Was ist ein Staat anderes als eine Räuberbande, wenn ihm die Gerechtigkeit fehlt?
Aurelius Augustinus
Die Idee des Naturrechts ist die Gerechtigkeit.
Leo Strauss
Naturrecht
Mit dem Begriff Naturrecht wird die Idee bezeichnet, dass die Normen des menschlichen Zusammenlebens durch die Natur des Menschen begründet werden können und müssen. "Natur" bedeutet hierbei „Wesen“. Das heißt:
Es geht in keiner Weise um die „Rechte der Natur“ etwa im Sinne moderner ökologischer Ethik (Naturethik). Gleichwohl entsteht die Idee des Naturrechts in der Antike unter der Perspektive der Einheit der Natur (Physis) und der menschengemachten Gesetze (Nomos).
Antikes Naturrecht
Schon in der Vorstufe naturrechtlichen Denkens wird von Heraklit formuliert: „Gesundes Denken ist die größte Vollkommenheit, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln nach der Physis, auf sie hinhörend“ (Diels 1957: 112). Die Gemeinsamkeit von Physis und Nomos liegt im Logos, der göttlichen Einheit der Weltgesetze, aus der sich die Gesetze der Natur und der Vernunft, welche die Gesetze der Gemeinschaft aufstellt, speisen.
Die Sophisten begründen dann das Naturrecht mit einer Gegenposition. In einer Phase der griechischen Ge-schichte, in der sich die antike Demokratie formiert, entstehen die Ideen der Freiheit, der subjektiven moralischen Verantwortung, aber auch der Rechte des Einzelnen sowie der persönlichen Überzeugungskraft. Die Macht des Brauchtums der Stammeskulturen und der Blutrache wird so gebrochen. Es können Gesetze des rechten Tuns und der Rechtssprechung durch die Übereinkunft vernünftig Diskutierender gefunden werden. Platon hat dieses Verfahren in den sokratischen Dialogen überliefert und im „Gastmahl“ solche Zusammenkünfte dokumentiert.
Das vernünftige Subjekt erhält gesellschaftliche Geltung gegenüber allem Naturhaften.
Mit dem sophistischen Naturrechtsgedanken wird die nominalistische Linie des Rechtsprinzips begründet, das von den natürlichen Anlagen des Einzelnen – hier noch dessen Vernunft und der Wille, die Wahrheit und das Gerechte zu finden – ausgeht. Ihm steht das platonische Naturrecht gegenüber.
Anknüpfend an Sokrates, der bereits der Idee einer objektiven Gerechtigkeit mehr Raum gegeben hatte, geht Platon von der Existenz absoluter Ideen aus, deren Gehalt in der menschlichen Handlungsweise zu realisieren ist. Durch theoretische Kontemplation kann sich der Einzelne den absoluten Ideen annähern. Das Medium des rechten Tuns, in dem die a priori existierenden Ideen (z. B. des Guten, Wahren und Schönen) in die Tat umgesetzt werden können, ist die Vernunft. Mit Vernunft gilt es die Triebe (Begierden und Kampfeslust) zu beherrschen.
Das rechte Tun folgt aus Selbstbeherrschung, einer vernünftigen Balance zwischen höherer vernünftiger Seelen-tätigkeit und jenen Begierden.
Bei Aristoteles wird unter der Voraussetzung der vorsokratischen Idee der Einheit allen Seins in der Natur die sophistische einzelne Kraft zur Rechtschaffenheit (in der Überzeugungskraft) mit der platonischen Vorherrschaft des Absoluten verbunden. Es bedarf der im Einzelnen wirkenden natürlichen Formkräfte (Entelechie), um das allgemein Gesetzmäßige apriorischer Ideen wirklich werden zu lassen. Es ergibt sich eine teleologische Weltsicht, in der alles Einzelne mittels seiner Naturanlagen einem Endzweck, der Vollkommenheit seines jeweiligen Seins, zustrebt. Damit das natürliche Streben des Einzelnen beim gemeinschaftlichen Handeln bewertet werden kann, muss es dem Einzelnen zugerechnet werden können. Zurechenbar ist eine Tat, „wenn wir ihrer Herr sind, so dass wir auch anders handeln konnten“ (Welzel 1962: 35); und dies gilt für „alles, was der Gestaltungsmacht der Ver-nunft unterliegt“ (ebd.). So erhält das vernunftgeleitete Streben Anschluss an das Natürliche und der Staat, der aus dem natürlichen Streben nach Gemeinschaft hervorgeht, repräsentiert diese Einheit für alle.
Mit dem platonischen sowie dem aristotelischen Naturrecht wird die Linie des universalienrealistisch begründeten Rechts eröffnet, das dem nominalistischen gegenüber steht. Diese beiden Linien des Denkens bilden in der Scho-lastik die Pole der Diskussionen über den Gottesbegriff und bleiben bis heute bestimmend; sie werden in der Folgezeit in der Unterscheidung zwischen Empirismus/Liberalismus und Rationalismus/französische Aufklärung bzw. Konservatismus artikuliert oder durch Vermittlungsversuche ausdifferenziert.
In der Stoa wird das platonische/aristotelische Denken verallgemeinert. War bis dahin nach den rechten Ge-staltungsgrundsätzen der Polis gefragt worden, so wird nun das Handeln als bestimmt durch die Allvernunft des kosmischen Ganzen begriffen. Bestimmend für das Handeln ist das Schicksal. Allnatur und menschliche Natur sind in Übereinstimmung, wenn naturgemäß gelebt wird. Dieses Leben besteht dann aus einem liebevollen Selbsterhaltungstrieb: Achtsamkeit auf Gesundheit, sinnliche Aufmerksamkeit, Erinnerungsvermögen usw. Ein solches Leben gestaltet sich als Streben nach der Vervollkommnung der eigenen Vernunft und bedeutet den ruhigen Einklang mit sich selbst und dem Kosmos.
Christliches Naturrecht
Durch Augustinus wird das Naturrecht christlich begründet. Einerseits bestärkt er – im Geiste Paulus’ – die no-minalistische Linie der absoluten Willenfreiheit Gottes und damit die Ansicht, die Menschen seien der Vorherbe-
stimmung ausgeliefert; andererseits geht er gemäß der platonischen Tradition von einer Naturordnung aus, die Vernunftordnung ist und dem Menschen Richtlinien für das rechte Tun bietet.
Demgegenüber formuliert in der universalienrealistischen Traditionslinie Thomas von Aquin, für die Folgezeit
sehr wirksam, das Naturrecht im Sinne von Aristoteles’ Metaphysik. Das Gute folgt aus dem natürlichen Streben und vernünftigen Wollen, und deren Einheit ist die Vernunft. Vernunftgemäß zu handeln verwirklicht dann Gottes Gesetze und begründet die menschliche Freiheit, die sich durch Bindung konstituiert: durch den Glauben an Jesus Christus verbunden mit der Bindung an jene Gesetze, welche der gnädige Gott den Menschen vorschreibt.
Eine nominalistische Gegenbewegung gibt es im christlichen Naturrecht – ausgehend von Augustinus – bei Johannes Duns Scotus sowie William von Ockham, an den Hobbes anknüpft und damit zu den säkularen Natur-rechtslehren überleitet. Auch wenn Gott noch als existent betrachtet wird, so steht doch das Anliegen im Vorder-grund, den Umbruch vom Feudalismus und Absolutismus zum Kapitalismus und zur Demokratie in ökonomi-schen und politischen Theorien zu bewältigen. Die bürgerliche Gesellschaft muss legitimiert werden.
Neuzeitliches und modernes Naturrecht
Bei Hobbes wird die natürliche Überzeugungskraft der Vernunft von den Sophisten zum natürlichen Kampfes-willen, der zwar dem Einzelnen zum Überleben nützt, aber zum permanenten Kriegszustand (Naturzustand) führt. Daher gebietet der Verstand, der dem „Naturgesetz der Vernunft“ (Hobbes, Locke sowie auch Rousseau) folgt,
alle einzelnen Überlebensrechte an einen totalen Staat abzugeben; der regelt das Leben der Gemeinschaft zum Nutzen aller friedlich. Diese übergeordnete Autorität verdankt ihre Verfügungsgewalt keinem höheren allge-meinen Existenzprinzip, ist nur ein nützliches menschliches Konstrukt. Eine solche Konstruktion leistet der Legitimation Vorschub, transzendente Prinzipien wie jene, die den Absolutismus begründeten, für obsolet zu erklären (ebenso wie seinerzeit in der Antike das Naturrecht der Macht des Mythos und der Gewalt des Brauch-tums entgegengestellt wurde). Im nominalistischen Verständnis ist die Existenz solcher universeller Gesetze und Prinzipien ungewiss; sie ist mit menschlichen Mittel nicht beobachtbar. Falls es solche Gesetze gibt, sind sie ge-nauso unerkennbar wie Gottes allmächtiger Wille. Das ist die Basis des Nominalismus, der empiristischen Er-kenntnislehre und des Liberalismus: Jedes einzelne Ereignis wird zunächst als beliebig auftretend angesehen,
und allgemeine Gesetzmäßigkeiten werden aus vielen Beobachtungen solcher (als vergleichbar anmutender) Ereignisse durch einen unvoreingenommenen Verstand induktiv generalisiert. Dem entspricht die liberale Idee der Freiheit des Menschen: Sie bedeutet Beliebigkeit, denn der Kampf aller gegen alle im Naturzustand unterliegt keiner Ordnung.
Im Gefolge wird die Staatsidee demokratisiert – z. B. durch die Konzeption der Gewaltenteilung und des Schutzes des Eigentums bei Locke (Naturzustand). Gleichwohl bleibt es bei der rein formalen Ordnungsfunktion des Staates. „Gleichheit“ bedeutet Chancengleichheit im ökonomischen „Überlebenskampf“, und der Staat überwacht jene Freiheit des Einzelnen gegenüber ihm als Ordnungsmacht, das heißt, er garantiert deren Unantastbarkeit in der Privatsphäre (Gesellschaft) und sorgt für Interessenausgleich zwischen Konkurrenten. Die Gesellschaft ist „plura-listisch“, weil die Garantie der Vielzahl aller Meinungen Voraussetzung für die Verbindung von Beliebigkeit und Gleichheit ist. Die gesellschaftliche Synthesis folgt keiner höheren Vernunft und keinem vorgegebenen univer-sellen Sinnzusammenhang. Das Ganze des Zusammenlebens ergibt sich gerade aus Regeln der Substitution
einer solchen übergeordneten transzendenten Legitimation. Das Verhältnis von allgemeiner Regel gegenüber Einzelereignis einerseits bzw. Staat gegenüber Bürger andererseits ist jeweils das der formalen Subsumtion.
Der empiristischen/liberalistischen Linie des Naturrechts gegenüber wird die universalienrealistische, platonische bzw. aristotelische und stoische Tradition im Rationalismus weitergeführt. Dessen Erkenntnistheorie zufolge sind universelle Gesetze und Ideen eine primäre Realität, die in den Einzelereignissen zum Ausdruck gebracht wird.
Die Welt ist ein vernünftig geordnetes, im Prinzip durch die menschliche Vernunft erkennbares Ganzes. Es funktioniert – gemäß der cartesischen Variante des Rationalismus – mechanisch, so dass seine einzelnen Ele-mente dann funktionstüchtig sind und Geltung besitzen, wenn sie dieser strikten Ordnung gehorchen. Bei Rousseau und in der Tradition der französischen Aufklärung wird der Rationalismus ebenso wirksam wie im Konservatismus, der aber auf einer monadologischen/teleologischen Fassung des Rationalismus aufbaut.
Rousseau steht in der Tradition von Descartes – „nachdem ich mich also meiner selbst versichert habe, beginne ich, mich außer mir umzusehen“ (Rousseau 1931b: 189) – sowie, im christlichen Rahmen, des Protestantismus. (Rousseaus Positionierung sowohl gegen die empiristische/liberale als auch gegen eine teleologische Auslegung des Rationalismus wird in seiner Schrift „Emile“ deutlich; vgl. ebd.: insbesondere 132-142 im ersten und zweiten Buch. Zu seinem subtilen Versuch, sein positives Menschenverständnis im Naturrecht mit der protestantischen Sichtweise der Stellung des Menschen zwischen Freiheit und Gottes Vorsehung in Einklang zu bringen, lohnt es sich, die gleiche Schrift: 182-206/„Glaubensbekenntnis …“ zu beachten; vgl. auch Barth 1960: 153-207).
Ausgangspunkt ist auch bei Rousseau ein Naturzustand des Menschen. Er wurde überwunden, denn in diesem neutralen Zustand ohne gesellschaftliches Bewusstsein bildet sich Arbeitsteilung auf Basis natürlicher Unter-schiede aus, und es entsteht „eine Art … von unwillkürlicher Klugheit“ (Rousseau 1931: 89) mit Reflexions-vermögen, aber auch mit asozialen Folgen: „der Verstand erzeugt den Egoismus, die Reflexion stärkt ihn“ (ebd.: 86). Die Reflexion führt nämlich auch das Bewusstsein von Über- und Unterordnung mit sich. Es entstehen Stolz, Habgier, Ehrgeiz, Bosheit, Missgunst, Eitelkeit, Schamgefühl und Neid.
Das bedeutet: Gesellschaftliche Missstände wie etwa die Willkürherrschaft im absolutistischen Feudalstaat sind nicht natürlich, sondern Ergebnis fehlgeschlagener menschlicher Organisation des dem Naturzustand ent-wachsenen Zusammenlebens. Ist dann eine „letzte Stufe der Ungleichheit erreicht“ (ebd.: 96), werden „neue Revolutionen die Regierung völlig auflösen“ (ebd.). Sobald danach die bürgerliche Gesellschaft durch Vertrags-abschluss zwischen den Mitgliedern des Volkes konstituiert ist, sieht sich der Mensch „genötigt … seine Vernunft zu Rate zu ziehen“ (Rousseau 1931a: 252), um Gerechtigkeit an die Stelle von Instinkt, Pflicht an die Stelle sinn-licher Antriebe, Recht an die Stelle der Begierde zu setzen (vgl. ebd.: 252 f.).
Nur das, was zur „Entartung der Gattung“ (Rousseau 1931: 91) geführt hat, die Reflexion, kann für die Gattung
auf einer neuen Stufe jener „Güte, die für den reinen Naturzustand angemessen war“ (ebd.), nämlich nun ganz bewusst der Gleichheit verpflichtet, zum Durchbruch verhelfen: Vernunft. Durch sie wird demokratisches Be-wusstsein eine Tugend, denn „die gesellschaftlichen Tugenden hatte der Naturmensch im Keim mitbekommen“ (ebd.: 88). Das Gute im Menschen kann per Vertrag zu einem allgemeinen Apriori vernünftigen gemeinschaft-lichen Handelns erhoben werden. Daraus ergibt sich „ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel
zu bestimmen dem Souverän zukommt, nicht sowohl als religiöse Dogmen, wohl aber als soziale Gesinnung … Ohne irgend jemanden zwingen zu können, jene Artikel zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen,
der ihn nicht glaubt“ (Rousseau 1931a: 276). Er kann „nötigenfalls sein Leben seiner Pflicht opfern“ (ebd.).
Die radikale Konsequenz dieser Lehre zeigte sich während der französischen Revolution im Jakobinismus.
Jener Souverän ist der volonté géneral: Die Bürger konstituieren gemeinsam ihre Gemeinsamkeit als den Willen aller (volonté de tous), sich diesem Willen als allgemeinem, für sie apriorischen zu unterwerfen. So handelt jeder Einzelne gleichberechtigt, selbstbestimmt und zugleich allgemeingültig, weil er konstitutiv und funktional auf den generellen Willen bezogen ist. Das metaphysische universalienrealistische Apriori des gesetzmäßigen Weltganzen für jedes Einzelereignis, das durch rationale Spekulation erkannt werden kann, ist säkularisiert zum selbst-konstruierten, gewissermaßen gesellschaftlich-transzendentalen Staatsganzen. Dieses Ganze wird als durch die Bürger mit Vernunft antizipiert angesehen und wird dann der Freiheit eines jeden Einzelnen dienlich durch dessen Unterwerfung unter die Erkenntnis der Notwendigkeit, dieses höhere Ganze anzuerkennen.
Die meisten Varianten der kontinentaleuropäischen Form des Konservatismus werden durch die aristotelische Lesart des christlich-humanistischen Naturrechts (im Sinne von Thomas von Aquin) geprägt; sie ist teleologisch.
In der Differenz sowohl zum mechanistischen Rationalismus bzw. zur französischen Aufklärung als auch zum Empirismus bzw. Liberalismus sind die Rechte des Individuums immer in der Weise mit dem Gedanken eines organischen Ganzen der Gesellschaft und des Staates verbunden, wie bei Aristoteles die natürlichen Anlagen des Einzelnen und der Kosmos als ganzer durch das vernunftgeleitete Streben jedes Einzelnen in Übereinstimmung sind. So entwickelt sich das Individuum naturgemäß, wenn es mit Vernunft dem Ganzen Ausdruck verleiht. Freiheit erlangt es, wenn es in diesem Ausdrucksgeschehen seine Besonderheit zur Vollkommenheit entwickelt. Damit gehen die Ideen einer organischen Gesellschaft und des ‛organischen Staates’ einher.
Differenzierung der modernen Naturrechtslehren anhand ihres Individualitätsbegriffs
Anhand des Begriffs der Individualität kann die (interne) Differenz zwischen teleologischem und mechanistischem Rationalismus sowie die (externe) Differenz beider zum Empirismus/Liberalismus noch einmal verdeutlicht werden.
Im Außenverhältnis steht dem rationalistischen Naturrechtsverständnis der Liberalismus gegenüber. Dort ist das Individuum strikt getrennt vom Allgemeinen, ist nicht Ausdruck einer höheren Substanz; es steht ihm gegenüber, so dass eine Verbindung mit dem Allgemeinen (z. B. dem Staat) nur durch formale Subsumtion erfolgen kann. Der Zweck dieser Verbindung heißt „Nutzen“, ist nicht auf irgendeine Vollkommenheit ausgerichtet.
Analog gilt für die französische Aufklärung: Die Individuen subsumieren sich formal nach dem Gleichheitsprinzip dem Ganzen, die Differenz zum Liberalismus besteht darin, dass sie das inhaltlich aufgrund eines säkularen Systems der Tugend legitimieren. Der Einzelne ist Teil einer höheren, real existierenden allgemeinen und gesetz-mäßigen Ganzheit. Das Ganze ist ein vorgegebener Mechanismus, dessen Funktionen durch die Individuen erfüllt werden. Diese drücken dessen höhere Notwendigkeit aus, und die Freiheit der Individuen besteht in der als Tugend empfundenen Funktionserfüllung im Rahmen dieser von ihnen selbst gewollten Notwendigkeit.
Im Gegensatz zum Liberalismus ist das Ganze im teleologischen Rationalismus mit einem potenziellen Endzweck der Entwicklung der vielen Individuen verbunden, welche dieses höhere Ganze als eine empirische und histori-sche Wirklichkeit zu repräsentieren und hervorzubringen suchen. Das Individuum strebt mittels seiner inneren Anlagen danach, auf besondere Weise jene allgemeinen Prinzipien zu verwirklichen. Individualität bedeutet, dass sich jeder darin bewährt, die vorgegeben Gesetze des Universums (historisch: der Tradition; politisch: des Staates) auf einmalige Weise zum wirklichen Leben zu erwecken und damit zur eigenen Vervollkommnung sowie durch seine Eigenart zur Vollkommenheit des vorgegebenen Ganzen beizutragen: Selbstzweck des Einzelnen und Endzwecke des Ganzen fallen zusammen.
Höheres Ganzes und Individuum sind durch ein substanzielles Ausdrucksgeschehen miteinander verbunden. Die Vielfalt der gelungenen Individuierungen führt zur Stabilität und Vollkommenheit des Ganzen. Das Modell hierfür ist die Idee der Monade im Verhältnis zur „prästabilierten Harmonie“ bei Leibniz; es wurde durch Herder in die Geschichtsphilosophie eingeführt. Der damit zwingend gegebene Entwicklungsgedanke ist organologisch und
die Basis der Idee des Lebens. Darauf gehen die konservativen Konzeptionen vom „organischen Staat“ zurück.
Die Freiheit des Einzelnen ist dann immer nur in der Bindung an und als Ausdruck des übergeordneten Ganzen
zu verwirklichen. Fortschritt wird legitimierbar als Weitergabe von Tradition.
Ulrich Eisel
(Eisel, Ulrich 2012: Naturrecht [Version 1.1]. In: Kirchhoff, Thomas (Redaktion): Naturphilosophische Grund-begriffe. www.naturphilosophie.org.) Copyright beim Autor.
Basisliteratur
Weiterführende Literatur
Naturrecht | NaturphilosophieNaturphilosophie
Naturrecht muss praktisch werden, um ethisch und politisch wirksam werden zu können.
"Die Idee des Naturrechtes ist die Idee der Gerechtigkeit." (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte)
Da das Naturrecht jedoch selbst eine Geschichte hat, die von Sokrates über Augustinus bis zu Eric Voegelin, Leo Strauss und Gustav Radbruch reicht, und da diese Geschichte der Naturrechtslehren von Philosophen, Theologen und Rechts-gelehrten erforscht, studiert und diskutiert werden kann, ist es in der geschichts-bewussten Moderne auch unter den Philosophen, Theologen und Rechtsgelehrten strittig geworden, ob es überhaupt ein ganz bestimmtes allgemein gültiges Naturrecht gibt, und falls ja, wie es einhellig zu verstehen ist.
Aufgrund des strittigen Charakters der Naturrechtslehren in der geschichtsbewussten Moderne ist es praktisch notwendig geworden, sich zu fragen, wie ein möglichst einhelliger Konsens über das Naturrecht erreicht werden könnte, damit das Naturrecht auch in der Gesellschaft, im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat (Legislative, Dijudikative und Exekutive) und in der republikanischen Politik praktisch wirksam werden kann. Zur Wirklichkeit der Gesellschaften, der Rechtsstaaten (Legislative, Dijudikative und Exekutive) und der Politik in der geschichtsbewussten Moderne gehört es in ganz Europa, dass die christlichen Kirchen und andere religiösen Institutionen, wie z.B. die jüdischen Synagogen und die islamischen Moscheen, von den staatlichen Rechtsordnungen zu unterscheiden sind.
Mit wenigen Ausnahmen wie den Kleinstaaten Malta, Liechtenstein und dem Vatikan gibt es in Europa kaum noch Staaten, in denen der Römische Katholizismus Staatsreligion ist, aber andere Religions- und Konfessionsgemeinschaften wie die der Protestanten, Juden und Muslime im Sinne eines christlichen Toleranzstaates geduldet und geschützt werden. In den meisten Staaten Europas (ganz gleich, ob sie zur EU gehören oder nicht) gilt hingegen nicht nur die besondere Trennung von christlicher Kirche und weltlichem Staat, sondern die Trennung aller Religionen vom säkularen freiheitlich- demokratischen Rechtsstaat. Diese Trennung von Religion und Staat ist übrigens selbst jüdischen und christlichen Ursprungs und keine Erfindung der Neuzeit und Moderne, wie häufig behauptet wird.
Außerdem ist das Naturrecht selbst stoischen und römischen und nicht jüdischen und christlichen Ursprunges und konnte nur von der katholischen Kirche und später auch von den Kirchen der Reformation adoptiert werden, weil es mit den biblischen Forderungen nach Gerechtigkeit voll und ganz übereinstimmte. Daher kann in der geschichtsbewussten Moderne nur ein allgemeines Naturrecht auf allgemeine Akzeptanz stoßen, das alle Bürger und Menschen gilt, ganz gleich, ob sie säkulare Atheisten oder Humanisten oder aber ob sie Juden, Christen oder Muslime sind.
Gleichwohl steht es allen Bürgern frei, an ein religiös verstandenes Naturrecht zu glauben und ihr Leben daran zu orientieren, solange sie es nicht generell über die Geltung des positiven Rechtes im Rechtsstaat stellen. Muslime dürfen daher auch nach der Scharia leben und z.B. in Konflikten mit ihren Glaubensgenossen auch islamische Schiedsgerichte zur Schlichtung in Anspruch nehmen, solange sie sich dabei im Rahmen der Gesetze des positiven Rechtsstaates bewegen.
Freilich kann es in einigen Fällen auch zu Konflikten zwischen naturrechtlichen Präferenzen und dem geltenden Recht kommen. Dann muss das geltende positive Recht jedoch Vorrang haben, zumal es auch den Widerstand gegen die Staatsgewalt aus Gewissensgründen kennt. Das gilt dann u.a. auch für Muslime, die primär den Geboten des Koran Folge leisten wollen. So ist z.B. die islamische Vielehe und die Ehe volljähriger Männer mit minderjährigen Mädchen in Deutschland, Österreich und der Schweiz von den jeweiligen Verfassungen und bürgerlichen Gesetzbüchern her verboten und Muslime müssen sich daran halten, obwohl sie der Koran erlaubt und obwohl der bereits zweifach verheiratete Mohammed selbst die neunjährige Aisha als dritte und jüngste Frau von zehn Frauen geheiratet hatte. Minderjährigkeit, Volljährigkeit und Eherecht werden von den rechtsstaatlichen Gesetzgebern bestimmt und Muslime müssen die vorrangige Geltung der Gesetze dieser Rechststaaten akzeptieren. Andernfalls würden sie ein Unrecht begehen und sich strafbar machen, ganz gleich was der Koran dazu festgelegt hat und was Mohammed vorgelebt hat.
Obwohl viele Muslime neueren Umfragen zufolge der Auffassung sind, dass die angeblich von Gott offenbarten Gesetze des Koran für sie verbindlicher seien und über den von Menschen bestimmten Gesetzen der Rechtsstaaten stehen, müssen sie sich an diese staatlichen Gesetze halten. Natürlich dürfen sie denken und sagen, was sie wollen, aber sie dürfen nicht danach handeln, selbst wenn sie es dem Koran zufolge für richtig halten.
Der Koran erlaubt es z.B. auch, dass Männer ihre Frauen schlagen und züchtigen, wenn sie ihnen nicht gehorchen. Die Gesetze in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbieten das seit einigen Jahrzehnten. Auch in einem solchen Konflikt zwischen den Regeln des Koran und den Regeln der staatlichen Gesetze müssen Muslime sich an das geltende Gesetz der Rechtsstaaten halten. Ähnliches gilt freilich auch bei entsprechenden Konflikten zwischen jüdischen, christlichen oder anderen Geboten oder Verboten und rechtsstaatlichen Gesetzen, wie z.B. bei der jüdischen Tradition der Beschneidung von Jungen oder bei der Ablehnung von Bluttransfusionen durch Zeugen Jehovas oder bei der generellen Verweigerung christlicher Ärzte, Abtreibungen ohne medizinische Indikation vorzunehmen.
Die Geschichte des Naturrechts hat dazu geführt, dass es sich nicht nur um individuelle Gewissenentscheidungen handelt, sondern dass naturrechtlichen Ideen und Prinzipien seit dem 18. Jahrhundert zunehmend in das bereits institutionalisierte positive Recht der Rechtsstaaten als Leitideen und Orientierung integriert wurden. Vor allem in Europa und Nordamerika, aber auch in einigen anderen Nationen haben sich drei Arten von Rechten herausgebildet und etabliert, die institutionalisiertes Naturrecht sind: 1. Die parochialen Bürgerrechte, 2. die universalen Menschen-rechte und 3. das institutionalisierte Völkerrecht.
Rangfolge der natürliche Rechte
Diese drei Arten von naturrechtlichen Rechten können in eine bestimmte Rangfolge gebracht werden, je nachdem, ob und wie sie praktisch realisiert werden können. Daher sollten die parochialen Bürgerrechte einen Vorrang vor den universalen Menschenrechten genießen. Denn freiheitliche Bürgerrechte, wie die Freiheit des persönlichen Gewissens, der individuellen und gemeinschaftlichen Religionsausübung und der Meinungsfreiheit stimmen mit den allgemeinen Menschenrechten überein, können jedoch in einzelnen Rechtsstaaten besser geschützt werden, als die allgemeinen Menschenrechte oder als das Völkerrecht.
Bürgerrechte wie z.B. das allgemeine und geheime, aktive und passive Wahlrecht können in anderen Staaten überhaupt nicht realisiert werden. Daher muss man aus naturrechtlicher Perspektive bei den eher realisierbaren Bürgerrechten ansetzen und nicht bei den universalen Menschenrechten, die zwar lautstark eingefordert werden können, aber nur selten weitreichend realisiert werden können. Ähnliches gilt für das allgemeine Völkerrecht, da in internationalen Konflikten die mutmaßlichen Interessen souveräner Staaten den politischen Vorrang vor solchen ethischen Idealen haben.
1. Bürgerrechte
Die parochialen Bürgerrechte, die den Bürgern eines bestimmten Staates von diesem Staat durch einen Akt der legislativen Entscheidung selbst verliehen wurden, lassen sich zumeist auch am besten realisieren und durchsetzen,
da hinter ihnen die exekutive Staatsgewalt eines legislativen und dijudikativen Rechtsstaates steht.
2. Menschenrechte
Die universalen Menschenrechte sind hingegen weitgehend ein westliches politisches Ideal, zumal sie in vielen Kulturen außerhalb von Europa und Nordamerika, Australien und Neuseeland, Südkorea und Taiwan sowie von vielen Nationen wie China, Indonesien, Katar, Nordkorea, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten gar nicht oder aber nur formal bei der UNO anerkannt werden.
3. Völkerrecht
Das institutionalisiete Völkerrecht ist ebenfalls ein weitgehend westliches politisches Ideal und Regelwerk, das in vielen Kulturen außerhalb von Europa und Nordamerika, Australien und Neuseeland, Südkorea und Taiwan sowie von vielen Nationen wie China, Indonesien, Katar, Nordkorea, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten nicht anerkannt wird. Außerdem wird es selbst von Nationen, die es formal anerkannt haben, in Konfliktfällen häufig selbst gebrochen.
Naturrecht und Utopie
Die Frage des Augustinus, was der Staat, dem "die Gerechtigkeit" fehle, denn anderes sei, als eine Räuberband, ist zu absolutistisch gedacht. Denn Gerechtigkeit ist keine homogene Qualität, die einem Staat entweder nur fehlen oder nur zukommen kann so wie ein Urteil entweder wahr oder falsch ist. Alle wirklichen Staaten fehlt es mehr oder weniger an Gerechtigkeit, da die Gerechtigkeit zum einen ein sittliches Ideal ist, das menschliche Institutionen unter gesellschaft-lichen Realbedingungen nie vollständig realisieren können, und zum andere eine menschliche Tugend oder Stärke des Charakters, die selbst erfahrene, lebenskluge und reife Menschen nur in einem gewissen Maß, aber nie vollkommen erreichen können. Daher ist es angemessener, davon auszugehen, dass es allen menschlichen Gesellschaften zu allen Zeiten und in allen Kulturen immer auch in einigen Hinsichten an Gerechtigkeit gefehlt hat.
Die vollkommen gerechte Gesellschaft ist eine schöne Utopie, die sich die Menschen in fast allen Religionen erst nach der Ankunft oder Wiederkehr eines Heilbringers oder Erlösers von allen Übeln in einer fernen Zukunft erhoffen. So erhoffen die Juden das allumfassende Heil für Israel erst nach der zukünftigen Ankunft des Messias in Jerusalem. So erwarten die Muslime aller Konfessionen und Traditionen das allumfassende Heil erst von der Ankunft des Mahdi, eines vollkommenen Lehrers der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, wenn alle Menschen in der ganzen Welt den Islam angenommen haben werden. So erhoffen sich die Christen aller Konfessionen und Traditionen das allumfassende Heil auf Erden erst von der Wiederkehr Jesu Christi am apokalyptischen Ende der Tage.
Mit dem Rückzug der Religionen in der säkularisierten Gesellschaften der europäischen Moderne kamen im 19. und 20. Jahrhundert jedoch immanente politische Ideologien wie der Liberalismus, der Sozialismus und der Nationalismus auf, die verschiedene utopische Vorstellungen von der guten und gerechten Ordnung der Gesellschaft hatten.
Das Tragische bestand jedoch darin, dass sie anders als die prophetischen Religionen davon ausgingen, dass sich ihre Vorstellungen in der wirklichen Welt rein immanent durch sittliche Anstrengungen, wissenschaftliches Wissen und politische Kämpfe realisieren ließen. Daher meinten sie etwas hochmütig und selbstgerecht, auf den Glauben an Gott und auf eine eschatologische Heilserwartung verzichten zu können. Denn wenn die Menschen einer bestimmten ideologischen Gesinnungsgemeinschaft meinen, die perfekte Gesellschaft angeblich selbst nach ihren eigenen Vorstellungen realisieren zu können und zu müssen, dann müssen sie Andersdenkende und Andersgläubige als ihre Feine betrachten, die sie ihren politischen Bestrebungen in den Weg stellen. Sie werden und müssen sie zwangsläufig für schlecht oder gar bösartig halten und besiegen oder gar vernichten. Durch den unbändigen Zwang zur politischen Perfektionierung kippen säkulare ideologische Bewegungen jedoch ins politische Totalitäre um und werden für den sozialen Frieden gefährlich. Der Wunsch nach dem immer noch Besseren wird zum Feind des weitgehend Guten.
Traditionelle Juden, Christen und Muslime hingegen konnten die Perfektionierung der Gesellschaft noch dem Willen Gottes überlassen und sich auf ihre religiösen und sittlichen Pflichten beschränken. Aber in der Moderne haben sich auch einige Juden, Christen und Muslime an die Perfektionierungswünsche der säkularen Moderne angepasst. Einige Juden in Israel verfolgen aggressiv politische Ziele wie die völkerrechtswidrige Besiedlung weiterer Gebiete. Deutsche Protestanten verfolgen die ökologischen, sozialistischen und identitätspolitischen Ziele linker Aktivisten, Bewegungen, NGOs und Parteien, obwohl diese sich häufig mit antisemitischen und israelfeindlichen Palästinensern solidarisieren und verbünden. Einige Islamverbände wie die ägyptische Muslimbruderschaft und hiesige politisierte Muslime verfolgen aggressiv die Ziele einer Islamisierung Europas und der totalitären Errichtung eines Kalifates in Europa. Das liefe auf die Abschaffung des freiheitlich-rechtstaatlichen Ordnung und der parlamentarische Demokratie hinaus.
Naturrecht als Ideal der Rechtsethik