (mit Torsten Meireis und Hans-Richard).
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-06/wolfgang-huber-verhaeltnis-religion-staat
Ein Plädoyer gegen das Alles-oder-Nichts-Denken
Ein Buchauszug von Ruud Koopmans in CICERO ONLINE am 19. Februar 2020
Kann sich der Islam vom Fundamentalismus befreien? Das fragt Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans in seinem neuen Buch „Das verfallene Haus des Islam“. Dass ein Verteufeln der Religion genauso wenig nützt wie sie schönzureden, erläutert er in einem exklusiven Buchauszug für „Cicero“.
Die Suche nach einem Ausweg aus der Krise der islamischen Welt wird durch die Polarisierung der Islamdebatte erschwert. Hier dominieren zwei extreme Positionen, nach denen Unterdrückung, Intoleranz und Gewalt entweder alles oder gar nichts mit dem Islam zu tun haben. Für diejenigen, die glauben, dass der Islam als solcher für die Krise der islamischen Welt verantwortlich ist und dass er nicht reformiert werden kann, gibt es keine andere Lösung, als die Gefahr einzudämmen: Sie plädieren für die Schließung der Grenzen für Muslime sowie strenge Sicherheitsmaßnahmen, die die Bürgerrechte der Muslime einschränken, und wollen im Übrigen der islamischen Welt ihre blutigen Konflikte überlassen.
Eine nachhaltige Lösung bieten solche Maßnahmen natürlich nicht. Der Kampf gegen den Fundamentalismus kann nicht gewonnen werden, wenn wir unsere Identität als offene Gesellschaften durch Maßnahmen aufgeben, die im Widerspruch zu den Freiheiten stehen, die wir nun gerade verteidigen wollen. Darüber hinaus spielt eine solche Politik den fundamentalistischen Argumenten in die Hände. Die Fundamentalisten behaupten, dass es einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Islam und der westlichen Kultur gibt und dass der Westen und andere böse Kräfte darauf aus sind, den Islam zu zerstören. Maßnahmen gegen den Fundamentalismus, die die Muslime und den Islam als Ganzes betreffen, machen dieses Weltbild nur noch glaubwürdiger.
Auch Islamkritiker werden zu Fanatikern
Kritiker, die den Islam für nicht reformierbar halten, haben mehr mit den Fundamentalisten gemeinsam, als ihnen wahrscheinlich bewusst ist. Beide Seiten gehen nicht nur von einem unüberwindbaren Gegensatz zwischen dem Islam und dem Westen aus, sondern glauben auch, dass Muslime keine andere Wahl haben, als den Koran wörtlich zu nehmen und die Handlungen und Aussagen des Propheten Mohammed, die in den Hadithen überliefert sind, eins zu eins in der Gegenwart umzusetzen.
Radikale Islamkritiker sind daher ebenso fanatische Koranexegeten geworden wie die Fundamentalisten. Thilo Sarrazin erklärt zum Beispiel in seinem 2018 erschienenen Buch Feindliche Übernahme stolz, dass er den Koran und viele Hadithe von vorne bis hinten gelesen habe. Er bringt eine endlose Reihe von Zitaten aus den islamischen heiligen Schriften, die beweisen sollen, dass der wahre Islam undemokratisch und frauenfeindlich ist und auf die gewaltsame Unterwerfung der Ungläubigen zielt.
Amateurhafte theologische Analysen
Rechtspopulisten wie der Niederländer Geert Wilders und seine Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) beschäftigen sich ebenfalls regelmäßig mit dem Koran und kommen in ihren amateurhaften theologischen Analysen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Sarrazin: Der Islam der Fundamentalisten sei der einzig wahre Islam. Der islamische Fundamentalismus kann sich keine besseren Feinde wünschen. Die umgekehrte Behauptung, dass Fundamentalismus, Unterdrückung und Gewalt „nichts mit dem Islam zu tun haben“, ist jedoch ebenso kontraproduktiv, weil sie einer kritischen Auseinandersetzung mit den religiösen Wurzeln der Krise im Wege steht.
Dieses Denken ist weit verbreitet, nicht nur unter den Sprechern muslimischer Organisationen, sondern auch in Kreisen von Meinungsmachern und politischen Entscheidungsträgern. Aussagen amerikanischer Präsidenten auf beiden Seiten des politischen Spektrums können dies veranschaulichen. Wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte der republikanische Präsident George W. Bush: „Das Gesicht des Terrors ist nicht der wahre islamische Glaube […,] Islam ist Frieden“. Anderthalb Jahrzehnte später twitterte sein demokratischer Nachfolger Barack Obama: „IS spricht für keine Religion […,] keine Religion lehrt ihre Anhänger, unschuldige Menschen zu töten.“
Intolerante und gewalttätige Koranpassagen
Seine damalige Außenministerin Hillary Clinton meinte: „Muslime sind friedliche und tolerante Menschen, die gar nichts mit dem Terrorismus zu tun haben.“ Die Behauptung, der Islam sei Frieden, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in wenigen islamischen Ländern Frieden herrscht und dass Fundamentalisten, die sich ausdrücklich auf intolerante und gewalttätige Passagen aus dem Koran und den Hadithen berufen, für die tödlichste Welle des Terrorismus verantwortlich sind, die die Welt je gesehen hat.
Das häufig erwähnte Koranzitat, dass es „keinen Zwang in Glaubenssachen geben wird“, steht im krassen Widerspruch zu der Tatsache, dass es in fast allen islamischen Ländern religiösen Zwang gibt und dass Menschen auf der ganzen Welt bedroht und getötet werden, weil sie dem Islam den Rücken gekehrt oder eine kritische Meinung über ihn geäußert haben. Die Behauptung, dass der Islam frauenfreundlich sei, steht im diametralen Gegensatz zu der Tatsache, dass in einer großen Mehrheit der islamischen Länder von der Scharia abgeleitete Gesetze gelten, die Frauen zu Bürgern zweiter Klasse degradieren.
Die Realität des Islams
Nach allen internationalen Statistiken über die Rechte der Frau gibt es keinen Teil der Welt, in dem die Situation der Frauen so schlecht ist wie in der islamischen Welt. Wenn Unterdrückung, Intoleranz und Gewalt nichts mit dem Islam zu tun haben, warum sind sie dann in der islamischen Welt so weit verbreitet? Der Islam, der in jeder Hinsicht unbeschmutzt, friedlich, demokratisch, tolerant und frauenfreundlich ist, ist ein schöner Traum, hat aber wenig mit der Realität des Islam im Hier und Jetzt zu tun.
Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam
Jeder, der glaubt, dass der real existierende nichts mit dem wahren Islam zu tun hat, wird die Frage beantworten müssen, warum dann so viele Muslime ihren Glauben missverstanden haben und warum der Islam offenbar so viel Raum für intolerante, repressive und gewalttätige Interpretationen lässt.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuerschienenen Buch „Das verfallene Haus des Islam“ von Ruud Koopmans.
München: C.H. Beck 2020.
Bassam Tibi, Syrer und Schüler Theodor W. Adornos, ist ein Kenner des Islams.
Worüber er spricht, will in Deutschland niemand hören: Judenhass der Araber, Sexismus und deutscher Extremismus.
https://bazonline.ch/ausland/europa/die-feinde-europas/story/20019634
https://bazonline.ch/ausland/europa/europa-am-scheideweg/story/13285835
Tahar Ben Jelloun, Der Islam, der uns Angst macht,
Berlin: Berlin Verlag 2015
Tilman Nagel, Angst vor Allah? Auseinandersetzung mit dem Islam,
Berlin: Duncker & Humblot 2014
Susanne Schröter, Politischer Islam. Stresstest für Deutschland
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019
Slavoy Zizek, Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne,
Berlin: Ullstein ²2015