Die Rückkehr zum deutschen Modell
Gastbeitrag von Nils Heisterhagen im CICERO ONLIE am 10. Januar 2021
Wie zukunftsfähig ist der „Rheinische Kapitalismus“ heute noch? Tatsächlich ist die Erosion weniger stark vorangeschritten, als von vielen diagnostiziert. Da zugleich klar ist, dass eine Planlosigkeit im Sinne des Neoliberalismus nicht mehr zum Ziel führt, braucht das Deutsche Modell dringend ein Update.
„Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ – das ist die optimistische Philosophie von Friedrich August von Hayek und anderer Neoliberaler, die uns den Markt als Wegweiser in die Zukunft empfehlen, welcher von unsichtbarer Hand alles von alleine zum Guten führt. Ordnung entstehe „spontan“ und Preise, Zinsen, Wettbewerb ordnen von sich heraus und schaffen den Weg in die Zukunft. Dafür dürften den Marktteilnehmern kaum Hindernisse in den Weg gelegt werden.
Es gibt aber kapitalistische Gegenbilder zu diesem auch als „liberale Marktwirtschaft“ bezeichnetem kapitalistischen System. In der politikwissenschaftlichen Forschung spricht man von „varieties of capitalism“. Es gibt also nicht nur ein kapitalistisches System, sondern verschiedene Modelle. Und für Deutschland spricht man von „koordinierter“ oder „kooperativer“ Marktwirtschaft. Im Gegensatz zum angelsächsischen Modell der liberalen Marktwirtschaft wird also für Deutschland unterstellt, dass der Kapitalismus hier anders funktioniert.
Tut er das? In Deutschland gibt es die Sozialpartnerschaft, es gibt ein eng verzweigtes Verbändewesen, Arbeitgeber sind in Verbänden organisiert, viele Arbeitnehmer noch in Gewerkschaften. Das alleine führt zu mehr Notwendigkeit an Kooperation und Koordinierung.
Erosion des „Rheinischen Kapitalismus“
Nun wird diesem „deutschen Modell“ des „Rheinischen Kapitalismus“ allerdings auch seit längerem eine Erosion unterstellt, wodurch der „Neoliberalismus“ und damit das Modell der „liberalen Marktwirtschaft“ in Deutschland spätestens seit den 1980er Jahren immer mehr dominiere. Dies habe primär drei Gründe:
Erstens gebe es weniger Tripartismus – also Zusammenarbeit von Staat, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern. So gab es etwa noch unter Wirtschaftsminister Karl Schiller in den späten 1960er Jahren die sogenannte „Konzertierte Aktion“. Sie war eine Art kollektives Verhandlungsforum, in dem wesentliche Stakeholder der Gesellschaft miteinander diskutierten und schauten, wo Konsens oder zumindest Kompromiss möglich war. Es waren regelmäßige Treffen, die aber irgendwann nicht mehr stattfanden.
Zweitens: Die Macht der Gewerkschaften und die Tarifbindung ging zurück und die Macht des globalisierten Kapitals stieg. Eine Erosion der Gewerkschaften, so die These, führe also zu einer Erosion des deutschen Modells.
Drittens: Das deutsche Modell machte auch die sogenannte „Deutschland AG“ aus. Die Deutschland AG war lange auch das Synonym für das deutsche Modell im Generellen. Damit war eine Verflechtung von Industrieunternehmen, Banken und Versicherungen gemeint, die durch gegenseitige Kapitalbeteiligungen und Aufsichtsmandate miteinander verbunden waren. Nun führte aber auch hier die Internationalisierung des Kapitals, der Aufstieg des Investmentbankings und die Beschränkung der Aufsichtsratsmandate zu einem Machtverlust der Deutschland AG Manager. Und grundsätzlich wurde diesem Netzwerk von Managern aus neoliberaler Perspektive angelastet, Wettbewerb zu verhindern. So wurde die Deutschland AG vom neoliberalen Modell selbst angegriffen. Die feindliche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone gilt dabei heute als symbolisches Ende der Deutschland AG.
Aber stimmt das?
Tatsächlich kommt die Diagnose der Erosion des deutschen Modells zu früh.
Denn erstens kommen die „Konzertierten Aktionen“ langsam zurück. Zwei Beispiele: die „Konzertierte Aktion Pflege“ und das „Bündnis: Zukunft der Industrie“. Die „Konzertierte Aktion Pflege“ war eine „Konzertierte Aktion“, die den Namen verdient. Sie wurde im Juli 2018 vom Bundesgesundheits-, Bundesfamilien- und Bundesarbeitsministerium gestartet. Mit den Ländern, Pflegeberufs- und Pflegeberufsausbildungsverbänden, Verbänden der Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, den Kirchen, Pflege- und Krankenkassen, Betroffenenverbänden, der Berufsgenossenschaft, der Bundesagentur für Arbeit sowie den Sozialpartnern waren viele Akteure involviert. Es gab ein Dachgremium und fünf Arbeitsgruppen, die konkrete Ergebnisse ausgearbeitet haben. Die Ergebnisse lassen sich sehen. Seit März 2015 arbeitete auch das Bündnis „Zukunft der Industrie“. Es wurde initiiert von der IG Metall, dem Bundeswirtschaftsministerium und dem BDI.
Zweitens ist die Macht der Gewerkschaften nicht in dem Maße erodiert, wie es gemeinhin unterstellt wird. Die IG Metall beispielsweise konnte in den letzten Jahren ihre Mitgliedschaft nicht nur stabil halten, sondern teilweise sogar leicht ausbauen. Die Dienstleistungsgesellschaft „Verdi“ ist zwar deutlich schwächer als die IG Metall, aber sie hat sich zumindest konsolidiert. Und der DGB hat immer noch einen großen Einfluss auf Politik und Wirtschaft.
Drittens: Die Deutschland AG ist nicht komplett verschwunden und nach der Finanzkrise wuchs das Eingeständnis, dass ein neoliberal organisiertes kapitalistisches System massive Probleme und Strukturfehler hat. Der Staatseinstieg bei manchen deutschen Banken tat hier sein Übriges. Seitdem hat es zwar keine wirkliche Renaissance der Deutschland AG gegeben, aber die Erosion wurde zunächst gestoppt.
Die Veränderungen sind zu umfassend
Nun steht das deutsche Modell allerdings vor einer neuen Prüfung. Zu viele Transformationen und Herausforderungen stehen vor der Tür, die ohne Koordinierung und Kooperation nicht gut gelöst werden können – wie Digitalisierung, Umbau der Autoindustrie und ihrer Zulieferer, Dekarbonisierung der deutschen Industrie, Integration von Künstlicher Intelligenz in nahezu alle Industriegüter, Um- und Neuqualifizierung von Mitarbeitern, Schaffung neuer Bildungsabschlüsse, und notwendige finanzielle Impulse in Forschung und Entwicklung.
Die Veränderungen, die vor dem Land und dem europäischen Kontinent stehen, sind einfach zu umfassend, als dass sie jeder für selbst bewältigen könnte. Wenn jeder an sich denkt, ist eben noch nicht an alle gedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Interessen der Einzelnen besser maximieren lassen, wenn man vorher mal miteinander gesprochen hat, steigt zurzeit massiv. Wir sind 2020 an einem Scheideweg. Die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft sind durch das Auftreten neuer Technologien und neuer Wettbewerber aus Asien einfach so groß, dass ein „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ zu naiv und zu blauäugig wäre. Abwarten und auf die heilenden Kräfte des Marktes warten, wird sich als kindlicher und ideologischer Irrtum erweisen. Die Notwendigkeit zu einer Art Globalsteuerung, wie es das Programm unter Karl Schiller war, ist zurück. Niemand will den Geist der 1960er und 1970er Jahre einfach auf das Jahr 2020 übertragen. Aber wir brauchen diese Philosophie zurück. Denn Deutschland muss sich besser koordinieren. Es braucht mehr Planung. Mehr Industriepolitik – verstanden als gesamtwirtschaftliche Strategie und Marschrichtung.
Eine europäische Geopolitik findet nicht statt
Hinzu kommt, dass Veränderungen von EU-Regulierungen eine einigermaßen vereinte Stimme Deutschlands brauchen, die sich mit einer neoliberalen Philosophie hierzulande nicht finden lässt. Wenn Deutschland „seine“ Interessen auf EU-Ebene noch nicht mal einigermaßen einheitlich formulieren kann, wie sollen dann deutsche Interessen gegenüber EU-Gesetzgebung anders als planlos und anarchisch einfließen? Und wie sollen EU-Regulierungen schlagkräftig sein, wenn das größte Mitgliedsland nicht klar artikulieren kann, was es will? Genau das ist zurzeit und schon länger der Fall.
Darüber hinaus ist es so, dass eine europäische Geopolitik zurzeit nicht stattfindet, weil man nicht in der Lage ist, seine eigenen Interessen innerhalb der EU ordentlich zu koordinieren. Dabei braucht es eine koordinierte industriepolitische EU-Strategie, um die europäische Souveränität zu sichern. Europa gerät in eine G2-Welt, die von dem bipolaren Kampf der USA und China um technologische und politische Hegemonie geprägt ist. Ein neoliberal zerfallenes Europa, in dem jeder seine eigenen Interessen maximieren will, hat auf weltpolitischer Bühne keine Durchschlagskraft mehr.
Neoliberale Planlosigkeit bedeutet Schwäche
Stärke zieht man heute aus Klarheit. Planlosigkeit im Sinne des Neoliberalismus ist heute ganz und gar keine Stärke, sondern eine Schwäche – nicht nur deswegen, weil man ziemlich genau weiß, welche Technologien in naher Zukunft wichtiger werden. China etwa macht das zurzeit besser. Viel besser, weil sie vorausplanen wie mit ihrer „Made in China 2025 Strategie“. So eine Industriepolitik gibt es eben auch nur mit Koordinierung – mit dem Staat als Zentrum. Wozu hat Deutschland DGB, BDI, BDA, Gesamtmetall, IG Metall und IGBCE? Nur zur Interessenvertretung? Nein auch zur Koordinierung von Interessen.
Das deutsche Modell des Kapitalismus – gerade dann, wenn es sich in ganz Europa durchsetzt – ist geeignet, um die anstehenden Herausforderungen besser zu meistern. Aber dafür muss man selbstbewusst zum deutschen Modell zurückkehren. Das deutsche Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ könnte sogar selbst ein geopolitischer Faktor werden. Es könnte selbst beweisen, dass es letztlich das effektivere kapitalistische System ist. Koordinierung, Kooperation und mehr Planung könnten sich als dem angelsächsischen Modell des Kapitalismus als überlegen zeigen.
Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und „Die liberale Illusion“.
Varianten des Kapitalismus - Die
Rückkehr zum deutschen Modell