Zum rechtsethischen Problem der Abtreibung
Ulrich W. Diehl
Das Problem der Abtreibung kann rein moralisch, rechtsethisch oder juristisch verstanden und behandelt werden. In allen drei Fällen sollte jedoch das neueste wissenschaftliche Wissen der Anatonie, Embryologie, Gynäkologie und Geburtsmedizin bzw. der Hebammenheilkunde vorausgesetzt werden.
Seit der Neuzeit und Moderne gibt es keine spezifisch christliche Betrachtungsweise der Entwicklung der Embryonen mehr, da die thomistische Lehre von der Beseelung des Embryos mit einer Geistseele wissenschaftlich längst überhohlt ist. In der ägyptischen und israelischen, griechischen und römischen Antike galten Abtreibungen sowie das Aussetzen und Töten von Kleinkindern als ein besonderes Recht des Familienvaters und weder als Straftaten noch als ein Verstoß gegen göttliche Gebote. So verhält es sich immer noch in einigen Ländern, in denen die christliche Kultur mit ihrer fortschrittlichen Sensibilisierung für das Wert jedes menschlichen Lebens sich noch nicht wirksam auf das Verständnis des Menschen und seines Lebens zwischen Geburt und Tod ausgewirkt hat.
Neue Konflikte unter veränderten politischen Umständen machen es manchmal nötig, über bestimmte herkömmliche Rechtsbegriffe erneut nachzudenken. Dafür ist die Rechtsethik zuständig, die das positiv geltende Recht auf seine ethische Gültigkeit und rechtliche Wirkungen hin prüft. Durch ein erneutes Nachdenken über das positiv geltende Recht kann man sich über den ursprünglichen Sinn und über die gegenwärtige Bedeutung der rechtlichen Regelung klar werden. Diese Klarheit ist notwendig, um zu verstehen, ob sie noch sachlich angemessen und normativ gültig ist und auf eine überzeugende Weise begründet werden kann.
Das strengere ethische und rechtliche Verständnis von der praktischen Unverfügbarkeit, dem besonderen Wert und der unveräußerlichen Würde des ganzen menschlichen Lebens ist christlichen Ursprunges. Es stammt zwar noch aus einer Zeit, in der dem Menschen von den christlichen Kirchen eine unsterbliche Seele zugesprochen wurde, die noch im Mutterleib vor der Geburt den Fötus beseelt und die nach dem Tod weiter lebt. Dieses katholische Menschenbild ist jedoch weder biblisch begründet noch rational beweisbar noch empirisch nachweisbar und damit auch aus einer säkularen und wissenschaftlich geprägten Betrachtungsweise praktisch obsolet.
Die ethisch-moralische Kritik an der Abtreibung und am Aussetzen und Töten von Kindern sowie die rechtlichen Verbote der Abtreibung bestehen jedoch in den meisten europäischen Ländern weiter. Unterschiede gibt es jedoch im Hinblick auf bestimmte Ausnahmen wie im Falle der Gefahr für das Leben der werdenden Mutter oder im Falle der Lebensun-fähigkeit des Embryos oder im Falle einer Schwangerschaft durch Vergewaltigung. Daher variieren auch das jeweilige Strafmaß, die strafrechtliche Praxis und die staatlichen Vorschriften zur Schwangerschaftsberatung. Die Gründe dafür liegen vor allem in Deutschland, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern in den Menschen verachtenden Ideologien und Taten der Nationalsozialisten und der Sozialisten. Diese neueren geschichtlichen Erfahrungen von grausamen medizinischen Forschungen am Menschen bis hin zur systematischen, massenhaften und utilitaristisch begründeten Vernichtung sog. “unwerten Lebens” haben das ursprünglich christliche, nun aber rechtsethische und grundrechtliche Verständnis von der praktischen Unverfügbarkeit, dem besonderen Wert und der unveräußerlichen Würde des menschlichen Lebens erneuert.
Trotz dieser erneuerten ethisch-moralischen Vorbehalte gegen eine völlige Freigabe der Abtreibung werden seit der Mitte des 20. Jahrhundert immer wieder gegenläufige ethisch-politisch motivierte Forderungen für eine völlige Freigabe der Abtreibung erhoben. Diese neueren Forderungen stammen vorwiegend aus dem Umkreis der kulturmarxistischen und feministischen Bewegungen, die die rechtlichen Verbote der Abtreibung vorwiegend als eine angeblich unzulässige Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Frauen interpretieren. Daher halten sie die völlige Freigabe der Ab-treibung nicht nur für erforderlich, sondern fordern sogar ein vermeintliches "Recht auf Abtreibung", damit Frauen selbst im vollem Umfang über ihre Schwangerschaft und einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden dürfen.
Es handelt sich mithin um den auch in der Neuzeit und Moderne seltenen und außergewöhnlichen Vorgang, dass ein früheres strafbewehrtes Unrecht sogar in ein Recht verkehrt werfen soll. Es ist praktisch undenkbar, dass auf eine ähn-liche Weise Mord und Totschlag, Diebstahl und Betrug von einem vormaligen Unrecht ad hoc in ein Recht verwandelt würde. Wieso sollte es dann aber bei der Abtreibung angemessen und richtig sein, dieses vormalige Unrecht nun sogar in ein Recht zu verwandeln? Die rechtsethische Frage, ob es überhaupt ein allgemeines Recht auf Abtreibung geben kann, kann dann und nur dann beantwortet werden, wenn man zuvor geklärt hat, was gegenwärtig unter dem Begriff der Abtreibung zu verstehen ist und was es mit dieser radikalen Änderung der normativen Einstellung zur Abtreibung auf sich hat. Erst dann kann man entscheiden, ob es ein solches Recht auf Abtreibung überhaupt geben kann und geben sollte.
Im Folgenden werde ich dafür plädieren und argumentieren, dass es ein allgemeines Recht auf Abtreibung im Sinne der absichtlichen Beendigung einer Schwangerschaft durch das Töten eines oder mehrere menschlicher Embryonen, Föten oder Kleinkinder im Mutterleib vor ihrer Geburt auch in weitgehend säkularen, freiheitlich-demokratischen Rechts-staaten nicht geben kann. Ein solches Recht auf Abtreibung kann es deswegen nicht geben, weil es bei einer Abtreibung niemals nur um das berechtigte Selbstbestimmungsrecht von Frauen und werdenden Müttern geht, sondern immer auch um das werdende menschliche Leben ihres Kindes.
In rechtsethischer Hinsicht können Bürger und Menschen dann und nur dann ein rechtsstaatlich verbürgtes Recht auf bestimmte Verhaltens- und Handlungsweisen haben, wenn diese Verhaltens und Handlungsweisen prima facie ethisch richtig und nicht ethisch falsch sind. Da es aber nach allgemeinem ethisch-moralischen Empfinden nicht ethisch und moralisch richtig sein kann, sondern vielmehr ethisch und moralisch falsch ist, menschliches Leben außer in Fällen der unmittelbaren Notwehr und der Selbstverteidigung des eigenen Lebens zu töten, kann es auch kein allgemeines Recht auf Abtreibung geben. Denn Abtreiben heißt nun einmal unter allen möglichen Umständen, ein unschuldiges und leicht verletzbares, werdendes menschliches Leben auf eine grausame Weise zu töten.
Eine Abtreibung ist nun einmal ein Akt der Gewalt und der Verfügung über das Leben eines anderen, besonders leicht verletzbaren Menschen in einem frühen Stadium seiner natürlichen Entstehung und Entwicklung. Die Rechtsprechung zur Abtreibung erregt daher immer wieder die Gemüter. Das geschieht insbesondere dann, wenn in einem Land, wie z.B. in Irland oder in Polen, die geltende Rechtsprechung geändert (verschärft oder gelockert) werden soll oder wenn, wie in Kanada oder in den USA Wahlen anstehen, wo die Kandidaten der beiden größten Parteien (Republikaner vs. Demokraten) öffentlich gegensätzliche Positionen zum Problem der Abtreibung einnehmen.
Ob diese Aufregung berechtigt ist oder aber auf Missverständnissen beruht, hängt weitgehend davon ab, auf welchem qualitativen Niveau einer rationalen Diskussion das ethische und rechtliche Problem der Abtreibung behandelt wird. Populäre, aber doch meistens unreflektierte Floskeln, wie z.B. “Mein Bauch gehört mir!” oder “Ich kann tun und lassen, wass ich will!” oder die Rede von einem menschlichen Embryo als einem kleinem “Würmchen” oder als einem bloßem “Fleischklumpen”, wie man sie gelegentlich hören kann, sind jedenfalls keine ernst zu nehmenden Beiträge zu einer seriösen ethisch-moralischen, rechtsethischen oder juristischen Diskussion des Problems der Abtreibung.
Gesunde menschliche Embryonen sind auf jeden Fall werdendes menschliches Leben und haben das genetisch angelegte biologische Potential, sich unter günstigen natürlichen und sozialen Bedingungen des Verlaufes einer Schwangerschaft der Frau und werdenden Mutter nach einer gelungenen Geburt zuerst zu einem lebensfähigen Kleinkind und dann unter günstigen natürlichen und sozialen Bedingungen der Aufnahme und Behütung, Ernährung und Erziehung des Kindes zu einer selbstbewussten und zur Selbstbestimmung fähigen menschlichen Person zu entwickeln.
Daher ist die vor allem unter Feministinnen und feministisch engagierten Frauen weit verbreitete Überzeugung, dass
es beim rechtsethischen Problem der Abtreibung nur um (das Recht auf) die Selbstbestimmung der Frauen und damit um Frauenrechte oder gar Menschenrechte ginge, ziemlich abwegig, weil dabei das Lebensrecht des Embryos bzw. das werdende Leben des Kindes vollständig ausgeblendet wird. Um eine angemessene und seriöse Behandlung des rechts-ethischen Problems der Abtreibung kann es sich daher nur handeln, wenn nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Frau, sondern auch das Lebensrecht des Kindes und der Konflikt zwischen beiden Grundrechten wahrgenommen und anerkannt wird.
Weder seriöse Befürworter noch seriöse Gegner des grundsätzlichen rechtlichen Verbotes der Abtreibung verkennen, dass es sich bei einer Abtreibung um die Tötung menschlicher Embryonen geht, die einer rechtlichen Regelung bedarf. Anders als in der Antike hält in der Moderne fast niemand mehr Abtreibungen und Kindstötungen für völlig unproble-matisch. Der Streit zwischen Befürwortern und Gegnern des Verbots von Abtreibungen dreht sich normalerweise nur noch darum, inwieweit, in welchem Zeitraum und in welchen Fällen Abtreibung rechtlich verboten oder rechtlich erlaubt sein sollte.
Selbst die Verteidiger einer weitgehenden rechtlichen Freigabe von Abtreibungen stimmen normalerweise zu, dass
eine Abtreibung eine absichtliche und gezielte Tötung von werdendem menschlichen Lebens ist und dass fast keine schwangere Frau bzw. werdende Mutter wirklich gerne, leichtfertig und ganz frei von innerer Gewissenhaftigkeit eine Abtreibung vornehmen lässt.
Da es bei Abtreibungen um menschliches Leben geht, dass menschliches Leben einen sehr hohen sittlichen Wert darstellt und dass menschliches Leben im Allgemeinen (wie z.B. bei Mord oder Totschlag, bei Notwehr oder bei Selbst-verteidigung) von Rechts wegen mit Gesetzen und Sanktionen geschützt werden muss, das gestehen in der Regel beide Seiten, Befürworter und Gegner des rechtlichen Verbots der Abtreibung zu. Daher lassen sich zu Klärung des rechts-ethischen Problems der Abtreibung zunächst einmal vier unstrittige Sachverhalte und Zusammenhänge feststellen:
1. Jede Abtreibung ist eine Form der gewaltsamen Tötung von menschlichem Leben und daher im Allgemeinen und noch ohne eine nähere Betrachtung der genauen Umstände unmoralisch bzw. moralisch verboten. Daher kann es kein allgemeines und völlig uneingeschränktes Recht auf Abtreibung geben kann.
2. Es kann kein allgemeines Recht geben, irgendeinen Menschen oder ein werdendes menschliches Leben ohne einen triftigen Grund zu töten. Daher muss die Abtreibung grundsätzlich als ein Unrecht gelten. Denn es geht um ein un-schuldiges und noch ungeborenes menschliches Leben, das aufgrund seiner inhärenten Menschenwürde einen rechtlichen Schutz verdient.
3. Wo das Vertrauen in den rechtlichen Schutz des menschlichen Lebens schwindet, werden die für jede Gemeinschaft und Gesellschaft notwendigen zweckrationalen Kooperationen und friedlichen Konfliktlösungen beschädigt und unterwandert, sodass jeder in Furcht vor Gewalt, in Angst um sein Leben oder um das Leben seiner Angehörigen, Freunde, Partner und Kollegen oder in Furcht vor einem Bürgerkrieg leben muss.
4. Für jede Abtreibung bedarf es wie bei der gesetzlichen Notwehr von Bürgern oder auch von Polizisten (mit Waffen-schein und legaler Waffe) oder beim Töten von feindlichen Kombattanten in einem gerechten und politisch legitimierten Krieg einer besonderen ethischen Rechtfertigung dieser Ausnahme von der allgemeinen Regel des rechtlichen Verbotes des Tötens menschlichen Lebens.
Als Ausnahmen von der allgemeinen Regel dürfen die folgenden medizinischen Indikationen gelten:
1. Das Leben der Mutter ist durch die Fortsetzung der Schwangerschaft oder durch die Geburt des Kindes gefährdet. Das Leben einer Mutter hat im Konfliktfall Vorrang vor dem werdenden Leben des Embryos.
2. Die Schwangerschaft kam nachweislich durch eine Vergewaltigung (d.h. entweder durch körperlichen und seelischen Zwang oder durch eine medikamentöse Ausschaltung des Bewusstseins), aber jedenfalls ohne eine Einwilligung in den Geschlechtsverkehr zu stande. Dieser Konfliktfall erfordert eine kompetete Schwangerschaftsberatung, bei der eine Abtreibung jedoch nicht von vorne herein die dabei angestrebte Lösung des Konfliktes sein sollte. Denn die werdende Mutter sollte selbst darüber entscheiden dürfen, ob sie ihr Kind annehmen, zur Welt bringen, versorgen und erziehen oder aber nach der Geburt zur Adoption freigeben will. Sollte sie sich diese Lösung des Konfliktes trotz eingehender Beratung und weiterer Unterstützung nicht zutrauen, wird die Abtreibung ausnahmsweise zu einer zulässigen Option.
3. Der Embryo ist aufgrund einer genetischen Schädigung oder embryonaler Fehlentwicklung mit der wahrscheinlichen Folge von schweren physischen Missbildungen nicht lebensfähig. Die Schwangerschaft kann nicht zum natürlichen Ziel eines lebendigen und lebensfähigen Kindes führen. Auch in diesem Fall kann eine Abtreibung ausnahmsweise zu einer zulässigen Option werden.
Eine genetische Veranlagung zu einem Down-Syndrom (Trisomie 21) oder einer anderen, ähnlichen genetischen Veranlagung zu einer physischen oder psychischen Abweichung von der mehrheitlichen Normalentwicklung sollte jedoch nicht ohne Weiteres als eine medizinische Indikation gelten, die eine Ausnahme vom rechtlichen Verbot der Abtreibung rechtfertigt? Auch Kinder mit einer solchen genetischen Anomalie haben ein uneingeschränktes Recht
auf ihr Leben.