Prophetie im Alten und Neuen Testament

 

 

 

Prognosen sind schwierig, besonders,

wenn sie die Zukunft betreffen.

 

Karl Valentin

 

 

Das Thema der Prophetie im Alten und Neuen Testament enthält eine ganze Menge Sprengstoff für die christliche Theologie unserer Zeit. Denn christliche Theologie ist der Intention nach der Versuch einer vernünftigen Rede von Gott und von den letzten Dingen, die mit Gott zu tun haben. 'Theo-logie' bedeutet auch schon dem Wortlaut nach, logische bzw. sinnvolle Lehre (Logos) von Gott (Theos).

 

Es versteht sich schon fast von selbst, dass nicht nur Atheisten und Agnostiker, sondern dass auch sog. Theosophen

und Esoteriker und selbst einige christliche Denker wie Tertullian (credo quia absurdum est - Ich glaube, weil es absurd ist) - oder auch wie Kierkegaard (der christliche Glaube beginnt mit einem irrationalen und rational nicht begründbaren "Sprung" in den Glauben) bezweifelt haben, dass christliche Theologie in diesem Sinne überhaupt möglich ist.

 

Das Internet und insbesondere You-Tube sind voll von mit Informationen, Predigten und Videos religiöser Menschen jüdischer, christlicher und islamischer Provenienz oder frei flottierender, esoterischer Spiritualität, denen die seriöse theologische Bemühung um eine vernünftige Rede von Gott und den letzten Dingen entweder weitgehend abhanden gekommen zu sein scheint oder die sie von ihrer Kindheit und Jugend her nie gelernt hatten und danach auch nie an einer akademischen Bibelschule oder an einer universitären Institution für jüdische, christliche oder islamische Theo-logie gelernt haben. 

 

Je emotionaler und pathetischer, also je inbrünstiger und weniger nüchtern religiöse Menschen von Gott und den

letzten Dingen, die mit Gott zu tun haben, denken, reden und predigen, desto eher laufen sie Gefahr, fanatisch und wahnhaft zu werden und den realen Kontakt zu anderen Menschen und der wirklichen Lebenswelt zu verlieren.

Daher ist es in psychologischer Hinsicht oft zu empfehlen, weniger religiös zu bleiben. Ein Kriterium dafür sind epistemische Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, Humor und die Bereitschaft zu Gespräch und Diskussion.

 

Auch wenn man die Prophezeiungen der Apokalypse, also des letzten Buches der christlichen Bibel, der sog. Offenbarung des Johannes einmal beseite lässt, und wenn man den sensationellen Aberglauben an die angeblich zuverlässige Prophezeiungen, wie die des Nostradamus oder anderer angeblich seherisch begabter Menschen

aus den letzten Jahrhunderten außer Acht lässt, ist es nicht zu leugnen,

 

1. dass im AT von vielen Prophezeiungen berichtet wird, die bereits eingetreten sind,

2. dass es im AT einige Textstellen gibt, die das Kommen des Messias prophezeit haben,

3.  dass es im AT Textstellen gibt, die zumindest von Christen für Jahrhunderte als Prophezeiungen von Jesus Christus, seinem Tod am Kreuz und seiner leiblichen Auferstehung, interpretiert werden konnten,

4. dass Jesus Christus dem NT zufolge seinen Tod am Kreuz und seine leibliche Auferstehung selbst vorhergesagt hat,

5. dass Jesus Christus dem NT zufolge seine Wiederkehr am Ende "der letzten Tage" vorhergesagt hat.

 

Wieso sind - abgesehen von den modernen Zweifeln an der Zuverlässigkeit aller biblischen Prophezeiungen -

Prophezeiungen überhaupt ein Problem für eine wissenschaftliche Theologie?

 

Was bedeutet es, wenn es echte Prophezeiungen gegeben hat?

 

Wenn es echte Prophezeiungen gegeben hat, die wirklich eingetreten sind, dann bedeutet das, dass Vorhersagen der Zukunft nicht nur grundsätzlich möglich sind, sondern dass es sie wirklich gegeben hat. Wodurch sie möglich sind, ist dadurch zwar noch nicht bestimmt, aber vermutlich nicht auf eine ganz natürliche Art und Weise, sondern nur durch vermeintlich übernatürliche Ereignisse wie wunderbare Eingebungen oder geheime Offenbarungen charismatisch begabter und besonders empfänglicher Menschen. Das aber ist mit dem derzeit vorherrschenden naturalistischen und szientistischen Menschen- und Weltbild kaum vereinbar.

 

Der wesentliche Unterschied zwischen einer übernatürlichen Prophezeiung und einer natürlichen Prognose besteht nämlich gerade darin, dass Prophezeiungen sich auf Informationen stützen, die keiner natürlichen Quelle, sondern einer (mutmaßlich) übernatürlichen (entweder persönlichen oder prophetischen) Offenbarung entsprungen sind.

Daher akzeptieren Wissenschaftler in ihrer professionellen Arbeit keine religiösen Prophezeiungen, sondern nur empirische Prognosen, die mit methodischer Skepsis und mit wissenschaftlichen Methoden überprüft werden können. Falls sie Juden, Christen oder Muslime sind können sie in ihrem privaten und öffentlichen Glaubensleben freilich glauben, was sie wollen.

 

Nicht nur Natur- und Sozialwissenschaftler, sondern auch Banker, Börsianer und Unternehmer, Bauern, Gärtner und Förster, Ärzte und Pflegende, Tierärzte und Tierpflegende prognostizieren bestimmte individuelle Verläufe und mut-maßliche Tendenzen, wahrscheinliche Ereignisse und Prozesse, etc., jedoch immer so, dass sie von ihren bisherigen Erfahrungen ausgehend, ihre beiläufigen oder absichtlichen Beobachtungen hinzuziehen, um kraft ihrer Intuitionen und Urteilskraft eine Prognose zu wagen. 

 

Eine solche Prognose unterscheidet sich daher von einem bloßen Raten ohne irgendwelche relevanten Daten und empirischen Anhaltspunkte, wie beim Bingo oder Lotto. Das Problem bei Prophezeiungen ist, dass sie auf einem

blinden Raten basieren konnten und die prophezeiten Ereignisse oder Prozesse nur zufällig eingetreten sind und

bloß zufällig richtig erraten wurden. Davon profitieren Astrologen, sog. Wahrsager und falsche Propheten, wie es

sie z.B. auch unter amerikanischen TV-Predigern, im Internet und auf YouTube gibt.

 

Wenn es jedoch echte Prophezeiungen gegeben hat, die dann auch wirklich eingetreten sind, dann folgt daraus weiterhin, dass die moderne Überzeugung, dass die Zukunft der Menschheit zumindest teilweise offen ist, sodass ihr zukünftiges Schicksal zumindest nach menschlichen Ermessen in ihrer menschlichen Entscheidungsmacht liegt, ein ziemlich trügerisches Wunschdenken ist.

 

Es mag uns in der Moderne nicht schwer fallen, zu akzeptieren, dass die Erde in einigen Milliarden von Jahren in der Sonne verglühen wird und dass unser Sonnensystem wie bereits unzählige andere Sonnensysteme im Universum auch einmal kollabieren wird. Dies wird jedoch erst in unvorstellbar ferner Zeit geschehen, sodass wir sie gar nicht mehr als "unsere Zukunft" empfinden und verstehen.

 

Es mag uns in der Moderne nicht schwer fallen, uns zumindest vorzustellen, dass ein bisher noch nicht entdeckter riesengroßer Meteorit mit einem Durchmesser von über 5 Kilometern bereits seit vielen Jahren auf unser Sonnen-system und auf die Erdumlaufbahn mit hoher Geschwindigkeit zusteuert und unserer Erde so nahe kommen kann,

dass er auf ihre Oberfläche stürzen könnte.

 

Wissenschaftler wissen auch, dass ein Meteorit dieser Größe eine so große Explosion und massive Zerstörung auf einem Kontinent auslösen könnte, dass die Erdatmosphäre für Jahre durch Rauchwolken verdunkelt und durch giftige Gase verseucht würde, sodass der sich daraus ergebende Schaden eine dauerhafte Abkühlung auf sehr hohe Minus-grade und einen Mangel an lebensnotwendigen Sauerstoff und Trinkwasser anrichten würde, sodass die ganze Menschheit und vermutlich auch fast alles Leben auf der Erde ausgelöscht werden könnten.

 

Obwohl ein solches kosmisches Szenario von Astrophysikern für möglich gehalten wird und obwohl sie bereits seit einigen Jahren nach größeren Meteoriten Ausschau halten, die der Erde ziemlich nahe kommen und gefährlich werden könnten, ist es für die meisten Menschen, die davon gehört haben, nur ganz natürlich, diese Möglichkeit zu verdrängen, zumal sie die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch zu ihren Lebzeiten eintreten wird, kaum angemessen und kompetent einschätzen können.

 

Wie offen ist die Geschichte und die Zukunft der Menschheit auf der Erde?

 

Es mag uns Menschen in der Moderne jedoch ziemlich schwer fallen, uns vorzustellen, dass das zukünftige Schicksal der ganzen Menschheit in den nächsten 50, 100, 150, 200 oder 250 Jahren bereits besiegelt ist. Denn der Umgang mit der derzeitigen fast weltweiten Klimakrise zeigt, dass zumindest im weitgehend wissenschaftlich gut informierten Europa und Nordamerika etwa mehr als ein Viertel der Bevölkerung an die drohende Klimakatastrophe durch Über-schreitung gewisser Kipppunkte nicht so recht glauben können oder wollen.

 

Der Glaube an die wissenschaftlich-technische Machbarkeit und an die ökonomisch-politische Bewältigung der fast weltweiten Klimakrise beweist ein vermutlich allzu großes Vetrauen in die rationale Steuerbarkeit ökologischer Prozesse und Tendenzen, die doch weitgehend von naturwissenschaftlich messbaren Faktoren abhängen und die nur teilweise

in der Macht menschlicher Gesellschaften und führender Ökonomen und Politiker liegen.  

 

Aber auch der Glaube, dass die Erderwärmung auf allen Kontinenten in gleicher Weise erfolgen wird, ist trügerisch. Denn wenn noch in diesem 21. Jahrhundert der Golfstrom zum Erliegen kommt, dann würde auf Europa gar keine enorme Hitzeperiode zukommen, sondern gerade umgekehrt eine außergewöhnliche Kälteperiode. Prognose bleiben schwierig und die apokalyptische Klimapanik in Europa beruht auf dem nur allzu menschlichen Irrtum, zuverlässig vorhersagen zu können, wie sich das Klima in den verschiedenen Zonen und auf den verschiedenen Kontinenten entwickeln wird.

 

Dürfen wir die Prophezeiungen der Bibel in Bezug auf die Endzeit immer noch ernst nehmen?

 

Aufgrund der europäischen Aufklärung und die evangelische Theologie in der Moderne sind die meisten Christen heute viel skeptischer in Bezug auf die biblischen Prophezeiungen, wie z.B. der Bücher Daniel oder Offenbarung des Johannes, als jemals zuvor. Erst recht vertrauen wir kaum noch auf mittelalterliche Prophezeiungen, wie z.B. die des Nostradamus, wenn wir nicht gerade ein bisschen abergläubisch sind.

 

Alle Prophezeiungen im Alten und Neuen Testament sind eine Sache der Interpretation. Alle Interpretationen biblischer Schriften und einzelner Textabschnitte erfolgen auf dem Hintergrund unseres gegenwärtigen Welt- und Menschen-bildes, unseres aktuellen Denkens, Schließens und Urteilens. Da wir aus der ganzen Bibel lernen und wissen können, dass das Welt- und Menschenbild der Israeliten vor über 2000 Jahren sich in bestimmten Hinsichten von unserem heutigen Welt- und Menschenbild unterschieden hat, müssen wir das bei unseren Interpretationen berücksichtigen. 

 

Biblische Hermeneutik unterscheidet sich daher gar nicht so sehr von einer Interpretation der Schriften aus anderen, uns fremden außereuropäischen Kulturen, etwa in Afrika oder Asien. Wir können einen gewissen zeitlichen, räumlichen und kulturellen Abstand feststellen, der durch uns überbrückt werden muss, indem wir uns in das relativ Fremde so gut wie möglich einzufühlen versuchen, um es zu verstehen. Der wesentliche Unterschied ist jedoch, dass diese Schriften in der Geschichte der europäischen Kultur eine große und bedeutende Rolle gespielt haben und dadurch eine lange Wirkungsgeschichte entfaltet haben, die sich bis heute immer noch auf unsere moderne Kultur auswirkt. Sie hat daher  wichtige Spuren in unserem eigenen Selbst-, Welt- und Menschenbild hinterlassen, die wir kaum aufgeben können, ohne unsere eigene Identität zu verlieren und ohne uns selbst fremd zu werden. Daher handelt es sich beim Verstehen biblischer Schriften auch um eine Art von Begegnung mit gewissen, nur noch halbwegs bekannten Spuren unserer Selbst. 

 

Biblische Prophezeiungen sind wegen unseres modernen, wissenschaftlich geprägten Selbst-, Welt- und Menschen-bildes zunächst einmal hermeneutische Herausforderungen, da die biblischen Prophezeiungen der Propheten des Alten Israel keine wissenschaftlichen Prognosen waren. Die Propheten glaubten sie direkt von Gott empfangen zu haben oder wenigstens indirekt vermittelt durch Engel als Boten Gottes oder durch andere Propheten zunächst in mündlicher Überlieferung. Was ihnen zwar außergewöhnlich, aber doch vertrauenswürdig erschienen ist, erscheint uns heute eher fragwürdig und zweifelhaft.

 

Seit dem Entstehen der modernen Psychiatrie im 20. Jahrhundert gab es sogar Theologen, wie der Arzt, Bachforscher, Theologe und Philosoph Albert Schweitzer (1875-1965), die daran gedacht haben, ob es sich bei dem damaligen Gefühl, eine Prophezeiung oder persönliche Offenbarung empfangen zu haben, nicht eher um eine religiöse Wahnvorstellung handeln könnte. Zeitgenössische Psychiater sind bei solchen übergriffigen Anwendungen psychopathologischer Begriffe und Deutungen sich viel kultursensibler und hermeneutisch vorsichtiger geworden als in den Anfängen der modernen Psychopathologie und Psychiatrie. 

 

Albert Schweitzer hat sogar eine Untersuchung über die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth aus psychopathologi-scher Sicht verfasst. Das war sicher eine etwas extrem gewagte Untersuchung, zeigt jedoch, wie sehr unser modernes wissenschaftlich geprägtes Denken selbst einen damals einflußreichen liberalen protestantischen Theologen wie Albert Schweizer geprägt hat. Würde man heute so ähnlich vorgehen, um tibetanische oder peruanische Schamanen als Wahnsinnige herabzusetzen, würde es heftig als imperiale Arroganz kritisiert werde. Aber es ist kaum weniger arrogant, wie liberale Theologen heute mit den biblischen Prophezeiungen umgehen. Es ist jedenfalls ziemlich borniert, unwissen-schaftlich, vorurteilsbeladen und hermeneutisch unsensibel, etwas, das uns fremd geworden ist, von vorne herein als bloßen Unfug oder gar als wahnhaft abzutun. 

 

Prophezeiungen wie in der Bibel sind jedenfalls paranormale Phänomene, die naturalistisch und wissenschaftlich noch nicht verstanden und erklärt werden können. Man darf und sollte ihnen jedoch zuerst einmal mit einer gewissen methodischen Skepsis begegnen, denn es könnte sich zumindest manchmal auch um "self-fulfilling prophecies" handeln, sodass spätere Propheten unbewusst frühere Prophezeiungen erfüllt haben, die sie zwar vom Hörensagen kannten, die sie jedoch weder willentlich inszenierten noch mit der Absicht auf eine sensationelle Wirkung erfüllten. Außerdem muss man zu ihrer angemessenen Deutung ein seriöser Theologe sein, der sein hermeneutisches Handwerk beherrscht und der die Bibel und ihre Schriften sehr gut kennt und rational auszulegen versteht.